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3. Flirtstimmung

Auf einer kurvigen Landstraße, die sich über Alpenpässe und durch Alpentäler von Österreich bis nach Italien schlängelt, fährt ein grauer Bus, vollbesetzt mit Studenten der Universität Wien. Das geowissenschaftliche Institut unternimmt eine Exkursion zur praktischen Erforschung von Gesteinserosion im Hochgebirge.

Die Stimmung im Bus ist ausgelassen. Wer nicht per Kopfhörer seine eigene Musikauswahl hört, wird durch den italienischen Busfahrer unterhalten, der die alten Hits von Adriano Celentano in voller Lautstärke über seine Soundanlage abspielt.

Vittorio dreht sich auf seinem Sitzplatz öfter zu einer Gruppe von Studentinnen um, die in einer Fünfergruppe auf der letzten Sitzbank sitzen.

Als der Song „Il tempo se ne va“ mit Adriano´s rauchiger Stimme abgespielt wird, singt Vittorio, der selbst aus Italien stammt, aus ebenso rauchiger Kehle laut mit. Auf dem Sitz kniend, wirft er den Frauen Handküsse zu, seiner Kommilitonin Maria schmachtende Blicke. Die jungen Frauen amüsieren sich über seine Nummer, es herrscht Flirtstimmung.

Als der Song endet, revanchiert sich Maria mit einem angedeuteten Kuss, den sie ihm von ihrer Hand aus über drei Sitzreihen hinweg pustet. Er fängt ihn pantomimisch mit einer Hand auf und drückt ihn voller Inbrunst ans Herz.

Applaus, Marias Kommilitoninnen lachen, sie lächelt ihm zu. Ihre Freundin Clara schaut etwas eifersüchtig, und einige in Wien aufgewachsene Studenten fühlen sich zum Schmäh provoziert.

„Ade Celentano! Bei dem Ständchen kriegt nur einer einen Ständer. Oh sole Vittorio.“

Ein kauziger Typ fühlt sich ebenfalls inspiriert.

„In Italien musst beim Jodeln aber aufpassen, Vittorio. Bei euch stehen nicht einmal die Berge stabil.“

Gelächter von den vorderen Reihen, wo sich eine Gruppe von Studenten zusammengefunden hat, die wegen ihrer Herkunft etwas auf sich halten. Vittorio wird von ihnen als Prolet angesehen, weil er neben dem Studium jobbt und seine Familie keinen bekannten Namen vorzuweisen hat.

Den ebenfalls aus der Schweiz stammenden Urs kennt Maria aus ihrer Heimatstadt Brig, wo sein Vater eine Filiale der UBS leitet. Vor einigen Monaten hat sie eine Affäre mit ihm beendet. Seitdem weicht sie ihm und seinen Freunden aus. Die Ansichten, die in dieser Gruppe verbreitet werden, findet sie überheblich. Als sie zu ihnen hinüberschaut, schneidet Urs ihr eine Grimasse.

Maria reagiert nicht darauf. Sie verachtet, wie diese höheren Töchter und Söhne die ganze Welt für sich als einen gedeckten Tisch betrachten, an dem sie sich bedienen, wie es ihnen passt. Ständig neue Konsumwünsche, deren Erfüllung sie dennoch nicht weiterbringen. Maria kotzt ihre Selbstsucht an.

Zwar ist ihr Vater ein wohlhabender Hotelbesitzer, und ihre Mutter eine Wissenschaftlerin, aber sie würde deswegen nie auf andere herabsehen.

Der Bus fährt in eine Kurve und gerät plötzlich auf Sand ins Rutschen. Entsetzt beobachten sie, wie er immer näher auf eine Schlucht zusteuert und erst kurz davor anhält. Zwischen sich und dem Abgrund nur eine dünne Leitplanke.

Urs übergibt sich in eine der Papiertüten, die für jeden Fahrgast am Platz bereitliegen. Seine Clique verspottet ihn daraufhin unter lautem Gejohle. Maria hat Mitleid mit ihm.

