Читать книгу Helen Sterling und das Geheimnis der Lady Jane Grey - Victoria Lancaster - Страница 5

Kapitel 1

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Re­gen tropf­te auf ei­nen Grab­stein an je­nem düs­te­ren Tag im Ja­nu­ar. Lang­sam las­sen zwei Män­ner ei­nen Sarg in ein sorg­fäl­tig aus­ge­ho­be­nes Grab. He­len frös­tel­te und zog die Schul­tern hoch, hin­ter ihr zo­gen graue Wol­ken am Himmel lang­sam ent­lang. Sie schau­te ih­rem Bru­der hin­ter­her, wie er in die­ser Kis­te immer tie­fer in der Er­de ver­schwand. Auf den Tag vor zwei Wo­chen fand ihn die Rei­ni­gungs­kraft. Merk­wür­dig ver­dreht lag er vor der Trep­pe. Sein Ge­sicht wirk­te bei­nahe fried­lich, so als wür­de er schla­fen. Nur sein lin­kes Bein stand un­na­tür­lich weg und sein Kopf wirk­te eben­falls selt­sam über­dreht. Das Schrei­en der An­ge­stell­ten weck­te die Nach­barn. Als He­len an je­nem Mit­tag bei sei­nem Haus am Hy­de Park ein­traf, fand sie ein Meer an Blau­licht und Poli­zis­ten vor. Es war der Abend, an dem sie ih­ren Bru­der erst zum drit­ten Mal in ih­rem Le­ben sah. Auf dem Ster­be­bett ver­riet ihr ih­re Mutter, dass sie ei­nen äl­te­ren Bru­der hät­te. Sie gab ih­rer Tochter ei­nen Zet­tel mit dem Na­men Jos­hua und ei­ner Tele­fon­num­mer. He­len woll­te ih­rer Mutter un­zäh­li­ge Fra­gen stel­len, aber die star­ken Schmerz­me­di­ka­men­te mach­ten ih­re Mutter zu schläf­rig. Noch in der sel­ben Nacht schloss sie für immer ih­re Augen. Den Kampf ge­gen den Krebs konn­te sie nicht ge­win­nen.

Es ver­gin­gen meh­re­re Wo­chen, be­vor sich die jun­ge Frau trau­te, die Num­mer von dem Zet­tel zu wäh­len. Das er­ste Tref­fen ver­lief schüch­tern, aber an­ge­nehm. Sie tra­fen sich auf ei­ne Tas­se Tee und sie er­zähl­te von ih­rem Le­ben. Er hör­te ihr ge­dul­dig zu und neck­te sie, wie es sich ver­mut­lich für gro­ße Brü­der ge­hör­te. Beim zwei­ten Tref­fen frag­te sie ihn nach sei­nem Le­ben aus. Jos­hua rea­gier­te ver­hal­ten und mein­te, er wür­de sie nur lang­wei­len da­mit. Al­so spra­chen sie über Be­lang­lo­sig­kei­ten. Beim letz­ten Tele­fo­nat klang er ge­hetzt und mein­te, er müs­se drin­gend mit ihr re­den. Bei ih­rem drit­ten Tref­fen war Jos­hua tot.

Es kam He­len nie in den Sinn, dass der Tod bei­de so schnell tren­nen soll­te.

»Miss Ster­ling?«, frag­te ei­ne tie­fe Stim­me hin­ter ihr.

»Nen­nen Sie mich He­len, Ser­ge­ant Owen King. Sie un­ter­stell­ten mir doch so oft Mord im Ver­hör, da brau­chen wir jetzt auch nicht mehr förm­lich sein.« Lang­sam dreh­te sie sich zu Owen King um. Un­ter an­de­ren Um­stän­den hät­te sie ihn at­trak­tiv ge­fun­den. Er war cir­ca 1,80 m groß, hat­te fast pech­schwar­ze Haa­re und reh­brau­ne Augen. Sei­ne grau­en Schlä­fen ver­lie­hen ihm ein rei­fes Aus­se­hen. Owen war er ein char­man­ter Kerl. Wenn er ihr nur nicht den Mord an ih­rem Bru­der un­ter­stellt hät­te.

