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4. Nachtasyl

Mit einem feinen Silberputztuch poliert Gaspard seine aus Silber und Halbedelsteinen gefertigten Schmuckstücke, die er auf einem schwarzen Samttuch ausgebreitet hat.

Ringe, Halsketten, Anhänger mit den Symbolen der Sternzeichen lässt er geschickt durch die Hände gleiten, Mary sieht ihm fasziniert dabei zu. Seine schlanken und feinfühligen Finger geben ihr Vertrauen, sie genießt die Nähe zu diesem Fremden, der mit sich selbst beschäftigt zu sein scheint.

„Ein Ring bedeutet Ewigkeit, er hat kein Anfang und kein Ende. Seine Symbolkraft dient der Menschheit schon seit tausenden von Jahren. Er versinnbildlicht ewige Liebe und endlose Freundschaft.“

Er schaut wie ein Juwelier und ihr Misstrauen schmilzt dahin. Sie spürt das Verlangen, eines der formschönen Metallstücke anzufassen.

„Darf ich? Haben Sie diese Schmuckstücke selbst gefertigt?“

Er nickt ihr aufmunternd zu. Sie nimmt ein silbernes Kreuz und prüft das Metall zwischen ihren Fingern.

„Eine wunderschöne Handarbeit. Leider nehme ich niemals mein Portemonnaie mit hier herauf, sonst würde ich dieses Kunstwerk erwerben.“

Geschmeichelt lächelt Gaspard sie an. Der Erfolg seines Schmuckhandels unterliegt den Launen von aktuellen Modetrends. Silberschmuck wird von den Damen in den Touristenorten in dieser Saison selten favorisiert, was ihn in eine verzweifelte Lage gebracht hat. Aber er lässt sich nichts anmerken, lehnt sich entspannt zurück und schaut auf die gegenüberliegenden Bergkuppen.

„Fantastischer Ausblick! Hier möchte man leben. Kein Verkehr. Kein Stress. Und eine Luft zum tief Durchatmen. Das macht glücklich. Und frei. Weiter oben das Wirbelspiel der Wolken. Nur unten aus dem Tal lärmt es herauf.“

„Ja, ein wundervoller Ort. Jetzt wohnen wir dort unten, wo alles eng ist. Nicht nur die Straßen, auch die Menschen. Deshalb kehre ich manchmal hierher zurück. Nur, um mich zu erinnern, wie schön mein Leben gewesen ist. Schauen Sie sich um, wie es verfällt!“

Gaspard stützt seine Hände auf die Knie und beugt sich zu ihr hinüber.

„Ich kann mit der Gefahr leben. Wenn es endet, ist es eben vorbei.“

Mary steht vor seiner Annäherung irritiert auf, flüchtet sich dann zu ihren Pflanztöpfen. Mit einer Thermoskanne kehrt sie an den Tisch zurück und bietet ihm einen Becher Tee an.

Gaspard bedankt sich und schmeckt genießerisch das Aroma des Kräutertees ab, als verkoste er einen edlen Wein.

„Wenn Sie einmal gesehen hätten, wie sich im Hang nach einem Regenguss im Minutentakt neue Risse bilden, würden Sie anders urteilen. Alles ist in Bewegung, das müssen wir akzeptieren.“

Gaspard bietet ihr von dem Wein an, Mary lehnt ab.

„Trotz der Gefahr hängen reife Früchte an den Bäumen. Die Natur gedeiht hier so wunderschön wild, frei von jedem Ordnungssinn. Wenn es einen Gott gibt, möchte er das bestimmt nicht zerstören.“

Mary stimmt ihm lachend zu. Er überreicht ihr einen Ring.

„Ein Geschenk. Da Sie alles verloren haben, sollte der Himmel Ihnen etwas zurückgeben. Manchem Ring werden Zauberkräfte nachgesagt. Weiß ich vom Tarot-Karten legen, worin ich auch bewandert bin. Kennen Sie Lessing?“

Sie wirkt plötzlich verlegen, schüttelt den Kopf. Als Akademikerin verzeiht sie sich Wissenslücken nicht.

