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II | Die Zeit des Werdens: Das prähistorische Sizilien

Vor ungefähr 30 000 Jahren strebte die letzte große Eiszeit nach Ende des Interstadials 5 ihrem frostigen Höhepunkt entgegen. Halb Europa lag unter einem dicken Eispanzer begraben. In diese Periode fällt das erste Auftreten des modernen Menschen in Sizilien. Die Siedlungsgeschichte der Insel reicht aber noch viel weiter zurück: bis weit ins Paläolithikum, als die Vorfahren von Homo sapiens und Neandertaler erste primitive Steinwerkzeuge schufen und damit begannen, sich die Natur nach ihren Bedürfnissen zu formen. Von Anfang an vollzog Sizilien darin Entwicklungen im benachbarten Europa und Afrika nach; die Insellage brachte es jedoch mit sich, dass sich vieles jenseits der Straße von Messina erst mit gehöriger Verzögerung durchsetzte.

Steinzeit

Während Überreste dieser ersten Sizilianer bislang ihrer Entdeckung harren, haben sich ihre Spuren doch in Form der sogenannten Chopping Tools erhalten, Steinen unterschiedlicher Größe, von denen an zwei Seiten Späne abgehauen wurden, so dass eine zweischneidige Klinge entstand. Chopping Tools dienten ihren Benutzern – den Vorfahren des modernen Menschen und ihren Verwandten – vor gut zwei Millionen Jahren zum Schneiden, Schaben und Sägen. Mit ihnen konnten Tiere geschlachtet, Nahrungsmittel gesäubert und Werkzeuge hergestellt werden. In verschiedenen Teilen Siziliens tauchen Chopping Tools aus Quarzit, Kalk- oder Feuerstein auf.

Spätere Generationen von Inselbewohnern benutzten mandelförmige Faustkeile, wie sie zuerst in den 1960er Jahren bei Grabungsarbeiten in Heraklea Minoa ans Licht kamen und seither überall auf der Insel gefunden werden. Sie sind Zeugen dafür, dass Sizilien nahezu von Anfang an am Prozess der Menschwerdung teilhatte. Vermutlich kamen die paläolithischen Sizilianer über eine Landbrücke zwischen der Insel und dem italienischen Festland, die sich während der verschiedenen eiszeitlichen Kälteperioden formiert haben könnte.

Während die frühe Altsteinzeit damit vergleichsweise gut dokumentiert ist, fehlen bislang stichhaltige Belege dafür, dass Sizilien an das mittelpaläolithische, mit den Neandertalern in Verbindung gebrachte Moustérien-Netzwerk angeschlossen war. Hingegen ist das Auftreten des modernen Menschen vor ca. 30 000 Jahren durch Flintwerkzeugfunde in Fontana Nuova (Marina di Ragusa) im Süden der Insel sicher belegt. Wesentlich dichter werden die Spuren dann für die ausgehende Eiszeit, um 10 000 v. Chr. Die Menschen dieser Zeit schufen, besonders an der Nordküste Siziliens, filigrane Steinwerkzeuge von erstaunlicher Vielfalt und Präzision. Viele dieser Mikrolithen dienten – wie gleichzeitig in anderen Teilen Europas entstandene Steinartefakte – als Jagdwerkzeuge. Bevorzugte Jagdbeute der Sizilianer aus dem Jungpaläolithikum dürften Wildschweine, Rotwild, Füchse, wilde Rinder und Ziegen gewesen sein. Die eiszeitliche Fauna – Zwergelefanten, Flusspferde und Hyänen – war im postpleistozänen Sizilien bereits ausgestorben.

