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1. Kapitel: Hilfreiche Entdeckungen

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»Also dies muss ich noch auskundschaften, bevor wir in die Stadt zurückfahren«, grölte Leonie und schritt schnurstracks auf das geheimnisvolle alte Bauernhaus zu. Sie und ihre beiden besten Freunde Cem und Victor hatten das Wochenende in der stillen Natur genossen. Der Zufall hatte ihnen einen idealen Zeltplatz am Seeufer, unterhalb eines üppigen, grünen Wiesenhügels unmittelbar am Waldesrand beschert! Nach zwei Nächten draussen im Wald am Lagerfeuer fühlten sie sich zwar etwas müde, dafür aber umso glücklicher: Die Stimmung ausserhalb dieses Dorfes ist ja so friedlich und vor allem- tiefenentspannt: Die Wiesen leuchten in allen möglichen saftigen Grüntönen, die Vögel zwitschern allerhand fröhliche Melodien und wenn man das Auge in die Weite schweifen lässt, könnte man meinen, dass es sonst nichts auf dieser Welt gäbe. Ausser eben das alte Bauernhaus, das einem durchaus unheimlich werden kann, wenn man es aus der Nähe betrachtet. Cem und Victor schritten schweigend Leonie hinter her, weil sie wussten, dass alles andere zwecklos ist: Leonie gehört zu den Menschen, die bereit sind Risiken einzugehen, um ihre Neugier zu stillen, Spass zu haben oder sich für einen guten Zweck einzusetzen. Kurz bevor sie auf dem erdigen Vorplatz des Bauernhauses ankamen, steckte sie ihre rotblonden, wilden Locken mit einer Haarspange hoch, band sich den dunkelblauen Pulli um die schmalen Hüften und nahm einen kräftigen Schluck Mineralwasser. Cems tiefbraune Augen blitzten vor Vergnügen als sie ihn verstohlen anlächelte: »Brauchst du noch eine kleine Stärkung vor der letzten Entdeckungstour?« Er bot ihr und seinem Freund die restlichen Chips an. »Ich hätte fast lieber noch ein Bier«, keuchte Victor lachend und musterte das Haus von oben bis unten. »Wer weiss, vielleicht kriegen wir sogar noch einen selbstgebrannten Obstler.« Während sie die letzten Kekse und Chips vertilgten und die Petflaschen leerten, drangen plötzlich seltsame Schreie aus dem obersten Fenster des Hauses: »Nein! Ich kann doch nichts dafür! Bitte nicht! Bitte nicht!« Cem zuckte zusammen und wurde kreidebleich. Leonie lief zur Hochform auf: »Zu blöd, dass ich nicht mehr Proviant besorgt habe, was?«, scherzte sie. »Lasst uns verschwinden, dies ist echt nicht mehr lustig«, schlug Victor vor und war im Begriff wegzurennen. »Lustig nicht, aber dafür umso wichtiger«, strahlte Leonie und versuchte vergeblich, die schwere, von innen verschlossene Holztür zu öffnen: »Hier braucht ganz offensichtlich jemand Hilfe. Kommt mit!« Die beiden Freunde sahen sich ratlos an und folgten ihr. Sie rannte instinktiv hinters Haus, wo sie richtigerweise einen Hintereingang vermutete: Dann ging es die Treppe hoch ins Obergeschoss. Links und rechts türmten sich Müllberge aus Zeitungen, Zeitschriften und unzähligen Schachteln in allen Formen und Farben und sonstige zahlreiche Gegenstände zu Müllwänden. Der Holzboden knarrte und klebte, die Luft war erfüllt vom Staub, den ihre Schritte aufwirbelten und von aufgestautem, längst liegengelassenem Schmutz. Als sie auf dem Flur ankamen, hörten sie eine Stimme flüstern »Bssssst, jetzt musst du ganz still sein, dann geschieht uns nichts, bsssst«, dann kehrte die gespenstische Stille zurück. Leonie drehte sich zu den Jungs um und flüsterte: »Höchstwahrscheinlich sind die Leute in diesem Zimmer hier«, und deutete auf die letzte Tür am westlichen Ende des Flurs. »Wir machen den Leuten doch nur Angst, lasst uns endlich hier verschwinden, bevor wir Ärger bekommen«, antwortete Victor. Cem nickte schweigend. »Jungs! Wer in solcher Not lebt ist sicher nicht gefährlich.« Das Augenrollen der Jungs hielt sie nicht davon ab, ihren Monolog zu Ende zu flüstern: »Oder wenn hier zum Beispiel eine Frau zusammengeschlagen wird und dabei draufgeht, weil ihr niemand hilft, werden wir unseres Lebens nicht mehr froh! Wollt ihr das etwa?!« Die geflüsterte Diskussionsrunde wurde jäh unterbrochen: »Raus hier, aber zackig!«, schrie eine uralte Männerstimme aus dem Dunkeln. Vor ihnen stand ein sehr alter, kleiner Mann mit langen weissen Haaren, der mehr waagrecht, als aufrecht gehen konnte. Im ebenso langen Bart klebte noch das Frühstücksei vom Vortag, das weisse Hemd war mit allerlei bunten Flecken übersät und die Kniestellen bei den braunen Manchesterhosen waren weiss vor Staub. »Ganz ruhig. Wir wollen Ihnen nichts böses. Wir haben Schreie gehört und machen uns Sorgen, um Sie«, begann Cem als erster. Alle drei standen einfach mit erhobenen Händen da und hatten nicht den Nerv, irgendwie davonzulaufen. »Ich bin der Cem und das sind meine Freunde, Leonie und Victor«, begann Cem die Wogen zu glätten. Der Opa nahm sein Gewehr runter. »Und was zur Hölle habt ihr hier in meinem Haus verloren?!« - »Wir haben Schreie gehört und dachten, dass Sie vielleicht Hilfe brauchen. Leben Sie alleine hier?«, versuchte Leonie den Opa weiter zu beruhigen. »Nein. Ich lebe hier mit meiner Frau«, zischte dieser. Victor versuchte den Schreien weiter auf den Grund zu gehen: »Hat Ihre Frau Sie irgendwie geärgert, oder haben Sie sich gestritten?« Der Opa wurde wieder laut: »Was geht's dich an, Junge? Du wirst auch noch merken, dass die Weiber im Alter faul und seltsam werden.... « Victor ging ein paar Schritte rückwärts und nickte eifrig. Dabei zuckte er mit den Schultern und blickte Leonie verzweifelt in die Augen. Der Opa war so in seinen Vortrag vertieft, dass seine volle Aufmerksamkeit voll und ganz dem liebevoll lächelnden Victor galt und ihm das Gewehr auf den Boden fiel. Leonie und Cem nutzten die Gelegenheit, drängten sich am Opa vorbei und rannten ins Schlafzimmer: Die Oma lag im Bett und versuchte im Liegen und ganz ohne Schreibunterlage, etwas in ihr Notizbuch zu schreiben. Leonie und Cem setzten sich zu ihr auf den Bettrand: »Guten Abend, ich bin die Leonie Krug und das ist einer meiner besten Freunde, Cem Rabia.« Die Oma schrieb völlig unbeteiligt weiter an ihren Notizen. Ihre restlichen schütteren, schneeweissen Haare waren völlig zerzaust und klebten wie weisse Regenwürmer an ihrem fast kahlen Kopf. Aus einem nimmermüden, von einem schweren Leben gezeichneten Gesicht blickten die wässerigen stahlblauen Augen verträumt ins Notizbuch. Der schmale Mund lächelte ununterbrochen zahnlos. Ein heillos verschmutztes rosafarbenes Nachthemd hing am völlig abgemagerten Körper. Leonie räusperte sich und berührte die Schreibhand der Oma. Bevor sie irgendwie weiterreden konnte, liess diese ihr Schreibzeug fallen und sah sie verwundert an: »Lisi! Komm wir gehen ein Glas Honigmilch trinken!«, meinte sie und streichelte ihr übers rotblonde Haar. Victor kam mit dem Gewehr an der Schulter und dem Opa ins Schlafzimmer hinein. »Wir haben uns versöhnt. Ich konnte den Willi überzeugen, dass wir ihm und seiner Wiltrud nichts böses wollen.« Leonie strahlte abenteuerlustig in die Runde, während Cem seinerseits zusammenfasste: »Unserer Wiltrud scheint es soweit gut zu gehen- sie ist mit ihren Notizen beschäftigt und will ˃Lisi˂ und mir eine Honigmilch servieren«, erklärte Cem auf Leonie deutend. Der Opa klopfte Victor auf die Schulter: »Bitte entschuldigt, dass ich euch für Verbrecher hielt: Aber meine Frau ist manchmal ganz schön verwirrt. Und dann redet sie wirres Zeug und schreit wirres Zeug. So ist das halt mit uns Alten.« Dann wurde sein spindeldürrer Körper vom nächsten Hustenanfall durchgeschüttelt. Er putzte sich die Nase, richtete sich auf und küsste seine Wiltrud auf die Stirn: »Aber ich würde ihr niemals weh tun.« Leonie wollte die spontane Hilfsaktion vorantreiben: »Was meinen sie, Wiltrud? Wollen wir gemeinsam aufstehen, um uns in der Küche eine Honigmilch zu machen? So eine leckere Spezialität vom Land haben meine Freunde noch nie gehabt und würden sich freuen, dies mal zu kosten?« Sie reichte ihr beide Hände, die sie dankbar ergriff und drückte. »Wisst ihr was, Jungs, geht doch schon mal vor, wir kommen gleich nach.« Die drei Herren verliessen den Raum und machten sich auf in die Küche. Wiltrud klagte über Schmerzen am ganzen Körper und sackte immer wieder in die weichen Kissen zurück. Daraufhin schlug Leonie vor, dass sie sich ganz entspannt auf den Rücken legte, und sie sie ganz behutsam auf die eine Seite und dann auf die andere Seite drehte. Dann würde sie ihr schmerzstillenden Tigerbalsam einreiben. Wiltrud war natürlich begeistert. »Vielleicht hätte ich doch besser Pflegewissenschaften studieren sollen«, schoss es ihr durch den Kopf, als sie die zahlreichen wunden Druckstellen entdeckte. »Diese Leute hier sind nicht bloss in einer echten Notsituation, sondern auch echt dankbar.« Die Tür sprang auf und Cem streckte den Kopf herein, fiel fast in Ohnmacht vor Schreck, als er die halbnackte Wiltrud entdeckte, schlug die Tür wieder zu und stammelte durch den Türspalt: »Na, meine Damen? Alles klar bei Euch?« - »Nun, ich fürchte, wir müssen die Honigmilch ein andermal trinken kommen«, rief sie durch den Türspalt. »Wir sind gerade wahnsinnig beschäftigt, warte.« Sie legte Wiltrud auf die rechte Seite zum Fenster in die Kissen zurück und ging vor die Tür. »Dies hier ist echt krass. Sie hat sich am ganzen Körper wundgelegen. Lass uns einen Krankenwagen rufen, damit die beiden endlich mal anständig versorgt und gepflegt werden. Das dies in unserer Gesellschaft noch vorkommt ist nun wirklich ein echtes Armutszeugnis.« Cem nickte und antwortete lächelnd: »Genau das hat Victor gerade eben getan.« Die beiden klatschten ab, der Rettungswagen traf ein und die Brandners waren gerettet.