»Was ma­chen Sie hier eigent­lich? Ich ha­be mei­nen Bru­der ge­ra­de be­er­digt. Schä­men Sie sich nicht, ein­fach auf ei­nem Be­gräb­nis auf­zu­tau­chen?«

Owen blin­zel­te sie an. »Miss Ster­ling, … He­len … ich woll­te Ih­nen kei­ne Un­an­nehm­lich­kei­ten be­rei­ten. Im Grun­de ge­nom­men woll­te ich Ih­nen nur mein Bei­leid aus­spre­chen. Im Üb­ri­gen gibt es Neu­ig­kei­ten, die den Tod ih­res Bru­ders be­tref­fen. Darf ich Sie auf ei­ne Tas­se Tee ein­laden, um Ih­nen alles zu er­zäh­len?«

He­len nick­te zö­gernd und er­wi­der­te: »Ich ken­ne ein net­tes Café in der Nä­he, dort kön­nen wir un­ge­stört re­den.« Sie wärm­te ih­re klam­men Fin­ger in die Taschen ih­res schwar­zen Woll­man­tels.

Schwei­gend gin­gen bei­de über den Fried­hof. Der kal­te Wind blies ih­nen ins Ge­sicht und die 5 Grad in Lon­don fühl­ten sich mit ei­nem Schlag an wie 10 Grad un­ter Null. Ein paar Krä­hen er­ho­ben sich schwer­fäl­lig von ei­ner al­ten Ei­che und trotz­ten dem Wind. Die Grab­stei­ne stan­den will­kür­lich ver­teilt auf dem Fried­hof, an vielen wu­cher­te das Moos so stark, dass das Le­sen von Na­men un­mög­lich war.

Owen wag­te ei­nen kur­zen Blick zur Sei­te. He­len war ei­ne über­aus at­trak­ti­ve Frau. 32 Jah­re alt, nur ein we­nig klei­ner als er und natur­schön. Sie be­nö­tig­te kaum Schmin­ke. Alles was sie zu ver­wen­den schien, un­ter­strich nur ih­re Schön­heit. Ih­re lan­gen ma­ha­go­nie­brau­nen Haa­re weh­ten im Wind. Er fühl­te sich auch von ih­rer kur­vi­gen Fi­gur an­ge­zo­gen. Sie war zwar schlank, aber nicht so dürr wie an­de­re Frau­en ih­res Alters. Er moch­te es als Mann nicht, wenn Frau­en stän­dig ih­re na­tür­li­chen Run­dun­gen weg hun­ger­ten. Gleich­wohl hat­te sie et­was Ge­heim­nis­vol­les an sich. Er konn­te nicht ein­mal sa­gen, was es war. Aber es war et­was, dass ihn in­stink­tiv da­vor warn­te, sich mit die­ser Art Frau ein­zu­las­sen. Wo­bei sei­ne Freun­din ver­mut­lich auch et­was da­ge­gen hät­te. Ma­ry war ein Schatz. Lieb, hilfs­be­reit und na­he­zu töd­lich lang­wei­lig. Sie mach­te ihm das Le­ben so ein­fach, dass er es schon lang­sam nicht mehr er­tra­gen konn­te. Sein Haus war stets sau­ber, sei­ne Hemden ma­kel­los ge­bü­gelt und abends stand das Es­sen heiß auf dem Tisch, wäh­rend Ma­ry ihn über­schwäng­lich be­grüß­te. Noch trau­te er sich nicht, sie zu ver­las­sen. Owen be­fürch­te­te, ihn trä­fe augen­bli­cklich ei­ne Art gött­li­cher Zorn, wenn er so ei­nem lie­bens­wer­ten Ge­schöpf das Herz bre­chen wür­de. Im Üb­ri­gen kön­ne er ihr nie ver­ges­sen, was sie für ihn tat. Ge­dan­ken­ver­lo­ren kratz­te er sich an sei­nen Bart­stopp­eln.