Aus der Zeit der jungpaläolithischen Jäger erreichen uns auch die ersten Zeugnisse für die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt und sich selbst. Die aus dem 9. Jahrtausend v. Chr. stammenden Felszeichnungen in der Grotta del Genovese auf der Insel Levanzo – einer der Ägadischen Inseln vor der Westküste Siziliens – weisen unübersehbar Parallelen zur etwas älteren Höhlenmalerei des Festlands auf, vor allem in Frankreich und Spanien. Dargestellt sind, mit schwungvollem Strich und in frappierender Dynamik, Exemplare der einheimischen Tierwelt: Rinder, Rotwild und Europäische Wildesel, Vorfahren des heutigen Esels. Anders aber als etwa die Urheber der berühmten Felszeichnungen von Lascaux interessierten sich die sizilianischen Künstler auch für menschliche Sujets: Wir werden offenbar Zeugen eines Rituals, das von drei männlichen Figuren ausgeführt wird.

Eine religiöse Zeremonie scheint auch das Thema einer anderen Felszeichnung zu sein, die 1952 in der Grotta dell’Addaura auf dem Monte Pellegrino bei Palermo gefunden wurde. Auch hier sind neben Rindern, Pferden und Rotwild Menschen dargestellt. Acht anscheinend männliche Figuren tanzen um zwei liegende, ebenfalls männliche Gestalten in Fesseln. Einem der Tänzer ist eine kleinere, offenbar weibliche Figur beigegeben. Vermutlich stellt diese Szene, ebenso wie die Zeichnung von Levanzo, ein Jagdritual dar, bei dem gefesselte Darsteller die Rolle von Beutetieren einnahmen.

Die Felszeichnungen aus dem 9. Jahrtausend v. Chr. markieren den Übergang zum Mesolithikum, als Menschen sich einer veränderten Umwelt anzupassen hatten und vor allem stärker zur Nutzung von Gewässern – durch Bootsbau und Fischfang – übergingen. In der Höhle von Uzzo an der sizilianischen Westküste fanden sich Relikte einer mesolithischen Gemeinschaft, die von der Jagd auf Rotwild, Wildschweine und Vögel lebte, aber ihren Speisezettel auch durch das Sammeln wilder Früchte und von Muscheln aufbesserte sowie, in wachsendem Maße, durch Fischfang. Die Funde von Uzzo, zu denen auch sechs Bestattungen gehören, datieren in die Zeit zwischen ca. 10 000 und 6200 v. Chr.


| Höhlenmalerei in der Grotta del Genovese auf der Insel Levanzo bei Sizilien. Die Höhlenmalereien stammen aus der Steinzeit und sind 10 000 bis 12 000 Jahre alt.

Sie gingen damit dem Neolithikum voraus, das auch in Sizilien den Übergang zu sesshaften Lebensformen und zur agrarischen Produktion brachte. Ab dem 6. Jahrtausend v. Chr. verschwand allmählich die Vielfalt kleiner Steinwerkzeuge und machte bald der Nutzung anderer Werkstoffe Platz, vor allem Keramik. Die Menschen verließen ihre Höhlen und siedelten auf dem offenen Land, das sie zu bebauen begannen: Das Dorf wurde zur vorherrschenden Siedlungsform und zum Brennpunkt der Vergesellschaftung. Die „neolithische Revolution“ – eigentlich keine Revolution, sondern ein Prozess extrem langer Dauer mit zahllosen Übergangsstadien – nahm im Vorderen Orient nach 10 000 v. Chr. ihren Anfang und griff bald auf Europa und Afrika über; Sizilien aber, auf dessen wenig zahlreicher Bevölkerung ein geringerer demographischer Druck lastete, erfasste die Welle erst mit gehöriger Verspätung, kurz nach 6000 v. Chr.

Erste Spuren des Wandels finden sich wiederum zuerst in der Höhle von Uzzo, deren Bewohner im frühen 5. Jahrtausend v. Chr. Weizen und Gerste anzubauen begannen. Allmählich nahm der Anteil von Wild auf dem Speisezettel ab, Haustiere, Fisch, Meeresfrüchte und Feldfrüchte gewannen an Bedeutung. Bereits zu Beginn des 6. Jahrtausends waren die Bewohner der Höhle zur Herstellung von Keramik übergegangen. Die Keramik fügt sich nahtlos in das aus dem gesamten Mittelmeerraum bekannte Spektrum: Die Uzzo-Sizilianer lebten also keineswegs in vollständiger Isolation vom Rest der Welt, sondern waren – wiewohl als marginale Gruppe – in einen weiteren Horizont integriert. In ihnen dürften wir die Nachfahren der mesolithischen Höhlenbewohner vor uns haben, die deren Tradition weitgehend bruchlos fortsetzten.