In diesem Moment erfreuten sich auch noch andere am Naturtrip der drei: »Schaut mal, das sind die aktuellsten Naturbilder meines Sohnemannes, die er soeben auf Facebook hochgeladen hat: Das letzte davon erinnert mich jetzt aber an die Abschlussballparty bei dir zu Hause damals, Lis, als wir die Dorfschule hinter uns liessen«, strahlte Mathea, während sie ihr Handy herumreichte. Sie und ihre drei besten Freundinnen liessen gerade ihre alljährliche Wellnesswoche bei einem Nachtessen in einem der leckersten Restaurants der Stadt ausklingen und warteten auf die Rechnung. Die Ladies waren entzückt: Victors Profilbild war zur Zeit ein tosender Wasserfall, hinter dem man über eine Eisenbrücke von einem Felsenende zum anderen gehen kann! Dann folgte der besagte, aktuellste Post: Ein sanfter üppig grüner Hügel, mit einem unverkennbaren geheimnisvollen, hölzernen Bauernhaus darauf, das auf Anhieb mehr wie eine Hexenvilla anmutet. Daneben der dichte dunkelgrüne Tannenwald, der die Idylle wie ein Schutzwall abgrenzt. Darunter ein heller Kiesweg, auf dem es sich wunderbar walken und joggen lässt. »Schön, dass auch Victor mit seinen Freunden in der Natur auftanken kann«, antwortete Elisabeth mit einem gequälten Lächeln: Denn so wunderschön diese Naturbilder waren, so entsetzlich waren die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, die sie hervorriefen. Sie versuchte verzweifelt, sich nicht anmerken zu lassen, dass sich der Sohnemann ihrer besten Freundin in einer Gegend vergnügt, die sie einfach nur hinter sich lassen und vergessen wollte. »Ist alles okay, Lis? Das ist doch der Hof deiner Eltern?!« Kirsten sah sie mit ihren treuen braunen Rehaugen fürsorglich von der Seite an. »Jetzt wo du's sagst erkenne ich ihn auch wieder«, stiess Elisabeth hervor. »Es ist halt gar lange her, seit wir diese Party geschmissen hatten. Bevor wir in die Stadt zogen, um zu studieren, musste ich den Sommer lang bei der Heuernte helfen, und zwar sieben Tage die Woche.« - »Wieso hast du das uns nicht erzählt, Mensch«, bedauerte Mathea ihre Freundin »wir hätten dir bestimmt alle geholfen.« - »Vielleicht hätten uns meine Eltern gleich alle auf dem Feld abgeholt, damit wir im Sonntagsgottesdienst wenigstens etwas hätten schlafen können«, lachte Jutta, wobei sich ihr kugelrundes Gesicht vor Wonne rötete. »Wann bist du das letzte Mal an diesem schönen Ort gewesen?«, wollte Kirsten wissen. »Das ist leider bereits einige Wochen her, seit ich es mal wieder zu ihnen schaffte.« Elisabeth machte eine Pause und schien zu überlegen. »Es ist auch nicht wirklich einfach, seine Familienangehörigen regelmässig zu sehen, bei unseren Monsterpensen als Chirurginnen.« - »Kommen die beiden noch gut alleine zurecht in diesem grossen Haus?«, bohrte Jutta als erste weiter. »Als wir sie damals vor ewig langer Zeit an unserer weitherum bekannten Schulabschlussparty das einzige Mal sahen, machten sie mir einen sehr zähen, bodenständigen Eindruck«, plauderte Mathea weiter. »Sie kam gar nicht aus dem Schwärmen über ihren Alltag als Bauernfrau heraus.« - »Da hast du allerdings Recht. Ohne ihre Zähigkeit hätten sie die ganze Arbeit nicht stemmen können. Das hat den Vorteil, dass sie in ihrem hohen Alter noch geistig und körperlich fit genug sind, um dort alleine leben zu können. Die Leiterin des örtlichen Hauspflegedienstes erzählte mir neulich, wie sie und ihre Mitarbeiterinnen jede Woche mit einem leckeren Stück Kuchen empfangen werden, wenn sie den beiden die Wocheneinkäufe bringen, um nach ihnen zu schauen.« Mathea runzelte die Stirn: »Wollte diese Aufgabe nicht deine jüngere Schwester übernehmen? Die lebt doch seit Ewigkeiten in derselben Gemeinde und arbeitet halbtags?« - »Doch, das hat sie eine Zeit lang bestimmt grossartig gemacht«, lächelte Elisabeth zerknirscht, »aber sie soll sich dermassen daneben aufgeführt haben, dass sie von ihrem Robert rausgeschmissen wurde. So jedenfalls erzählte es mir ihre Nachbarin, als ich sie das letzte Mal besuchen wollte und sie nicht da war.« Kirsten lachte auf: »Ich werde nie vergessen, wie wir alle vier irgendwann vor unserer Abschlussparty mal bei dir übernachteten, Lis: Sie meinte doch tatsächlich, sie könne sich ein Laken über den Körper werfen, einen auf Gespenst machen, und uns damit erschrecken.« Jutta lief der Sekt vor Lachen zur Nase raus: »Oh ja, das war was: Wir waren mucksmäuschenstill und sahen ihr oben vom Heuboden aus zu, wie sie durch den Stall geisterte und dabei über ihren Umhang stolperte.....« - »....und als sie sich dann doch noch dazu durchgerungen hatte, hoch auf den Heuboden zu kommen, schrie ich dermassen laut Buh, dass sie vor Schreck die Laterne fallen liess«, vervollständigte Kirsten den witzigen Part der Erzählung. »Weil ich in dieser Nacht mit sowas rechnete, ergriff ich sofort den Feuerlöscher und behob die drohende Katastrophe«, lächelte Elisabeth. »Unsere Eltern wurden so sauer, dass sie unser Ruthchen einen Monat lang jeden Abend das Geschirr alleine spülen und abtrocknen liessen. Anstatt den Fehler einzusehen und den Geschirrberg schnellstmöglich abzutragen, heulte sie jeweils erst mal eine Stunde lang rum«, schloss sie. »Wenn sie sich bei ihrem Robert, auch so aufgeführt hat, wundert es einen nicht, dass diesem der Geduldsfaden riss«, lästerte Kirsten weiter. Elisabeth lächelte schadenfroh. »Das ist nicht alles, was ich von meinem Schwesterlein erfahren habe: Denn dieselbe Nachbarin erzählte mir noch, dass sie daraufhin ans andere Ende des Landes ziehen wollte. Sie habe das alleinige Sorgerecht für ihre extrem schwierige Tochter und werde diese zur Adoption freigeben. Und dass obwohl das Mädchen bereits dreizehn Jahre alt ist.« - »Soso«, lästerte Kirsten »hat sie sich dort etwa den nächsten anlachen und vor der Pubertät ihrer Tochter davonlaufen wollen?«, schloss sie lachend, während der Kellner einkassierte und sie sich auf den Heimweg machten.