Un­weit des Fried­hofs setz­ten sie sich in ein klei­nes Café. Die­se Um­ge­bung er­drück­te ihn schier. Die Ti­sche stan­den eng bei­sam­men und die Sitz­flä­che der Stüh­le war un­an­ge­nehm klein. Die Kell­ner schie­nen hier alle un­na­tür­lich gut ge­launt zu sein. Je­der fros­ti­ge Blick ei­nes Gas­tes wur­de mit dem brei­tes­ten Lä­cheln be­ant­wor­tet, was ein Mensch nur her­vor­brin­gen kann. In der Aus­la­ge im Schau­fens­ter ver­führ­te der An­blick von glän­zen­den Kuchen und Tor­ten die vor­bei ge­hen­den Pass­an­ten. Wer konn­te im Ja­nu­ar schon zu ei­nem Stück Erd­be­er­tor­te Nein sa­gen? Die Ku­lis­se ei­ner ver­träum­ten fran­zö­si­schen Pa­tis­se­rie wirk­te bei­nahe ta­del­los.

Völ­lig ge­dan­ken­ver­lo­ren hör­te er He­len sa­gen: »Owen, ha­ben Sie mir über­haupt zu­ge­hört?«

»Ja, Ent­schul­di­gung … na­tür­lich. Ich bin ganz Ih­rer Mei­nung«, stamm­el­te er.

»Pri­ma, dann neh­men Sie al­so auch ei­ne Tas­se Earl Grey«, sag­te He­len und gab so­fort die Be­stel­lung auf. Die jun­ge Be­die­nung mit spa­ni­schem Ak­zent ver­schwand augen­bli­cklich im hin­te­ren Be­reich des Lo­kals, nach­dem sie sich lä­chelnd für die Be­stel­lung be­dank­te. Kei­ne drei Mi­nu­ten spä­ter kam sie mit dem Tee zurück.

Er­neut schwie­gen sie sich über zwei damp­fen­den Tee­tas­sen an. »Al­so«, er­öff­ne­te He­len das Ge­spräch, »was woll­ten Sie mir er­zäh­len?«

Ge­spannt be­ob­ach­te­te sie, wie Owen un­ru­hig auf dem Stuhl um­her rutsch­te.

»Wir fan­den bei Ih­rem Bru­der ei­nen Zet­tel. Ich hat­te ge­hofft, Sie könn­ten mir die Be­deu­tung er­klä­ren.« Owen such­te in der In­nen­ta­sche sei­nes Ja­cketts nach der Ko­pie des Zet­tels, wäh­rend He­len an ih­rer Tas­se Tee nipp­te, den sie oh­ne Milch und Zi­tro­ne ge­noss. Er räu­sper­te sich kurz und be­gann vor­zu­le­sen:


»Die Me­lo­die ist der Schlüs­sel. Es gibt Leu­te, die tö­ten da­für! Die Ge­schich­ten sind alle wahr. Sie wer­den mich si­cher kom­men ho­len. Aber ich ha­be es ver­steckt. Su­che an dem Ort, den ich am meis­ten has­se.«