„Lessing, ein deutscher Schriftsteller, der den Ring als ein Symbol für Toleranz interpretierte.“

Mary fühlt sich überrumpelt, will sein Geschenk nicht annehmen, aber Gaspard drängt ihn ihr auf. Nach einigem Zögern nimmt sie das Geschenk an, betrachtet entzückt die feine Metallarbeit. Plötzlich hat sie eine Idee.

„Wenn Sie das Risiko wirklich nicht scheuen, bleiben Sie doch über Nacht in unserem ehemaligen Haus! Ich lasse Ihnen den Schlüssel. Morgen früh komme ich herauf und kaufe Ihnen dieses herrliche Silberkreuz ab.“

Ohne seine Zustimmung abzuwarten, eilt sie zur Haustür und schließt auf. Gaspard folgt ihr in die modrig riechenden Räume. Ein trauriger Anblick bietet sich ihnen. Die Dielen haben sich von Feuchtigkeit an manchen Stellen nach oben gewölbt, die Vorhänge an den Fenstern sind vergilbt.

„Normalerweise betrete ich das Haus nicht, weil mich der Anblick unendlich traurig macht.“

„Wie in einem Märchen, seltsam verwunschen.“

Gaspard wischt eine fingerdicke Staubschicht von der Fensterbank.

„Angeblich soll es einsturzgefährdet sein. Aber solange es nicht regnet, steht es stabil. Also, auf eigene Gefahr!“

„Ich heiße Gaspard.“

Sie lachen über seinen etwas plumpen Reim. Ihre Stimmung wird fröhlicher.

„Willkommen, Gaspard! Ich bin Mary.“

„Ich werde auf ihr Eigentum gut aufpassen, Mary! Stammen Sie aus Amerika?“

Während Mary ihm beklommen das Haus zeigt, bleibt sie stumm. In einem alten Schrank findet sie zwei alte Decken, die sie ihm überreicht.

„Nachts wird es hier oben recht kalt. Die Blätter verfärben sich schon, Gaspard. Bald ist es Herbst.“

Ihr Begleiter stimmt auf Italienisch erneut eine Belcanto Arie an, die durch das leerstehende Haus dröhnt. Mary empfindet seinen Gesang als befreiend.

„Du vertreibst die alten Geister, Gaspard. Das ist gut.“

Nach einem Rundgang durch die dunklen und staubigen Zimmer stehen sie wieder am Eingang.

„Sind das Heilpflanzen, die Du ausgegraben hast, Mary?“

Sie schaut ihn mit spöttischen Mundwinkeln an.

„Kräuterhexe, was? Nein, aber vielen Dank! Ich wähle sie danach aus, ob sie gefährdet sind.“

Sie begibt sich zurück in ihre frühere Küche und dreht an der Spüle einen Wasserhahn auf. Anstelle von fließendem Wasser nur ein ächzender Laut.

„Falls Du Durst bekommst, musst Du dir an der Quelle unterhalb des Dorfes Wasser holen. Unser Brunnen ist offenbar versiegt. Morgen früh bringe ich dir frisches Wasser mit herauf.“

Sie verlässt eilig das Haus, fast wirkt es wie eine Flucht vor ihren Erinnerungen.

„Also Gaspard, bis morgen. War nett, dich kennenzulernen!“

„Danke für alles, Mary!“

Er lächelt sie etwas zu verschmitzt an. Verwirrt schaut sie nach ihren Pflanzen und nimmt eine davon in einer Umhängetasche mit. Nach einigen Metern Abstand dreht sie sich zu ihm um.

„Gelegentlich kontrolliert die Polizei das alte Dorf. Wenn sie nachts ein Licht hier oben sehen, kommen sie herauf. Bleib dann lieber unsichtbar!“

Gaspard winkt ihr zu, als sie über die alte Dorfstraße zwischen den Ruinen verschwindet.

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