Kurz nachdem die Uzzo-Menschen erste primitive Tongefäße zu brennen begannen, im ausgehenden 6. Jahrtausend, breiteten sich im Süden der Insel dörfliche Siedlungen aus, in denen ein neuer Typus Keramik, die nach ihrem ersten Fundort bei Syrakus so genannte Stentinello-Ware, hergestellt wurde. Sie wies bereits eine große Formen- und Dekorationsvielfalt auf, mit in geometrische Muster eingelassenen „Augen“ – möglicher Hinweis darauf, dass sich der Glaube an den „Bösen Blick“ auf der Insel etabliert hatte. Die Bewohner der Stentinello-Dörfer bauten Getreide an und hielten Ziegen, Rinder, Schweine und Hunde. Dieselbe Keramik war gleichzeitig auch in Kalabrien verbreitet. Über die soziale Organisation der Dörfer und das Beziehungsgeflecht zwischen ihnen ist aber kaum etwas bekannt; ebenso unklar ist, ob das Auftreten der Stentinello-Kultur mit der Einwanderung neuer Gruppen vom italienischen Festland zusammenfiel. Immerhin weisen viele der neuen Siedlungen Umfassungsgräben und Palisaden auf – Anzeichen dafür, dass ihre Bewohner sich gegen Feinde von außen zur Wehr zu setzen hatten. Ob Störenfriede nun von der Insel selbst oder vom Festland kamen: Unübersehbar ist, dass Sizilien im 6. Jahrtausend allmählich Anschluss an entwickeltere Teile des Mittelmeerraums fand.

Eine Schlüsselrolle in diesem Prozess spielte womöglich Obsidian, ein vulkanisches Gesteinsglas, das sich in der Steinzeit für die Herstellung scharfer Klingen großer Beliebtheit erfreute und über große Distanzen gehandelt wurde. Reiche Vorkommen befinden sich auf verschiedenen Mittelmeerinseln, darunter auf den Vulkaneilanden Pantelleria und Lipari. Auf Lipari fanden sich beträchtliche Mengen von Obsidianwerkzeugen, die hier offenbar für den Export hergestellt wurden. Auf der Insel setzten sich auch zuerst Keramikstile durch, die von Waren des italienischen Festlands inspiriert waren und den Stentinello-Stil teils ergänzten, teils ablösten. Das Obsidian-Zentrum Lipari wurde alsbald zu einer frühen Handelsdrehscheibe: Zahlreiche Funde belegen den Import unterschiedlicher Rohstoffe, darunter Flint für Steinwerkzeuge und Tonerde für Keramik.

Wie die anderen Teilregionen des Mittelmeerraums auch, wuchsen die Dorfgemeinschaften auf Sizilien allmählich in überregionale Netzwerke hinein, die durch reziproken, ritualisierten Gabentausch zusammengehalten wurden. Wie in praktisch allen vormodernen Gesellschaften dürfte das Übermitteln von Geschenken vor allem als Unterpfand wechselseitiger Solidarität gedient haben. Soziale Differenzierung und Hierarchisiserung, das damit einhergehende Repräsentationsbedürfnis von Einzelpersonen und Familienclans, Opferkulte und die Sitte, den Toten Gegenstände mit auf ihre Reise ins Jenseits zu geben, beflügelten die Nachfrage nach möglichst exotischen Gegenständen und damit das Bedürfnis, mit anderen in Kontakt zu treten. Siziliens insularer Dornröschenschlaf neigte sich damit seinem Ende zu.