»Was mein­te Ihr Bru­der da­mit? Wir kön­nen uns kei­nen Reim da­rauf ma­chen.« Owen schau­te He­len un­ver­wandt an. Er woll­te kei­ne ih­rer Re­ak­tion ver­pas­sen. Ein Zu­cken oder ein Blin­zeln konn­te be­reits ein er­stes An­zeichen von Schul­dig­keit sein, das hat­te er in Ver­hö­ren schon oft er­lebt. Es war sei­ne letz­te Chan­ce, ei­ne ver­meint­li­che Mör­de­rin zu über­füh­ren. Jos­hua Ster­ling war schließ­lich das, was man am ehe­sten als wohl­ha­bend be­zeich­nen konn­te. Er be­saß ein Haus in ei­nem der be­sten Stadt­tei­le Lon­dons, sein Konto war gut ge­füllt und es gab nur ei­ne Er­bin laut Tes­ta­ment: He­len Ster­ling. Sei­ne Schwes­ter, die wie aus dem Nichts auf­tauch­te und nach kür­zes­ter Zeit auf­grund ei­nes an­ge­bli­chen Un­falls fi­nanz­iell aus­ge­sorgt hat.

Mit gro­ßen Augen sah sie den Poli­zis­ten an. »Das soll mein Bru­der ge­schrie­ben ha­ben? Das er­gibt doch kei­nen Sinn! Hö­ren Sie, Owen, mein Bru­der war kein Ver­rück­ter. We­der schien er son­der­lich mu­si­ka­lisch be­gabt, noch be­fand er sich auf ir­gend­ei­nen al­ber­nen Miss-Mar­ple-Trip. Es war ein ver­damm­ter Un­fall. Ich weiß auch nicht, wer sich hier mit die­sem schwach­sin­ni­gen Zet­tel ei­nen Spaß er­laubt. Was wol­len Sie mir als Näch­stes er­zäh­len? Dass Sie si­cher sind, er wur­de von Außer­ir­di­schen ent­führt? Las­sen Sie mich mit Ih­ren al­ber­nen Theo­ri­en in Ru­he!« Ihr Ge­sicht ver­färb­te sich all­mäh­lich rot vor Zorn.

Owen knall­te mit der Faust auf den Tisch. »Ver­dammt, Sie kann­ten den Kerl doch über­haupt nicht! Aber Sie fan­den schnell her­aus, dass er vor Geld stank. Und Sie wol­len mir allen Ern­stes er­zäh­len, es wä­re ein Un­fall ge­we­sen? Er lernt sei­ne ein­zi­ge Schwes­ter ken­nen, macht sein Tes­ta­ment und fällt mit 39 Jah­ren tot die Trep­pe run­ter?! Die Schei­ße neh­me ich Ih­nen nicht ab.« Bei­de sa­hen sich für we­ni­ge Se­kun­den stumm an. »He­len bit­te, ich woll­te Ih­nen nicht zu na­he tre­ten«, be­schwich­tig­te Owen sie. Er hat­te es ge­ra­de ein biss­chen über­trie­ben mit sei­nen An­schul­di­gun­gen, und das wuss­te er auch. He­len sprang vom Stuhl auf, so­dass die­ser mit ei­nem lau­ten Ge­räusch an den da­hin­ter ste­hen­den Tisch stieß. Has­tig zog sie ih­ren schwar­zen Man­tel über.

»Sie tre­ten mir nicht zu na­he, Owen. Sie quä­len mich. Jos­hua ist tot, er stol­per­te und fiel die Trep­pe run­ter. Las­sen Sie es end­lich gut sein und hö­ren Sie auf, mich zu be­läs­ti­gen.« Sie warf ei­ne Zwan­zig-Pfund-No­te auf den Tisch und ver­ließ das Café. Oh­ne zurück­zu­bli­cken hielt sie das näch­stbes­te schwar­ze Ta­xi an und ließ ei­nen zerk­nirsch­ten Se­ar­gent King zurück.