Elisabeth liefen die Tränen runter, als sie die paar Meter alleine nach Hause ging: Obwohl es nun so ungefähr neun Jahre her war, seit sie das letzte Mal etwas von ihrer Herkunftsfamilie hörte, schmerzte diese längst vergangene letzte Begegnung immer noch. Weil sie dieser jedoch keinen Raum geben wollte in ihrem gegenwärtigen Leben, wusste sie sich in diesem Augenblick nicht anders zu helfen, als schadenfrohe Lügengeschichten aufzutischen. »Es ist nicht nötig, dass ich meine Freunde oder sonst jemanden mit der für sie völlig irrelevanten Wahrheit belaste«, rechtfertigte sie sich vor sich selbst. Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass es nun über zwanzig Jahre her ist, seit sie ihre einzige Schwester das letzte Mal sah. An diesem Tag war sie auf den Bauernhof gefahren und hatte für diesen besonderen Besuch sogar eine Schwarzwäldertorte besorgt. Der Zufall hatte es so gewollt, dass ihre Schwester auch da gewesen war und tränenüberströmt erzählt hatte, dass sie einfach nicht schwanger würde. Noch bevor sie ihrer Familie voller Stolz erzählt hatte, dass sie nun approbierte Ärztin sei und ihr die Arbeit als frischgebackene Assistenzärztin in der Chirurgie sehr viel Spass bereitete, hatte sie ihre Schwester deshalb zu trösten und aufzumuntern versucht. Darum hatte sie keine Ahnung, ob irgendwo auf dieser Welt Nichten oder Neffen von ihr sind, die ihr vielleicht sogar ähnelten.

Inzwischen hatte Leonie ihrer Familie von diesem unvergesslichen Outdoortrip vorgeschwärmt. Ihr kleiner Cousin Svennie und seine jüngere Schwester Chantal kriegten den Mund vor Staunen nicht mehr zu. Sogar Tante Elisabeth nickte dieses Mal anerkennend und verzichtete an diesem Abend auf ihre Mithilfe im Haushalt. So überglücklich wie sie an diesem Abend ins Bett fiel, so hundeelend fühlte sich ihr Körper plötzlich an. Die Rückenschmerzen, die sie aufs falsche Mobilisieren von Frau Brandner zurückführte, wurden so schlimm, dass sie sich entschied, eine Dafalgantablette einzuschmeissen. Schweissgebadet taumelte sie ins Bad. Dabei war ihr so schwindelig, dass sie sich unterwegs hinsetzen und eine Pause einlegen musste. »Kann man dir helfen, Leonie?«, beugte sich Onkel Richard zu ihr runter. Weil sie vor Übelkeit und Schmerzen nur stöhnen konnte, blieb sie auf dem Boden sitzen und wartete, bis er mit einem Glas Wasser und einer Dafalgantablette zurückkam. »Gut, dass ihr diesen Outdoortrip nicht kurz vor Unibeginn geplant habt, was?«, strich er seiner Nichte übers Haar und stütze sie auf dem Weg zurück ins Bett, nachdem diese ihre Tablette geschluckt hatte.

In derselben Nacht zogen noch zwei weitere Abenteurerinnen eine ihrer Gerechtigkeitsaktionen durch: Tina hätte am liebsten gekreischt vor Vergnügen, als Tati das Türschloss wie ein Profi aufbrach. »Siehst du, allerspätestens jetzt hat sich deine Schlosserlehre doch noch gelohnt«, klopfte sie ihrer Freundin anerkennend auf die Schulter. »Zu meinem perfekten Glück müssen sie jetzt nur noch lange genug ausgeschwärmt sein, los, los, los, bevor uns doch noch jemand sieht«, schob Tati sie ins Büro des mobilen Pflegedienstes Bestcare. Dieses Büro ist so übersichtlich strukturiert und tadellos aufgeräumt, damit sich neue Mitarbeiter schnellstmöglich zurechtfinden. Deshalb fanden auch Tati und Tina innert weniger Minuten, wonach sie suchten: Während Tina allerhand Personal- und Patientendaten auf ihren Memorystick lud, behielt Tati den Eingangsbereich im Auge. »Ist die Luft noch rein?«, flüsterte Tina, während sie den PC wieder runterfuhr. Tati gab grünes Licht und sie plünderte die Kaffeekasse. »Schon irgendwie blöd, wenn man Opfer wird vom eigenen positiven Menschenbild, was«, lächelte sie, als sie auf ihren Fahrrädern davonbrausten.

Zu Hause angekommen, setzten sie sich vor ihren Laptop und begannen, ihre Beute gleich auszuwerten. »Bist du sicher, dass du sie vernichten willst«, fragte Tina, als sie sich als erstes die Personaldossiers vorknöpften. »Es sieht immerhin so aus, als hätten sie dazugelernt und der Ex deines Verstorbenen fristlos gekündigt.« Tati schluckte und schwieg einen Augenblick lang. »Lass uns weitersuchen. Ich fühle einfach, dass es für uns noch etwas zu erledigen gibt und wir unseren Arsch heute nicht umsonst riskiert haben. ̋ Nach einer Flasche Bier mit einer Tüte Chips machten sie mit ihrer Datenauswertung weiter. »Es ist doch immerhin tröstlich zu wissen, dass dein Verstorbener offenbar ein tragischer Einzelfall war, findest du nicht?« Tatis blasses Gesicht zeigte plötzlich ihre ganze Müdigkeit: »Du kennst mich doch. Ich kann mit einer Sache erst abschliessen, wenn ich ihr auf den Grund gegangen bin. Zweitens finde ich genau solche Einzelfälle am fiesesten: Da werden einzelne Menschen für völlig kranke und perverse Gewaltfantasien benutzt, die sich nicht wehren können. Gerade weil es ˃nur˂« ,bei diesem Wort symbolisierte sie mit beiden Zeige- und Mittelfingern Anführungszeichen »Einzelfälle sind, kriegen andere diese hässliche Seite gar nicht mit und können sie nicht verurteilen- geschweige denn etwas dagegen unternehmen.« Sie machte eine Pause und wäre am liebsten schlafen gegangen. »Lass uns dieses Ding zu Ende bringen.«