Wie eng Siziliens Kontakte mit der Außenwelt im späten Neolithikum waren, unterstreichen die zahlreichen Parallelen zur Nachbarinsel Malta: Auch auf Malta, dessen Bewohner ab dem späten 5. Jahrtausend monumentale Steintempel und unterirdische Grabanlagen (Hypogäen) errichteten, hatte die Stentinello-Ware sich durchgesetzt, und bis in die frühe Bronzezeit ging die Keramikentwicklung Hand in Hand. Die Menschen auf Malta und Gozo bezogen aus Sizilien Rohstoffe wie Ocker und Alabaster, die auf ihren Inseln nicht verfügbar waren. Umgekehrt wurde Malta zu einem Zentrum der Textilherstellung; Tuchwaren wurden in großem Umfang nach Sizilien verschifft. Als Ergebnis dieser großräumigen Austauschnetzwerke, in denen Innovationen nun beschleunigt zirkulierten, entstand eine, sich in der Abfolge von Keramikstilen manifestierende, kulturelle Koine, die über mehrere Tausend Jahre reichte und erst in der Frühbronzezeit zerbrach.

Bronzezeit

Bereits im 8. Jahrtausend v. Chr. hatten Menschen in Anatolien mit der Bearbeitung reinen Kupfers begonnen. Aber erst um 3000 v. Chr. hatte sich, ausgehend von Vorderasien, das metallurgische Know-how so weit verbessert, dass Metalllegierungen hergestellt werden konnten. Bronze wurde alsbald der Werkstoff für Gerätschaften und Waffen aller Art; zu Barren gegossen, diente sie als konvertibles und relativ leicht transportables Zahlungsmittel. Die Bronzetechnologie brachte einen gewaltigen Innovationsschub. Vor allem setzte sie eine soziale Organisation von erheblicher Komplexität voraus; schließlich mussten Rohstoffe oft aus großer Entfernung herangeschafft werden. Der Anbruch der Bronzezeit und das Entstehen arbeitsteiliger, urbaner Gesellschaften mit beginnender Schriftlichkeit ging deshalb fast überall Hand in Hand.

Gegen Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. verdichtete sich in den Flussoasen Mesopotamiens und Ägyptens Macht zu ersten Territorialreichen, die mehrere Städte unter ihrer Herrschaft vereinten. Allmählich entstanden so große überregionale Machtzentren, die auch entfernte, schließlich sogar überseeische Gebiete kontrollieren konnten, bis der Vordere Orient gegen Ende der Bronzezeit (vor 1200 v. Chr.) zur Machtsphäre dreier großer Reiche wurde: des ägyptischen Neuen Reiches am Nil, des Hethiterreiches in Kleinasien und des Mittelassyrischen Reiches in Obermesopotamien. Europa, zumal der Westen, war vom Aufstieg der orientalischen Territorialreiche nur mittelbar betroffen, als Peripherie, aus der aber wachsende Mengen Rohstoffe gen Osten verschifft wurden.

In Sizilien setzte das Metallzeitalter um 2500 v. Chr. ein, ohne jedoch eine vergleichbare Machtkonzentration zu bewirken. Im Gegenteil: In Sizilien zerfielen großräumige Strukturen. Recht bald erstarben der rege Obsidian- und Wollhandel, und die jahrtausendealte sizilisch-maltesische Koine zerfiel. Sie machte einer Fülle lokaler und regionaler Keramikstile Platz, die alle gewisse Merkmale teilten und etwas irreführend der sogenannten Castelluccio-Kultur zugeordnet werden. Wie so oft erklärt sich die Bezeichnung forschungsgeschichtlich: In Castelluccio bei Noto stieß der italienische Archäologe Paolo Orsi (1859 –1935) Ende des 19. Jh. erstmals auf eine reich dekorierte Keramik, die sich grundlegend von den spätneolithischen Waren unterschied. Verwandte Keramikstile fanden sich überall über die Insel verteilt; sie alle gehören lose zusammen, bilden aber deutlich voneinander zu differenzierende regionale Gruppen, die sich von ca. 2500 bis ins zweite vorchristliche Jahrtausend behauptet haben mögen.