End­lich an­ge­kom­men gab sie dem Fah­rer ein groß­zü­gi­ges Trink­geld und stieg aus. Der Tag war düs­ter, kalt und nass. Es grau­te ihr da­vor, in das gro­ße, frem­de Haus allei­ne zurück­zu­keh­ren. Zu­min­dest wür­de Sher­lock auf sie war­ten, der Ka­ter ih­res Bru­ders. Bei Jos­hu­as An­walt war ein Tes­ta­ment hin­ter­legt, in dem He­len als Allein­er­bin auf­ge­führt wur­de. Sie zog vor ei­ner Wo­che hier ein, mit fes­ten Wil­len her­aus­zu­fin­den, wer ihr Bru­der war. Sie wohn­te bis da­hin in ei­nem schä­bi­gen Apart­ment in Wim­ble­don. So war es für sie auch ein­fa­cher, sich auf die Be­er­di­gung und sons­ti­gen Be­hör­den­gän­gen zu küm­mern. Das Rei­hen­haus in der West­bour­ne Ter­ra­ce war ein wei­ßes Ge­bäu­de, wel­ches um 1840 er­baut wur­de. Die ins­ge­samt vier Eta­gen waren äu­ßerst lu­xu­ri­ös ein­ge­rich­tet. Sieben Schlaf­zim­mer, meh­re­re Bä­der, ei­ne Ter­ras­se mit Blick auf’s Grü­ne, ein Heim­ki­no. He­len hät­te in ih­rem Job als Stadt­füh­re­rin ge­fühl­te tausend Jah­re ar­bei­ten müs­sen, um sich die­ses Haus leis­ten zu kön­nen. Als His­to­ri­ke­rin war es nicht ein­fach, in Lon­don ei­nen Job zu fin­den. Sie schlug sich mit ge­führ­ten Tou­ren durch. Ob die mu­si­ka­li­sche Sei­te Lon­dons, auf den Spu­ren Jack the Rip­pers oder die üb­li­chen Se­hens­wür­dig­kei­ten. He­len konn­te stun­den­lang den Tou­ris­ten die Schön­hei­ten die­ser Stadt er­klä­ren. Und das tat sie auch. Abends schmerz­ten ih­re Fü­ße vom vielen Ge­hen. Das viele Ste­hen scha­de­te ih­rem Rü­cken gleich­er­ma­ßen. Alles, was sie abends woll­te, war ein hei­ßes Bad und ei­ne Fla­sche Rot­wein. In ih­rer al­ten Woh­nung un­ter dem Dach gab es nur hei­ßes Was­ser, wenn kein an­de­rer Mieter es ge­ra­de be­nö­tig­te. Im Win­ter wi­ckel­te sich He­len in meh­re­re De­cken, um nicht zu er­frie­ren. Im Som­mer wur­de es un­ter dem Dach un­er­träg­lich heiß. Ih­re be­ste Freun­din ver­mu­te­te, dass bald zwei Hob­bits kä­men, um DEN Ring in ih­re Woh­nung zu wer­fen.

Das hei­ße Was­ser zu je­der Tages- und Nacht­zeit in dem neu­en Haus war ab­so­lu­ter Luxus, den sie mit schlech­tem Ge­wis­sen ge­noss.

Aber heu­te schaff­te sie es ein­fach nicht allein in die­ses Haus. Statt­des­sen schrieb sie ih­rer be­sten Freun­din ei­ne Nach­richt und ging die Stra­ßen run­ter zu ih­rem Lie­blings­pub The Swan, direkt ge­gen­über vom Hy­de Park. Vor­bei an all den wei­ßen Fass­aden und den schwarz gest­ri­che­nen Zäu­nen. Vor­bei an den Türen, die Reich­tum und Wohl­stand ver­bar­gen. Der Streit mit Owen är­ger­te sie immer noch. Viel­mehr är­ger­te sie sich aber, dass sie so aus­ge­ra­stet ist. Was denkt sich der Kerl über­haupt? Es kos­te­te sie schon ih­ren Job bei der Agen­tur. Gleich nach­dem Owen dort auf­tauch­te, um sich über ihr Ver­hal­ten bei Ar­beit und mög­li­chen Be­schwer­den zu er­kun­di­gen, muss­te sie zu ih­rem Boss. Bo­ris er­klär­te ihr in sei­nem un­ver­ständ­li­chen Mix aus Eng­lisch und Rus­sisch, dass die Kun­den sich nicht wohl­fühl­ten, wenn man ge­gen He­len er­mitt­le. Bo­ris war ein schmie­ri­ger, geld­gei­ler Gro­bi­an, den nur die Zah­len in­te­res­sier­ten. Sie be­müh­te sich ver­ge­bens, ihn von neu­en Ideen für Füh­run­gen zu über­zeugen. In ih­ren Augen war er ein un­ver­bes­ser­li­cher Kultur­ba­nau­se.