»Na, habe ich dir zu viel versprochen?«, gähnte Tati, als sie die letzte Patientenakte aus dem Archiv durcharbeiteten und in Tinas hellwaches begeistertes Gesicht blickte. »Schau! Wenn das nichts für uns ist, dann weiss ich auch nicht mehr weiter! Da geht es um zwei uralte Leute und ihre beiden Töchter: Da schreibt die eine Tochter in einem eingeschriebenen Brief, dass sie, die Ruth Buschke-Brandner, die Pflege ihrer Eltern nun gemeinsam mit ihrer Schwester, der Elisabeth Brandner stemmen würde und die Hilfe des Pflegedienstes nun nicht mehr bräuchte. Und zwar hätte sie genau aus diesem Grund ihren Job als Pflegefachfrau gekündigt und ihre Schwester, würde auch nur noch halbtags arbeiten.« Sie hielt ihr das Schriftstück mitten unter die Nase und Tati verstand immer noch nicht, weshalb ausgerechnet diese letzte Akte ein Fall für sie sein sollte. »Kann es sein, dass du dies alles nur aus purer Langeweile machst, um keine Bewerbungen schreiben zu müssen?«, versuchte sie ihre Freundin zu bremsen. »Nein! Ich mache dies, um die Zeit möglichst sinnvoll totzuschlagen, das weisst du ganz genau!« Sie liess Tati kurz durchatmen, bevor sie fortfuhr: »Schau: Der erste Grund, weshalb mir die Nackenhaare zu Berge stehen, ist die Tatsache, dass die eine Schwester immer in der Ich-Form schreibt: Ich meine, wenn man zu zweit einen Brief schreibt, heisst es doch immer ˃wir˂ , oder?« Tina war so in ihrem Element, dass sie erst jetzt zu realisieren begann, wie fertig ihre Freundin war. »Was ist überhaupt mit dir los?«, versorgte sie sie mit einem Glas Wasser. Tati lief eine Träne runter, worauf Tina ihr sofort ein Taschentuch reichte und den Arm um sie legte: »Du hast ja Recht. Schliesslich war es meine Idee. Aber die Erinnerung tut einfach zu weh.« - »Versehe, verstehe«, nickte Tina, wobei ihre Stimme wieder sanft und weich wurde »das tönt nicht nur wie der Refrain eines Liebeskummersongs, sondern fühlt sich auch so an.« Sie sassen einfach nur da und schwiegen. Einen Augenblick später war Tati eingeschlafen. Sie sah sich den Brief, den sie Tati vorhin unter die Nase hielt nochmals genau an und überlegte: Die Unterschriften der beiden Schwestern auf diesem Brief sahen wirklich beinahe gleich aus. Tina kam es vor, als hätte diese Ruth Buschke-Brandner einmal für sich selbst und einmal für ihre Schwester gleich mit unterzeichnet- ohne diese zu fragen. Sie hatte auch schon von Seelenverwandtschaften gehört, die zwei Menschen dieselbe Schrift und Unterschrift haben liess. Wenn sich diese beiden Schwestern jedoch überhaupt nicht nahe standen, eine der beiden Unterschriften gefälscht war und der Brief der Schlüssel zu einem Verbrechen war, könnte sie es sich niemals verzeihen, der Sache nicht auf den Grund gegangen zu sein. Deshalb recherchierte sie weiter und stellte fest, dass es zu den ehemaligen Patienten, zu Wiltrud und Wilfried Brandner noch keine Todesanzeigen gab. Und so schwor sie sich, ihre Freundin zu überreden, gemeinsam mit ihr herauszufinden, ob das Versprechen dieses Briefes eingehalten wird.

»Ich habe nie an deinem Instinkt gezweifelt«, strahlte Tati, als sie beide am nächsten Tag von der Mittagssonne geweckt wurden. »Aber das es gleich eine Aktion sein wird, die sich von der Romanze zum Drama in drei Akten entwickeln kann, hätte ich natürlich niemals erwartet.« Die beiden stärkten sich mit einer Pfanne voll Rührei mit Speck, gingen sämtliche Akten durch, besprachen ihre Vorgehensweise und machten sich auf den Weg. »Dass es in unserem Dorf auch Drehorte für Gruselfilme gibt, hätte ich niemals erwartet«, kicherte Tina, als sie an ihrem nächsten Wirkungsort, wie sie es so schön nannten, ankamen. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir bereits in unserem ganz eigenen Gruselfilm stecken«, meinte Tati, als sich die knarrende Haustür zu dieser geheimnisvollen »Hexenvilla« ohne weiteres öffnen liess. Schockiert schritten sie durch den meterhoch gestapelten Müll und stellten fest, dass ihnen jemand zuvorgekommen sein musste und die Brandners aus ihrem Elend befreit waren- auf welche Art und Weise auch immer.

So unbeschwert und entspannend die Wellnesswoche war, so niederschmetternd wurde Dr. Elisabeth Brandner vom Alltag empfangen und wieder in Beschlag genommen. Sie hatte es gerade eben geschafft, nach einer anstrengenden Schicht im Operationsaal nach Hause zu gehen, um als erstes ein kühles Bad zu nehmen. Nun genoss sie auf dem Balkon ihrer Zweieinhalbzimmerwohnung die etwas weniger heisse Nachtluft, die von zirpenden Grillen erfüllt war und versorgte ihre zahlreichen Blumenstöcke mit Wasser. Sie trug ihren schwarzen, mit bunten Blumen bedruckten Feierabendoverall, legte sich seitlich mit ausgestreckten Beinen aufs Gartensofa und stöberte durch ihr Samsung PC-Tablet. Die hellsten Strähnchen ihrer pfiffigen naturblonden Kurzhaarfrisur leuchteten in der Abendsonne wie pures Gold. In dieser Position auf dem hellen Sofa, kamen ihre gertenschlanke Figur und ihre tiefbraune Haut so wunderbar zur Geltung, dass sie dem Nachbarn gegenüber als Model für ein Gemälde hätte dienen können. Nachdem sie eine ganze Weile lang Fotos vom vergangenen Urlaub angesehen und in den schönsten Erinnerungen geschwelgt hatte, checkte sie ihre Mails. Inmitten der zahlreichen Newsletter und einigen »wir wünschen dir nach den Ferien einen guten Start«- Messages, war da doch tatsächlich eine Nachricht der Sozialbehörden. Ihr wurde beinahe schwarz vor Augen, als sie diese anklickte: »Sehr geehrte Frau Dr. Brandner«, stand da. »Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ihre Eltern, Frau Wiltrud Brandner-Schmitz, geb. am 4. Juni 1936 in Köln und Herr Wilfried Brandner-Schmitz, geb. am 1. Mai 1921, in Köln, in einem völlig verwahrlosten Zustand hospitalisiert und behandelt werden mussten. Im Anschluss an den rund 24-stündigen Krankenhausaufenthalt, verlegten wir die beiden in ein Alters- und Pflegeheim, deren Adresse sie auf der beigelegten Eintrittsrechnung Juli 2015 finden. Dürfen wir Sie daher bitten, zum einen umgehend mit uns Kontakt aufzunehmen und zum anderen, beiliegende Rechnungen zu bezahlen? Für weitere Fragen stehen wir Ihnen jederzeit gerne zur Verfügung.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf, während sie feststellte, dass ihre Eltern in der luxuriösesten Pflegeeinrichtung der Stadt untergebracht worden waren. Sie goss sich ein weiteres Glas Mineralwasser ein und begann, diese Message zu verarbeiten. Dabei merkte sie gar nicht, wie die Zeit an ihr vorbeiraste. Weil es schliesslich schon fast Mitternacht war, traute sie sich nicht, irgendjemanden anzurufen. Also sass sie einfach nur da und liess ihre Gedanken kreisen: »Dass meine kleine Schwester, die immer bevorzugt wurde, nicht ebenfalls zur Kasse gebeten werden kann, ist mal wieder typisch«, bemitleidete sie sich selbst, während ihr die Tränen runter liefen. Ihre Traurigkeit wurde nicht besser, als sie die Nachtrichtenapps anklickte und die vielen schrecklichen Bilder von Flüchtlingskindern in heillos überfüllten Schlepperbooten sah. In diesem Augenblick klingelte ihr Handy. »Hallo Mathea? Ist bei dir alles in Ordnung?«, weinte sie. »Habe ich es mal wieder geahnt, dass du eine Krise hast, meine Liebe?«, tönte es am anderen Ende. »Ich habe bloss aus einem unguten Gefühl heraus gedacht, ich schaue mal nach dir und rufe dich an. Was ist denn bloss los? Sind es die zahlreichen Überstunden oder gibt's vielleicht doch eine Hiobsbotschaft?« Sie schämte sich, dass sie noch keine zehn Sekunden vorher in Selbstmitleid über ihre Luxusprobleme badete. »Nein, nein«, meinte sie, während sie die restlichen Tränen runterschluckte. »Mir macht bloss der Wechsel von unserem genialen Wellnesstrip zum Alltag mehr zu schaffen als sonst. Ausserdem bin ich bereits jetzt wieder todmüde und habe mir gerade eben das Flüchtlingselend angesehen. Vielleicht sollten Jutta und ich uns bei Ärzte ohne Grenzen melden und dich und Kirsten als unsere engsten Vertrauten und Ratgeberinnen mitnehmen.« Mathea lachte am anderen Ende: »Ich würde ja sofort mitkommen, wenn ich selbst Ärztin wäre. Aber in der hiesigen Caritas kann man sich auch wunderbar einbringen.« Sie kam regelrecht ins Schwärmen von ihren Erlebnissen. »Stell dir vor. Als ich heute Nachmittag Wasserflaschen verteilte, wollte mich ein kleines Baby sogar auf die Wange küssen, als ich ihm die tränennassen Wangen trocknete. Seine anderen beiden Geschwister nahmen mich an bei der Hand und hätten mich am liebsten nie wieder losgelassen.«