Bald wird die Straße in den Kurven unfassbar eng, weshalb das Ungetüm von Reisebus in den Haarnadelkurven mehrmals vor und zurückmuss, aber der Busfahrer bleibt gelassen und fröhlich, seine Musikbeschallung hat offensichtlich System. Ein Student aus Köln übergibt sich als nächster, weil er an Bergtouren nicht gewöhnt ist.

Das Geräusch des Speiens geht in der lauten Beschallung nahezu unter, der Busfahrer ist ein schlauer Bursche, aber der Geruch von Mageninhalt zieht durch den Bus, wodurch die meisten aschfahl im Gesicht werden.

Als der Busfahrer gebeten wird, die Musik leiser zu stellen, schaltet er verärgert seine Anlage aus.

Zur Erleichterung der von Höhenangst betroffenen Fahrgäste führt die Fahrt von da an eine Talsohle entlang, die Laune der Reisenden steigt langsam wieder, was sich an denjenigen ausmachen lässt, die zu ihren Lieblingssongs aus dem Kopfhörer schräg mitsingen. Die von Übelkeit geplagten Studenten sind davon zunehmend genervt.

Aus leicht überhöhtem Tempo bremst der Bus plötzlich ab, wodurch zahlreiche Smartphones unter den Stuhlreihen verschwinden und über den Boden segeln. Wütender Aufschrei, wegen des Verlusts ihrer Smartphones riskierte diese Generation sicher eine Revolution. Nichts anderes ließe sie gegen die Verhältnisse aufbegehren.

Der Bus stoppt knapp vor der Stoßstange eines LKW. Auf den ersten Blick ein Möbelwagen älterer Bauart, dessen Fahrer nun dem Busfahrer von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzt.

„Stronzo, vaffanculo!“

Der drahtige Busfahrer erhebt sich aus seinem Fahrersitz und gestikuliert schimpfend mit beiden Armen vor dem jüngeren Fahrer gegenüber, der in Vittorios Alter ist. Als Beifahrerin sitzt eine schwarzhaarige Frau neben ihm, die sich von all dem nicht beeindrucken lässt und ungerührt weiter in ihrem Comic liest.

Eilig setzt der Fahrer den Möbelwagen zehn Meter zurück, um anschließend in der engen Straßenkurve fast in Zeitlupe an dem Bus mit den Studenten vorbeizuschleichen.

Die meisten kriegen davon gar nichts mit, weil sie unter den Sitzen nach ihren Smartphones suchen, manche krabbeln wie Babys auf allen vieren durch den Bus.

Maria betrachtet beim Vorbeifahren die Seite des fremden Gefährts, die so bunt bemalt ist wie ein Wohnwagen aus Amsterdam. Sie vermutet, eine Hippiekommune oder eine Band auf Tournee, die von einem Auftritt zum nächsten tingelt.

Den in großen Buchstaben auf die Wände des alten Möbelwagens gepinselten Namen der Gruppe kann sie nicht vollständig entziffern, dazu schleichen die beiden Fahrzeuge zu dicht aneinander vorbei.

In einem seitlich im Möbelwagen angebrachten Fenster entdeckt Maria einen jungen Mann mit langen Haaren, die er am Hinterkopf zu einem Zopf zusammengebunden hat. Er trägt ein Hemd im Stil der achtziger Jahre, Maria vermutet eine Revival Band. Sie sieht ihn für einen Moment über ihre Neugier lachen, dann ist das Fenster an ihnen vorüber.

Nach diesem Zwischenfall ist die Stimmung im Bus wieder im Keller. Man sehnt sich danach, die unbequemen Sitze des Busses endlich zu verlassen.

Clara lehnt schlafend an Marias Schulter, die immer wieder zu Vittorio hinüberschaut. Maria überlegt, ob er ihr gefällt.

Vom Ziel der Exkursion, dem Tal mit dem verschütteten Ort Morignone, hat außer Professor Gründling keiner der Mitreisenden eine realistische Vorstellung.

Nicht einmal Maria, die zwar als Jugendliche über die Katastrophe hörte, die sich aber daraus ihre eigene, fantasievolle Vorstellung von Morignone gemalt hat.

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