Um sich et­was ab­zu­len­ken, zähl­te sie die ge­park­ten Por­sche am Stra­ßen­rand. Bei Num­mer 12 hör­te sie auf zu zäh­len. Denn der Letz­te ge­hör­te ih­rer Freun­din Ti­ta­nia. He­len be­trat den Pub und hör­te so­fort ih­ren Na­men. »He­len, Lie­bes! Wie geht es dir? Komm‘, setz dich zu mir. Du bringst die Pro­ble­me mit und ich den Al­ko­hol, das ist ei­ne kla­re Ar­beits­tei­lung.«

Be­vor He­len sich ver­sah, saß sie ne­ben ih­rer Freun­din mit ei­nem Pint Bier in der Hand. Ti­ta­nia konn­te man am ehe­sten als Natur­ge­walt be­zeich­nen. Klein, blond und so scharf­zün­gig, dass sie da­für ei­nen Waf­fen­schein bräuch­te. Ti­ta­ni­as Mutter war Schau­spie­le­rin und dem­ent­spre­chend frei­geis­tig er­zog sie ih­re ein­zi­ge Tochter. Auch ih­rem Vater war es da­ran ge­le­gen, sei­nem ein­zi­gen Kind alle Mög­lich­kei­ten zu ge­ben.

Als sie sich am er­sten Tag an der Uni tra­fen, stell­te sich Ti­ta­nia ihr wie folgt vor: »Ti­ta­nia, Kö­ni­gin der El­fen, Leid­ge­prüf­te ih­res Namens, Herr­sche­rin über 7 Kredit­kar­ten. Und du bist?«

He­len ant­wor­te eben­so schlag­fer­tig: »He­len, Ster­ling wie Pfund, Kö­ni­gin des Pubs und Herr­sche­rin über des letz­ten frei­en Plat­zes im Hör­saal.« Da­rüber muss­ten bei­de so sehr la­chen, dass sie augen­bli­cklich von Pro­fes­sor Lock­hart raus ge­wor­fen wur­den. Seit die­sem Zeit­punkt waren sie die be­sten Freun­de.

Müss­te He­len ih­re be­ste Freun­din mit zwei Wor­ten be­schrei­ben, trä­fe per­fekt ge­stylt es am ehe­sten. Ti­ta­nia wür­de nicht oh­ne ih­re ge­lieb­ten High Heels und oh­ne die teu­ers­te Marken­klei­dung ihr Luxus­apart­ment ver­las­sen, wenn es lich­ter­loh bren­nen wür­de. Nun saß sie vor ihr, die wachen, fra­gen­den Augen voll­kom­men auf He­len ge­rich­tet.

»Mir geht’s gut, dan­ke Ti­ta­nia.«

»Sei ehr­lich He­len.«

»Mir geht es gut. Wirk­lich.«

»Sei ehr­lich.«

»Na­ja, es geht so.«

»Ganz ehr­lich, He­len.«

»Be­schis­sen. Zu­frie­den? Mein Bru­der, den ich bis vor we­ni­gen Wo­chen nicht mal kann­te, liegt be­gra­ben un­ter der Er­de. Die­ser Se­ar­gent King denkt sich stän­dig neue Ver­schwö­rungs­theo­ri­en aus und ich ha­be Angst vor dem lee­ren Haus. So, jetzt weißt du es.« Mit ver­schränk­ten Ar­men schau­te sie ih­re Freun­din trot­zig an.