Trotz ihrer bleiernen Müdigkeit, fand Elisabeth in der darauffolgenden Nacht keinen Schlaf. Ihr Magen schmerze, als ob ihr jemand mit voller Wucht da rein geboxt und seine Faust bis nach hinten an die Wirbelsäule gepresst hätte. Sie stand auf und machte sich ein entspannendes Magnesiumgetränk, das wirkungslos blieb. Sie öffnete den Glasschrank zu ihrer Hausbar und liess ihr Blick über die vielen flüssigen Leckereien schweifen, die sie nur zu besonderen Anlässen ihren Freunden auftischte- und manchmal selbst gar nicht mittrank. Sie schlug die Schranktür dermassen heftig zu, dass sie beinahe zerbrochen wäre. Dann ergriff sie das PC-Tablet und beantwortete das Schreiben, der Sozialbehörden: »Sehr geehrte Damen und Herren, für die umgehende Information danke ich Ihnen bestens. Weil mir meine Schwester Ruth im Namen meiner Eltern den Kontakt zu ihr und ihnen bereits vor Jahren untersagt hat, lasse ich mich nicht in Betreuungs- oder Unterstützungshandlungen involvieren. Das bedeutet für Ihre Behörde, dass Ihre Zahlungsaufforderungen höchstwahrscheinlich rechtmässig, aber vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet, zu verwerflich sind, um ausgeführt zu werden. Aus diesem Grund werde ich weitere Kontaktaufnahmen von Ihrer Seite konsequent ignorieren. Besten Dank für Ihre Kenntnisnahme. Dr. Elisabeth Brandner.« Dann öffnete sie den Ordner »Vergangenes« und holte daraus die bitterbösen Briefe ihrer Schwester hervor, aus denen das vorliegende Kontaktverbot hervorgeht. Um sicherzugehen, dass sie auch wirklich das richtige Dokument hervorgeholt hat, scrollte sie unten an die Seite. Da war doch tatsächlich der Schlusssatz »Auf Nimmerwiedersehen, deine dich verachtende Schwester Ruth, mit Mama und Papa.« Ihre Eltern hatten dieselben bitterbösen Briefe unterhalb ihrer Bezeichnungen eigenhändig unterschrieben. Unter Tränen hängte sie diese Schriftstücke ihrer Antwortmail an. Nachdem sie ihr Werk vollbracht, nochmals durchgelesen und geschickt hatte, legte sie sich ins Bett zurück und schlief sofort ein- ohne jegliche körperliche Schmerzen oder sonstige körperliche Beschwerden. In der Morgendämmerung wachte sie jedoch nochmals tränenüberströmt auf, weil diese ganzen Erlebnisse einen furchtbaren realen Albtraum in ihr ausgelöst hatten.