Die neue Vielfalt und das Ende der Koine bedeuten nicht, dass die Kontakte zur Außenwelt gänzlich abrissen. Dies bezeugt eine Serie von dekorierten Knochentafeln, von denen insgesamt 17 über die gesamte Insel verstreut gefunden wurden. Offenbar wurden die Tafeln, die durchweg eine Reihe halbkugelförmig vorragender „Knöpfe“ aufweisen und mit Ritzzeichnungen verziert sind, in Sizilien hergestellt. Tafeln derselben Machart fanden sich auch auf Malta, in Süditalien und sogar in Griechenland und Kleinasien. Vermutlich zirkulierten sie in regionalen Tauschsystemen, in denen sie von Hand zu Hand wanderten und schließlich auch weit entfernte Bestimmungsorte erreichten.

Mit der Castelluccio-Keramik und der Bronzetechnologie hielten neue Baustile, Begräbnisformen und Wirtschaftspraktiken auf der Insel Einzug. Gleichzeitig mit der Bronzetechnologie breitete sich der Typus des in den Fels geschnittenen, oberirdischen Kammergrabs aus: Die Toten wurden nun aus der Mitte der Gemeinschaft verbannt – ein grundlegender Wandel, in dem sich die zunehmende Komplexität der dörflichen Gesellschaft spiegeln dürfte. Deren Siedlungen waren nun erheblich größer als zuvor und vor allem stärker befestigt: Ein großes Castelluccio-Dorf wurde nahe Syrakus bei Melilli entdeckt; es war von einer 3m starken Mauer umgeben, die mit halbkreisförmigen Türmen bewehrt war. Eine ähnliche Anlage fand sich auch einige Kilometer entfernt auf der Halbinsel von Thapsos.

Von herausragender Bedeutung für unser Verständnis der Castelluccio-Periode ist aber ein Fundplatz namens La Muculufa, eine kleine Siedlung auf einem das Tal des Flusses Salso überragenden Gipfel, 30 km westlich von Agrigent. Bemerkenswert ist das an das Dorf angeschlossene Heiligtum, das lediglich aus einem System von Terrassen bestand. Hier fanden sich die Scherben unzähliger hochwertiger Keramikgefäße, die von Opfernden den Göttern dargebracht wurden. Etliche der Gefäße haben Verzierungen, die deutlich von dem Material aus dem Dorf selbst abweichen, aber markante Parallelen zu Töpferwaren aus dem Umland von La Muculufa: Der Schluss liegt nahe, dass hier Menschen aus dem gesamten Salso-Tal zusammenkamen, um zu opfern. Eine religiöse Amphiktyonie, wie sie sich hier in La Muculufa abzeichnet, war oft der Nukleus auch eines politischen Zusammenschlusses. Möglicherweise macht uns also die primitive Anlage hoch über dem Salso zu Zeugen erster territorialer Organisation im prähistorischen Sizilien.

Parallel zur Castelluccio-Kultur in Sizilien kam im 3. Jahrtausend auf den Liparischen Inseln eine materielle Kultur auf, die mit dem Ort La Montagnola di Capo Graziano auf Filicudi assoziiert wird. Die Menschen auf den Inseln wohnten in Hütten, deren Fußböden aus Keramikscherben bestanden und die auch sonst zahlreiche Merkmale mit Wohngebäuden teilten, wie sie gleichzeitig in der Ägäis errichtet wurden. Ebenfalls in die Ägäis weisen die Dekorationsmuster der Keramik: Ritzzeichen, die an die minoisch-mykenischen Linear-Schriften erinnern und auch auf frühhelladischer Töpferware zu finden sind. Die Hersteller dieser liparischen Keramik müssen nicht unbedingt aus Griechenland gekommen sein; dass aber Ägäis und Liparische Inseln Teile einer schon recht engmaschigen Kontaktsphäre waren, wird man nicht leugnen können.