Ti­ta­nia leg­te seuf­zend den Arm um ih­re be­ste Freun­din. »Ho­ney, wel­che neue Theo­rie hat­te denn Ser­ge­ant Se­xy?«, da­bei warf sie ih­re lan­gen blon­den Haa­re ge­konnt zurück. Selbst Ti­ta­ni­as Haa­re duf­te­ten nach kost­ba­ren Pfle­ge­pro­duk­ten, an die­ser Frau war alles lu­xu­ri­ös.

He­len at­me­te ein paar Mal tief ein und aus. Das Letz­te was sie woll­te, war ein Heu­lan­fall mit­ten im Pub. »Er zeig­te mir ei­nen an­ge­bli­chen Zet­tel von Jos­hua. Auf dem stand, dass alle Ge­schich­ten wahr wä­ren, man Jos­hua ho­len kom­men wür­de und man da su­chen soll, was er hasst. Ach ja, und das die Me­lo­die der Schlüs­sel wä­re.«

»Was willst du mit die­ser schwach­sin­ni­gen Theo­rie an­fan­gen?«, frag­te sie He­len und stell­te ihr Bier­glas ab.

»Kei­ne Ah­nung. Ich sol­le an dem Ort su­chen, den er am meis­ten hasst.« Ob­ses­siv kratz­te sie mit dem Fin­ger­na­gel an der Ober­flä­che des Bier­de­ckels.

Ti­ta­nia leg­te den Kopf schief und über­leg­te. »In mei­nem Fall wä­re das Pri­mark.« He­len muss­te un­will­kür­lich la­chen. »Du wür­dest nicht mal für Geld ei­ne Fi­lia­le von Pri­mark be­tre­ten.«

»Ein T-Shirt für drei Pfund muss vom Teu­fel her­ge­stellt sein. Das soll­te man nicht als Klei­dung be­zeich­nen dür­fen, ich for­de­re of­fi­ziell ein Ver­bot. Apro­pos, Sü­ße, was hältst du da­von, wenn wir in den Ur­laub fah­ren? Nur du und ich. Weit weg, viel­leicht Mar­bel­la? Da gibt es tol­le Par­tys und das Wet­ter ist si­cher bes­ser als hier. Wir könn­ten doch gleich los. Pad­ding­ton ist doch gleich um die Ecke.«

»Dan­ke, das ist lieb von dir. Aber ich kann Sher­lock nicht allei­ne las­sen. Er ge­wöhnt sich ge­ra­de an mich. Im Üb­ri­gen wür­de ich mich schä­big füh­len. Heu­te be­gra­be ich ihn und mor­gen lie­ge ich am Strand. Nein, wirk­lich nicht. King kann sich sei­ne Theo­ri­en sonst wo­hin ste­cken.« He­len strich sich die Haa­re hin­ter die Oh­ren und fühl­te sich immer mehr von dem zu­neh­men­den Lärm im Pub ge­nervt. »Ich ha­be mir jetzt ge­nug Mut an­ge­trun­ken und wer­de nach Hau­se ge­hen.«

»Halt!«, rief Ti­ta­nia und sprang auf. He­len schau­te sie mit gro­ßen reh­brau­nen Augen an. So ner­vös kann­te sie ih­re Freun­din nicht.

»Weißt du was, Dar­ling? Ich kom­me mit. Du soll­test nicht allei­ne da rein ge­hen. Das ist doch das Min­de­ste. Außer­dem kann ich jetzt eh nicht mehr fah­ren.« Wie zum Be­weis tipp­te sie mit ih­ren per­fekt ma­ni­kür­ten Nä­geln an ihr lee­res Glas.