Glücklicherweise hatte Dr. Elisabeth Brandner am nächsten Tag Spätschicht, konnte etwas länger schlafen als sonst und auf ihrem herrlichen Balkon eine Quattrostagionipizza als Frühstück schlemmen. Es kam ihr vor, als ob jeder einzelne Sonnenstrahl tief in ihr Herz scheinen und dort jede Träne der vergangenen Nacht trocknen konnte. Genüsslich liess sie ihren Blick über ihre vielen Blumentopfe mit allerlei bunten Tulpen und Rosen schweifen und entdeckte dabei sogar einen Zitronenfalter- und einen Schwalbenschwanzschmetterling, die sich auf diesen niederliessen. Als sie alles bis auf den letzten Bissen vertilgt hatte, und gerade dabei war, den Geschirrspüler einzuräumen, klingelte es an der Tür. Sie freute sich schon, eines ihrer langersehnten Kleiderpakete in Empfang zu nehmen und staunte daher nicht schlecht, als zwei wildfremde, geschmackvoll gekleidete Damen mit bitterernstem Blick vor der Haupteingangstür ihres Mehrfamilienhauses standen. Die bedeutend jüngere von Ihnen, stellte sich als Sozialarbeiterin und Verfasserin der gestrigen schockierenden Nachricht vor und die andere gab an, im Bezug auf Elisabeths Eltern, als Juristin für die Sozialbehörde tätig zu sein. Elisabeth fühlte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte und wieder höllisch zu Schmerzen begann. Sie war dermassen damit beschäftigt, die Fassung zu bewahren, dass sie sich die Namen der beiden Damen nicht merken konnte. »Wir haben Ihre Antwort auf unsere Nachricht erhalten, Frau Dr. Brandner und können diese nicht einfach so stehen lassen. Ausserdem wollen wir Ihnen in aller Ruhe die Möglichkeit bieten, uns Ihre Verweigerungshaltung zu erklären und gegebenenfalls zu belegen.« Elisabeth begann innerlich zu schäumen vor Zorn: »Mit dem schriftlichen Kontaktverbot meiner Schwester Ruth habe ich Ihnen schon alles nötige belegt und bin meinen Eltern keinen Elternunterhalt schuldig mehr«, schnaubte sie. »Warum meine Schwester mit mir nichts mehr zu tun haben will, weiss ich nicht. Ausserdem bin ich Chirurgin an einer renommierten Privatklinik und muss in einer Viertelstunde zur Arbeit. Wenn sie mich nun entschuldigen würden?!« Sie liess die beiden Damen einfach stehen und zog die Glastür hinter sich zu. Es begann ihr einmal mehr schwarz zu werden vor Augen und sie versuchte taumelnd, das kurze Treppenstück bis zum Lift im ersten Zwischengeschoss zu nehmen. Die beiden Damen vom Sozialamt entschieden sich, abzuwarten, als sie sahen, wie Elisabeth umkippte und von einer zufällig herbeigeeilten Nachbarin erstversorgt wurde. Diese Nachbarin legte geistesgegenwärtig den deinen Arm um Elisabeths Rücken, ergriff sie mit der freien Hand unter der einen Schulter und liess sie langsam auf den Boden gleiten. Dann drehte sie ihren leeren Wäschekorb um, damit sie ihre Beine hochlagern konnte. Mitterlweile bekamen auch die drei kleinen Kinder dieser hilfsbereiten Mittdreissigerin in dunklem Jeansminirock und hellgrünem Spaghettiträgertop mit, was im Treppenhaus vor sich ging. Die Älteste von ihnen öffnete den wie wild klopfenden, lächelnden und freundlich gestikulierenden Damen vom Sozialamt die Haupteingangstür. Ihre beiden jüngeren Brüder blieben stehen und beobachteten das Ganze aus sicherer Entfernung. »Ganz ruhig. Sind Sie sicher, dass Sie nicht gleich selbst mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus wollen, Frau Brandner«, lächelte die Nachbarin erleichtert, als Elisabeth die Augen aufschlug und sich völlig im selben Moment wieder aufrichten wollte. Elisabeth verneinte lächelnd und wäre am liebsten im Boden versunken vor Scham. Sie sah auf die Uhr und stellte fest, dass sie auf der Arbeit bereits eine Viertelstunde zu spät war. Umso dreister fand sie es, dass ihr die beiden Damen vom Sozialamt alle Zeit der Welt liessen, um sich aufzurichten und sie in ihre Wohnung zurückbegleiteten, anstatt einfach ein andermal wiederzukommen. Sie bedankte sich bei der hilfsbereiten Nachbarin und taumelte mit den beiden im Schlepptau zurück in die Wohnung. Sie hatte keine Kraft mehr, diesen Überraschungsbesuch freundlich weg zu bitten und befürchtete, gleich wieder ohnmächtig zu werden, wenn sie sich nicht sofort auf einem Küchenstuhl niederliess. Sie bat die beiden, ihr gegenüber Platz zu nehmen, schnappte sich das Handy auf dem Küchentisch und meldete sich krank. »Wenn es unbedingt sein muss, dann lieber heute als Morgen«, schoss es ihr durch den Kopf, während sie ihre Assistenten und Kollegen instruierte und sich zähneknirschend gute Besserung wünschen liess. Endlich kehrte ihr Humor wieder zurück. »Bitteschön, fahren Sie fort, meine Damen. Kann ich Ihnen vielleicht ein Glas Wasser, einen Kaffee oder ein Glas Limo oder einen eisgekühlten Zitronenliquör namens Limoncello anbieten?« Die beiden Überraschungsgäste verneinten etwas verwundert und kamen auf den Punkt. »Dass es in Ihrer Familie offenbar ungelöste Konflikte gibt, tut uns sehr leid. Nichts desto trotz haben wir heute Morgen ihre Nachricht bekommen und daraufhin zu ihrer Entlastung das Finanzamt kontaktiert«, begann die blutjunge, frischgebackene Sozialarbeiterin. »Dabei stellten wir fest, dass Ihr Einkommen und Ihr Vermögen jegliche Freibeträge überschreiten und Sie deshalb von Gesetzes wegen zu Elternunterhalt verpflichtet sind.« Elisabeth schüttelte ungläubig den Kopf. »Lassen Sie uns doch auf den Balkon gehen, damit Ihnen nicht noch heisser wird«, meinte die Sozialarbeiterin, als sie ihre Schweissperlen auf der Stirn entdeckte. »Machen Sie sich um mich mal keine Sorgen«, grinste Elisabeth entnervt, als sie die Klimaanlage einschaltete und sich der Raum innert weniger Minuten herrlich runter kühlte. »Wollen Sie damit einräumen, dass Sie das Gegenüber zuerst zur Kasse bitten, bevor Sie die Rechtmässigkeit Ihrer Forderungen überprüfen?« - »Bei allem Verständnis für Ihren Frust und bei aller Rücksicht auf ihren jetzigen Gesundheitszustand, Frau Dr. Brandner«, fuhr die Juristin dazwischen. »Gegenseitige Beschuldigungen und Vorwürfe bringen uns nicht weiter. Ausserdem ist es so, dass auf der Homepage ihres Arbeitgebers hervorgeht, dass Sie ein lediges, kinderloses Kadermitglied sind. Zu diesen Angaben kommt man, sobald man ihren Vor- und Nachnamen gegoogelt. Wenn ein Kind für seine unterstützungsbedürftigen Eltern keinen sogenannten Elternunterhalt leisten will, müssen triftige Gründe vorliegen. Darum ist es wichtig, dass Sie mit uns reden, damit wir Ihre familiäre Situation kennen lernen und durchleuchten können.« Die Juristin machte ein Pause, um festzustellen, dass Ihre Worte irgendwie zu Elisabeth durchdrangen. »Nur so besteht die Chance, dass sie vom Elternunterhalt freigesprochen werden. Was also ist passiert damals?« Elisabeth schluckte und blickte zur Fensterfront. Sie hätte jetzt alles dafür gegeben, im Freibad ihre Runden zu drehen, anstatt hier mit ihren schlimmsten Erinnerungen zu schmoren. »Kann es sein, dass man Sie geschlagen oder sexuell missbraucht hat?«, trieb die junge Sozialarbeiterin das Gespräch voran. »Natürlich nicht«, rang Elisabeth um Fassung. »Jedenfalls nicht mehr, als andere Mädchen in diesem Dorf zu dieser Zeit.« Es kostete sie die ganze Kraft, nicht gleich loszuheulen. »Mein Vater hat mich nicht sexuell missbraucht oder vergewaltigt. Ich war nur ein sehr schwieriges Kind, dass seinem damaligen gesellschaftspolitischen Kontext trotzte. Wie Sie bestimmt mitbekommen haben, waren meine Eltern Bauernleute und lebten auf einem Bauernhof. Die Arbeit war für sie sehr hart und anstrengend. Ich und meine Schwester, wir halfen als Schulkinder im Sommer völlig jede freie Minute bei der Heuernte und sehr oft auch bei der Hausarbeit. Im Gegensatz zu meiner Schwester, wusste ich sofort, dass ich nie und nimmer heiraten, Kinder kriegen und Hausfrau werden wollte. Ich zog es vor, für die Schule zu lernen und dort mit meinen Freundinnen und Freunden Spass zu haben.« Die drei Frauen lächelten sich völlig gleichzeitig an. Es war ja nicht so, dass der Frau Dr. Elisabeth Brandner nicht bewusst war, dass auch diese beiden Damen vom Sozialamt nur ihre durchaus ehrenwerte Arbeit machten. Es war bloss so, dass sie ihre ganze vorhandene Kraft zusammenkratzen musste, um auf diese Art und Weise mit ihrer Vergangenheit konfrontiert zu werden- um ein letztes Mal endgültig mit dieser abzuschliessen. »Weil ich als Teenagerin keine Gelegenheit ausliess, um mich vor dieser Hausarbeit zu drücken und frecher denn je geworden war, riss meinem Vater der Geduldsfaden. In dieser Stunde verprügelte er mich das erste und das letzte Mal mit seinem Ledergurt. Als ich das in der Schule meiner besten Freundin erzählte, hatte diese ihre erste Tracht Prügel schon längst hinter sich. Daraus schloss ich, dass Eltern halt nun mal so sind.« Sie leerte ihr Wasserglas und servierte den anderen beiden Damen auch von ihrem selbstkreierten Minzen-Ingwermineralwasser. »Als ich ein Stipendium ergatterte und in die Stadt zog, um zu Studieren, besuchte mich meine Familie genau ein Mal zu Weihnachten im ersten Jahr. Dann sah ich sie alle erst nach dem Studium wieder. Darum war ich bis heute Nachmittag davon überzeugt, ihnen nichts mehr schuldig zu sein.« - »Wie alt waren Sie, als Sie ihr Elternhaus verliessen und in die Stadt zogen?«, erkundigte sich die Sozialarbeiterin. Elisabeth Augen leuchteten. »Sechzehn! Ich hatte einen genialen Lehrer, der mich und noch drei weitere Mädchen aus den umliegenden überschaubaren Dörfern, tatkräftig unterstützte. Wir waren alle hochbegabte Spitzenschülerinnen aus sozial benachteiligten Elternhäusern, wie es heute so schön heisst. Und aus seiner Sicht sollten wir unbedingt gefördert werden. Und so stellte uns ein alter Freund von ihm, ein sehr erfolgreicher Immobilienhai mit sozialem Gewissen, ein Stadtappartement zur Verfügung. Das war, entschuldigen Sie den Ausdruck, die geilste Zeit meines Lebens!« Die beiden Damen nickten anerkennend. »Mal ganz abgesehen vom Finanziellen: Gab es vielleicht trotz den ganzen Zerwürfnissen etwas, womit Ihre Eltern Sie unterstützten, zum Beispiel mit Wäschepaketen oder so?« Elisabeth schüttelte den Kopf. »Nein, das war zum Glück nicht nötig. Wir hatten das Glück, dass im Wohnblock, wo sich unser Appartement befand, ein Hausmeister befand, der sich auch sehr für uns einsetzte. Er konnte seine Frau dazu überreden, uns fleissigen Schülerinnen die Wäsche zu machen und uns hin- und wieder einen leckeren Kuchen zu backen. Als Gegenleistung hüteten wir manchmal ihre beiden kleinen Kinder und waren dank unseren Stipendien, selbstständig....«