Ab ca. 2000 v. Chr. griff die gesellschaftliche Dynamik, die im Vorderen Orient große Palastzentren mit sozialer Differenzierung, Schriftlichkeit und territorialstaatlicher Organisation hatte entstehen lassen, auf den Ägäisraum über. Zuerst auf Kreta, wo die ausgedehnte Palastanlage von Knossos entstand, später auch auf dem griechischen Festland, mit Mykene, Argos, Tiryns und anderen befestigten Plätzen, schossen neue Machtzentren wie Pilze aus dem Boden. Wie in Vorderasien und Ägypten banden städtische Zentren agrarisch nicht produktive „Spezialisten“ in erheblicher Anzahl; Gewerbe und Güteraustausch florierten in einem breiten Streifen, der nun von der Peloponnes bis nach Mesopotamien reichte.

Die stürmische Entwicklung in der Osthälfte des Mittelmeers ging mittelfristig auch an Sizilien nicht spurlos vorüber. Die Wirtschaft und vor allem die Prestigegüterproduktion der minoisch-mykenischen Palastzentren verschlangen Unmengen an Rohstoffen, die teilweise aus so weit entfernten Regionen wie Südwestengland (Zinn) oder dem Baltikum (Bernstein) kamen. Die Sizilianer spielten lange die Rolle von Zaungästen, die am regen Güteraustausch allenfalls mittelbar Anteil hatten. Am Ende der Mittelbronzezeit aber kündigte sich ein dramatischer Umbruch an: Auf der Halbinsel Thapsos gab es um diese Zeit ein Dorf, dessen Hütten deutlich das architektonische Vokabular der Castelluccio-Zeit fortsetzten – wenn sich denn angesichts der primitiven Rundhütten von „Architektur“ überhaupt sprechen lässt.

Um 1400 v. Chr. aber kam ein völlig neuer Bautypus nach Thapsos: Neben den Hütten wuchsen langrechteckige Bauwerke in die Höhe, mit Räumen, die einem großen, gepflasterten Innenhof zugewandt waren. Auch die Straßen, die zu diesen wohl als Lagerhäuser genutzten Gebäuden führten, waren gepflastert. Ganz ähnliche Speichergebäude sind aus der Levante, Zypern und der Ägäis bekannt. Und nach Zypern weisen auch Keramikfragmente, die in der nahen Nekropole ans Tageslicht kamen. Das Auftauchen dieser fremdartigen Architektur in Thapsos, scheinbar aus dem Nichts, lässt sich kaum anders erklären als durch die Präsenz von Menschen aus dem östlichen Mittelmeerraum. Am ehesten haben wir also in dem Bauensemble von Thapsos einen Handelsstützpunkt vor uns, über den Fertigerzeugnisse und Rohstoffe getauscht wurden. Dazu passt schließlich auch das vermehrte Auftauchen von Importgütern aus dem Osten in spätbronzezeitlichen Fundhorizonten. Auf einmal war Sizilien für die Zivilisationszentren in Ägäis und Levante interessant geworden.

Das bronzezeitliche System der ägäischen und vorderasiatischen Palastzentren sank um und kurz nach 1200 v. Chr. in Schutt und Asche. Große Territorialstaaten, wie das Hethiterreich in Anatolien, wurden ebenso ein Opfer der Katastrophe wie die Handelsstadt Ugarit in der Levante, das spätbronzezeitliche Troja VIIa und die Paläste von Mykene, Tiryns und Argos auf dem griechischen Festland. Das ägyptische Neue Reich und das mittelassyrische Imperium in Mesopotamien kollabierten nach kurzer Schonfrist ebenfalls. Lange hat sich in der Forschung die Überzeugung gehalten, eine große Welle wandernder Völker habe die Staatenwelt des östlichen Mittelmeerraums hinweggespült, allenthalben Tod und Verwüstung hinterlassen und ein Dunkles Zeitalter eingeläutet, aus dem die mediterrane Welt erst wieder im 9. Jh. v. Chr. zu erwachen begann.