He­len lä­chel­te matt. Der Ge­dan­ke, dass sie nicht allein sein muss­te, war tröst­lich. Ti­ta­nia ging an ih­ren Kof­fer­raum und nahm ih­re Not­fall­ta­sche her­aus, in der sie für un­vor­her­seh­ba­re Er­eig­nis­se Kos­me­tik und Klei­dung da­bei hat­te. Sie hak­te sich bei ih­rer Freun­din un­ter und schrit­ten lang­sam die be­leb­te Stra­ße ent­lang. Aus den Pubs drang lau­te Musik. Lau­te Stim­men, die wild durch­ein­an­der­re­de­ten und lach­ten, ver­mit­tel­ten ei­ne aus­ge­las­se­ne Stim­mung. Ob­wohl es erst ge­gen 19 Uhr war, um­gab sie ei­ne be­gin­nen­de Dun­kel­heit. Die Käl­te biss er­bar­mungs­los im Ge­sicht und sie be­schleu­nig­ten ih­re Schrit­te all­mäh­lich.

He­len fühl­te sich über­for­dert. Ei­ner­seits woll­te sie end­lich nach Hau­se. In die Um­ge­bung, in der sie sich ih­rem Bru­der na­he fühl­te. Zum an­dern hat­te sie Angst vor dem Un­be­kann­ten. Jos­hua war noch über­all in dem Haus prä­sent. Seit sei­nem Tod hat sie sich noch nicht in sein Ar­beits­zim­mer ge­traut. Allein wenn sie die Hand auf den Tür­knauf leg­te, über­fiel sie die Trau­er. Ob­wohl sie ihn kaum kann­te, war er für sie der Bru­der, den sie sich immer wünsch­te.

Am Haus an­ge­kom­men, zog He­len den Schlüs­sel aus ih­rer Man­tel­ta­sche. Ih­re Fin­ger fühl­ten sich so klamm an vor Käl­te, dass sie das Me­tall kaum spür­te. Mit ei­nem lei­sen Knar­ren gab die Ein­gangs­tür He­lens Druck nach und öff­ne­te sich. Wie in ei­nen dunk­len Schlund starr­te sie in den Ein­gangs­be­reich des Hau­ses, das aus hei­te­rem Himmel ihr Zu­hau­se war. Das Ge­fühl von End­gül­tig­keit über­kam sie schlag­ar­tig und sie be­kam kei­ne Luft mehr. Wie ein Fisch an Land schnapp­te sie nach Luft und hielt sich am Tür­rah­men fest. Ti­ta­nia leg­te von hin­ten wort­los ih­re Hand auf He­lens Schul­ter. Mit die­ser Ge­ste brach He­lens letz­ter Schutz­damm. Die Trä­nen lie­fen ihr un­kon­trol­liert über das Ge­sicht, aus ih­rem Mund stieß sie ei­nen nicht hör­ba­ren Schrei aus. Die Trau­er schlug mit vol­ler Wucht zu. Ti­ta­nia zog in­stink­tiv He­lens Arm um ih­ren ei­ge­nen Hals und half ihr da­bei, nicht auf den kal­ten Boden zu sin­ken.

»Ssschhhsch, ist schon in Ord­nung. Lass es ru­hig raus.« Sie half ih­rer trau­ern­den Freun­din in das Haus und stieß mit ei­nem Fuß die schwe­re Tür hin­ter sich zu. Un­ter gro­ßer Kraft­an­stren­gung zog sie He­len über den schma­len Flur in das Wohn­zim­mer und ließ sie und sich selbst auf die gro­ße dun­kel­brau­ne Leder­couch sin­ken. Dort sa­ßen sie bei­de in fast völ­li­ger Dun­kel­heit, die nur ab und an von den Schein­wer­fern der vor­bei fah­ren­den Autos un­ter­bro­chen wur­de. Ti­ta­nia konn­te in ih­rer Hil­flo­sig­keit nichts an­de­res ma­chen, als He­len wie bei ei­nem Kind über den Kopf zu strei­cheln und be­schwich­ti­gen­de Wor­te zu sa­gen.

Helen Sterling und das Geheimnis der Lady Jane Grey

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