Elisabeths Schwärmerei wurde von zwei dumpfen Knallen auf den Balkonboden unterbrochen: In den ersten Sekundenbruchteilen sah es ganz so aus, als ob zwei Profieinbrecherinnen mit Seilen, die sie sich um ihre gertenschlanken Taillen gebunden hatten, vom Hausdach auf Elisabeths Balkon abgeseilt hatten. Die frischgebackene Sozialarbeiterin wollte schon die Polizei rufen, als die beiden jungen Frauen, schätzungsweise Anfang zwanzig, mit langen hochgebundenen Haaren und hübsch überschminkten Gesichtern an die gläserne Terrassentür klopften. »Das ist wohl der Nachteil, wenn die Hausfassade einen brandneuen Anstrich erhält und das ganze Haus mit Gerüsten umstellt ist«, scherzte Elisabeth. In ihren knappen schneeweissen Jeanshorts und dazu passenden bauchfreien Oberteilen, machten die beiden Beautys einen einigermassen harmlosen Eindruck. Als dann der einen noch das riesige Papierplakat mit der Aufschrift »Kommen Sie raus, sonst kommen wir rein- wir wollen nur informiert sein« vom Wind aus der Hand gerissen wurde, lachte das Frauentrio schallend los. »Falls es sich um mehr, als nur um einen originellen Gesprächsversuch handelt, können wir immer noch Hilfe beiziehen«, hielt Elisabeth die Damen vom Sozialamt davon ab, die Polizei zu rufen und liess die beiden herein. »In unserer Privatklinik werden keine Tierversuche durchgeführt.« - »Stellen Sie sich vor«, meinte die Schwarzhaarige. »Uns geht's ausnahmsweise mal nicht um Tier- oder Atomversuche. Heute geht's um ihre ganz persönlichen Angelegenheiten. Wir sorgen dafür, dass möglichst viele Ungerechtigkeiten auf dieser Welt ans Licht kommen.« - »Ist Ihnen beiden eigentlich klar, dass dies Hausfriedensbruch ist, was Sie da machen?«, warf die Sozialarbeiterin ein. »Ach Entschuldigung. Das ist uns bei Ihrer super Erreichbarkeit natürlich glatt entfallen. Wie dem auch sei: Wie kommt es, dass Ihre uralten Eltern spurlos verschwunden sind und ihre Wohnung, also ihr riesiges Haus komplett verdreckt ist - obwohl Sie angeblich gemeinsam mit Ihrer Schwester für sie sorgen?«, genoss die Schwarzhaarige ihren Auftritt. »Hören Sie mal, das geht Sie nun wirklich nichts an. Es ist besser, wenn Sie sich jetzt entschuldigen und gehen, bevor es für uns alle unangenehm wird«, mischte sich die Juristin ein. »Ist schon gut, solange Sie anständig mit uns reden, können wir das ohne weiteres Aufheben klären«, beschwichtigte Elisabeth. »Aber wie um alles in der Welt kommen Sie dazu, sich in meine privatesten Angelegenheiten einzumischen? Noch dazu in längst vergangene Dinge? Wer sind Sie überhaupt?« Die Schwarzhaarige lief zur Hochform auf: »Wir haben keine Personalausweise dabei, weil wir unsere Identitäten geheim halten wollen. Es ist folgendermassen: Ich führte ursprünglich gemeinsam mit meiner besten Freundin einen Rachefeldzug gegen das mobile Pflegeteam namens Bestcaregroup, das in unserer ganzen Kirchgemeinde sein Unwesen zu treiben schien-und das unter dem Vorwand, nur für alles und jeden das Allerbeste zu wollen, versteht sich. Das wäre eigentlich eine ganz gute Sache: Die Pflegerinnen gehen zu dir nach Hause, um dich zu pflegen und du musst zum Beispiel nicht in einem trostlosen Altersheim schmoren. Jetzt ist es aber leider so, dass diese Leute meinen Verlobten in den Tod getrieben haben. Ich denke, wenn ich aufdecke, was die alles verbockt haben, dann ist ihr Ruf ruiniert und ihr Treiben schon sehr bald Geschichte! Gleichzeitig erteile ich Angehörigen wie Ihnen und Ihrer Schwester, die mitgeholfen haben etwas zu verbocken, indem sie nicht hingesehen oder hingehört haben, eine Lektion. So macht der Tod meines Verlobten wenigstens Sinn.« Die Blondine verschränkte die Arme vor der Brust und nickte eifrig. »Sie müssen wissen, ihr Verlobter ist von einem Baugerüst gefallen und sass deshalb vorübergehend im Rollstuhl. Dann ist er im Bad irgendwie hingefallen, brach sich den einen Arm und war deshalb total auf diese Pflegerinnen angewiesen- die ihn dann aber zu Tode quälten.« Sie sah ihre Freundin von der Seite an. »Erzähl weiter«, begann diese zu weinen. »Seine Ex arbeitete auch in dieser Bestcaregroup und suchte sich natürlich ihn als Patient aus. Wie sie das geschafft hat, weiss kein Mensch.« Die Blondine streckte ihren Rücken dermassen durch vor Eifer, dass sie in diesem Augenblick mindestens zwei Zentimeter grösser erschien. »Auf jeden Fall kam sie nie pünktlich, um ihn zum Beispiel auf die Toilette zu bringen. Dann liess sie ihn stundenlang, in seinem, Sie wissen schon, liegen und wusch ihn dann erst, als sie Feierabend hatte- zu Spezialkonditionen, wenn Sie verstehen was ich meine. In seinem Abschiedsbrief schrieb er dann, dass sich diese beinahe kostenlose Feierabendpflege überhaupt nicht nur aufs Waschen, Anziehen und so beschränkte.« Sie machte eine weitere Kunstpause, bevor sie fortfuhr: »Dass alle anderen und vor allem die Chefinnen nichts davon mitbekamen, glauben wir nicht. Immerhin, und das rechnen wir diesem mobilen Pflegedienst hoch an, haben sie die Ex ihres Verlobten fristlos entlassen, als herauskam, was sie ihm angetan hatte. Worüber wir aber nicht hinwegkommen ist, dass sie vom Suizid ihres Verlobten erst durch die Angehörigen an der Beerdigung mitbekamen. Das ist der Grund, weshalb wir ursprünglich einen Rachefeldzug durchziehen wollten und jetzt auf Ihren Fall gestossen sind.«