Eine vermeintliche Chronik dieser Invasionen findet sich in den Reliefs und Texten, die sich in einem Tempel Ramses’ III. (ca. 1188 –1156) in Medinet Habu (Theben West) erhalten haben. Darin rühmt sich der Pharao, Siege über Völker errungen zu haben, die „auf ihren Inseln“ ein Komplott gegen Ägypten geschmiedet hätten und über das Nildelta hergefallen seien. Auf den Reliefs sind ägyptische Soldaten abgebildet, die gegen verschiedene Gruppen fremdartig gekleideter Männer kämpfen, die, teilweise in Begleitung ihrer Frauen und mitsamt ihrer Habe, auf Schiffen in Ägypten landen. Einige dieser „Seevölker“ werden auch namentlich genannt: Peleset, Zekr, Šardana und Šekeleš. Besonders findige Forscher haben in diesen Gruppen Philister, Etrusker, Bewohner Sardiniens und eben Sikeler – Menschen aus Sizilien – sehen wollen, die eine Koalition geschmiedet hätten, um mit vereinten Kräften die ostmediterranen Machtzentren zu vernichten.

Nach diesem Erklärungsmodell wären also die bronzezeitlichen Sizilianer mitschuldig an der Katastrophe, die am Ende des Zeitalters den Vorderen Orient und die Ägäis heimsuchte. Abgesehen davon, dass die schlichte Gleichsetzung der in den Inschriften genannten Völker mit erst viel später bezeugten Ethnien wie Etruskern und Sikelern abenteuerlich anmutet, säen neuere Forschungen erhebliche Zweifel daran, dass tatsächlich großräumige Wanderungen die mächtigen Reiche und stolzen Städte der Spätbronzezeit zu Fall brachten. Mobile Gruppen, die den Frieden im östlichen Mittelmeer bedrohten, waren um 1200 v. Chr. keineswegs eine neue Erscheinung: Hethiter, Ägypter und Levantiner hatten sich mit ihnen seit Jahrhunderten herumschlagen müssen. Die Wanderer kamen auch nicht von weit her, sie hatten ihre Rückzugsgebiete in unzugänglichen Gegenden der Region selbst und waren oft von ihrem Land verdrängte Bauern. Sie wurden erst in dem Moment zur tödlichen Gefahr, als das System der großen, Unmengen von Ressourcen verschlingenden Palastzentren an der Überdehnung seiner Kräfte zu zerbrechen drohte. Nicht Eindringlinge von außen, sondern innere Widersprüche brachten die Kolosse zu Fall, die in Wahrheit längst auf tönernen Füßen standen.

Auch wenn die Sizilianer also kaum Urheber der Katastrophe waren, so bekamen sie doch ihre Folgen zu spüren, wenigstens mittelbar. Die Kontakte mit dem Osten, die durch die Siedlung von Thapsos und die zahlreichen Importfunde belegt sind, scheinen vollständig abgerissen zu sein. Dennoch hatten sie ihre Wirkung auf die einheimische Gesellschaft offensichtlich nicht verfehlt. In Pantalica, auf einem Gipfel knapp 25 km westlich von Thapsos, brachten Grabungsarbeiten bereits um 1900 ein großes Steingebäude mit Innenhof ans Licht, das offensichtlich auch eine Schmiede beherbergte. Während von der Siedlung nichts erhalten ist, zeigen zahlreiche Grabfunde an, dass Pantalica ab dem späten 13. Jh. v. Chr. ein bedeutendes Zentrum war. Es scheint in einer Reihe zu stehen mit anderen protostädtischen Bergsiedlungen der Periode, die das bisherige Netz aus vielen, meist in der Ebene liegenden Dörfern ablösten. Rückzug in befestigte Orte auf Hügel- und Bergkuppen ist meist die Reaktion auf anbrechende Krisenzeiten, mit Krieg und Zerstörungen. Möglicherweise griffen Wirren, die das italienische Festland bereits erfasst hatten, auf die Insel über. Andererseits mag die Konzentration der Bevölkerung auf weniger, dafür aber größere Siedlungen ein Mehr an sozialer Komplexität bedeutet haben. Sizilien befand sich am Ende der Bronzezeit fraglos im Umbruch. In welche Richtung der Prozess aber genau verlief, entzieht sich unserer Kenntnis: Auf die Pantalica-Ära folgte auch in Sizilien, wie überall im Mittelmeer, ein Dunkles Zeitalter.

Sizilien

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