Die Damen waren sichtlich alle geschockt: »Und warum haben Sie beide dies nicht früher mitbekommen? Dagegen hätten Sie sich wehren können!« unterbrach sie Elisabeth. »Das war ja das Problem an der ganzen Sache. Ich und meine Freundin schmorten im Knast, während mein Verlobter diesen Unfall baute«, begann die Schwarzhaarige weiterzuerzählen. »Ich hatte keine Chance, mich um ihn zu kümmern. Seine Family war von Anfang an gegen unsere Beziehung und hat sich zuerst natürlich auch nicht um ihn gekümmert. Nur weil er seine doofe Ex meinetwegen verliess, wollten die von einem Tag auf den andern nichts mehr mit ihm zu tun haben. Das muss man sich mal vorstellen. Naja, irgendwann hat er diese Quälereien nicht mehr ertragen und sich eines Nachts mit drei Vodkaflaschen zu Tode gesoffen. Er könne einfach nicht mehr, hat er mir in einem Brief geschrieben. Er hat sich natürlich dermassen geschämt, dass er sich nicht getraut hatte, mit jemandem darüber zu reden- ausser eben mit mir.« Elisabeth setzte sich auf: »Das tut mir ja alles sehr leid für Sie und Ihren Verlobten: Aber was genau hat das mit mir und meinen Eltern zu tun?« - »Genau das wollte ich Ihnen gerade erklären. Also: Ausser meiner besten Freundin hier, die ich im Knast kennen lernte, habe ich auf dieser Welt nichts mehr zu verlieren. Ihr geht es ähnlich wie mir. Darum sind wir ins Büro dieser Bitches eingebrochen und haben uns die brisantesten Patienten- und Personalinfos besorgt. Diese Bitches sind so saudumm, dass sie die Passwörter in der Nähe des PC' s aufgeschrieben und miserabel versteckt haben.« Die Blondine nickte strahlend, während ihre Freundin fortfuhr. »Wir luden diese Infos auf einen Stick, raubten die Kaffeekasse leer und hinterliessen ausser einem aufgebrochenen Schloss rein gar nichts. Dass es hier um eine Gerechtigkeitsaktion von uns zwei Gerechtigkeitsaktivistinnen geht, wird uns keine Sau nachweisen können.« Elisabeth wurde langsam ungeduldig: »Ich hätte nichts dagegen, wenn Sie beide mir jetzt endlich verraten könnten, was genau Sie über mich herausgefunden haben!« Die Blondine lenkte mit ihrer sanften Stimme sofort beschwichtigend ein: »Also: So freundlich wie Sie sind, sind Sie höchstwahrscheinlich von Ihrer eigenen Schwester total verarscht worden. Trotzdem gibt es folgende Möglichkeiten: Erstens: Ihre Schwester Ruth hat diesem Pflegedienst einen Brief geschrieben, in dem sie sagt, dass sie ihre Eltern gemeinsam mit Ihnen pflegt und Sie bloss noch Ihre Unterschrift darunter gesetzt haben. Anstatt dieses Versprechen einzulösen, liessen Sie ihre Eltern einfach in ihrem eignen Dreck krepieren. Zweitens: Ihre Schwester gab sich als Sie aus und unterschrieb mit Ihrem Namen: Dass Pflegefachkräfte nicht noch Unterschriften prüfen können, ist auch irgendwie nachvollziehbar«, schloss sie, worauf sie von der Schwarzhaarigen einen vernichtenden Blick erntete.

Elisabeth musste sich auf dem sandbraunen Ledersofa, das perfekt auf die übrige Einrichtung abgestimmt war, hinlegen. »Nun meine Damen«, stöhnte sie vor Übelkeit. »Dass meine Schwester grundsätzlich ein böser und eifersüchtiger Mensch ist, war mir schon klar.« Die beiden Damen vom Sozialamt knieten sich zu ihr nieder, während die beiden Beautys ihren Triumph sichtlich genossen. »Sie war immer die bevorzugte Lieblingstochter meiner Eltern und schien sich gut mit ihnen zu verstehen. Als sie mir dann sogar handschriftlich den Kontakt zu ihnen dreien verbot, war ich überzeugt, dass sie sich um die beiden kümmern wird.« - »Okay Sie Superdetektivinnen«, fuhr die Sozialarbeiterin dazwischen »Haben Sie sich notiert, wann Frau Dr. Brandner und ihre Schwester diesen Brief geschrieben haben sollen?« - »Selbstverständlich nicht«, strahlte die Blondine triumphierend »das war der 1. August 2006, am fünfundzwanzigsten Geburtstag von Bastian Schweinsteiger! Sowas muss ich mir nicht aufschreiben.« Die Blondine lächelte verträumt vor sich hin und die Sozialarbeiterin war geschockt: »War dieses Datum dasjenige des Poststempels, das Datum des Maileingangs oder vielleicht nur das Datum, an dem der Brief geschrieben wurde? Weiss das jemand von euch noch?« Die Schwarzhaarige sah die Blondine ratlos an. »Das war natürlich das Datum von allem: Dass Intelligenzbestien darauf achten, dass alle diese Daten übereinstimmen ist ja wohl klar, oder?« Die Blondine kam aus dem triumphierenden Strahlen nicht mehr heraus. Die Juristin und die Sozialarbeiterin tauschten einen vielsagenden Blick. »Nun, Frau Brandner«, räusperte sich die Juristin als erste: »Das handgeschriebene Kontaktverbot, das Ihre Schwester sowohl in ihrem eigenen, als auch im Namen Ihrer Eltern verfasst hatte, traf genau einen Tag später, also am 2. August 2006 bei Ihnen ein. Es sieht ganz danach aus, dass Ihre Schwester Ihre Unterschrift zu fälschen versucht hat und diese beiden mutigen Damen hier dies rausgefunden haben.« - »Ganz genau«, pflichtete ihr die Schwarzhaarige bei und wandte sich an die Blondine: »Was meinst du? Wollen wir wenigstens unser gemeinsames Pseudonym verraten?« - »Wir sind TnT, schlagkräftig wie Dynamit. Das sind die Anfangsbuchstaben unserer Vornamen«, strahlte Tina. »Sehr originell«, lächelte die Sozialarbeiterin. »Aber warum verraten Sie beide uns nicht Ihre vollständigen Namen? Jetzt wo wir uns einander gegenseitig geöffnet haben?« - »Auch wir haben unsere Datenschutzgründe«, lächelte Tati voller Stolz. »Das ist überhaupt nicht irgendwie gegen Sie gerichtet oder sonst wie böse gemeint. Nehmen Sie das nicht persönlich.« Die Juristin blickte von ihren Notizen auf: »Nun, Frau Brandner: Was Ihre Schwester da fabriziert hat, erfüllt durchaus den Tatbestand der Urkundenfälschung. Da wird wohl einiges auf sie zukommen, das kann ich Ihnen versprechen.«

»Das hoffe ich doch sehr«, begann Elisabeth weiter zu erzählen. »Schon nur für das, was damals passiert ist, möchte ich sie nur allzu gerne bestraft sehen. Meine Eltern sind so eigenwillige Menschen, die mit ihrem Lebensabend im Pflegeheim genug bestraft sind.« Die vier Überraschungsbesucherinnen lächelten sich versöhnlich an und hörten weiter zu: »Ich finde, was damals passiert ist, gehört auch in Ihre Akten, meine Damen. Also: Ich fuhr so ungefähr einen Monat später, nach diesem widerlichen Schriftverkehr, zum Bauernhof meiner Eltern. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich tatsächlich überzeugt, dass meine kleine Schwester die Unterschrift meiner Eltern auf diesem Kontaktverbot gefälscht hatte. Ich malte mir also aus, wie ich diesen gefälschten Brief meinen Eltern zeigen würde und wir drei als wiedervereinte Familie zu meiner Schwester fahren würden, um diese Lüge aufzudecken. Allerspätestens dann wäre ihr mieser Charakter entlarvt gewesen.« Elisabeths Stimme brach. Die Frauenrunde sah sich hilflos und betroffen an. »Wollen Sie vielleicht einen Schluck trinken, bevor Sie zum Krassesten kommen, Frau Doktor?«, legte die Schwarzhaarige fürsorglich den Arm auf ihre Schulter. Ohne eine Antwort abzuwarten, flitzte sie in die Küche, öffnete einen Schrank nach dem anderen und kam schliesslich mit einem Glas Leitungswasser und fünf kleinen Eisbechern zurück. Die anderen lächelten verlegen: »Das ist jetzt doch genau das Richtige, oder?« meinte sie. Bevor sie jemand an die allgemeinen Anstandsregeln ermahnen konnte, pflichtete ihr Elisabeth bei bevor sie fortfuhr: »Anstatt mir zuzuhören, oder zu erklären, weshalb sie dieses Kontaktverbot wollten, hetzten sie ihren Hund auf mich und jagten mich vom Hof. Ihre eigene leibliche älteste Tochter.« Sie brach in Tränen aus. »Und das nur, weil ich offenbar zu einem Wesen herangewachsen bin, dass ihnen überhaupt nicht in den Kram passte. Anstatt ihr verkorkstes, widerliches, ewiggestriges Bild von schulbegeisterten Kindern und Jugendlichen zu hinterfragen, jagten sie mich einfach aus ihrem Leben.« Sie sah in die wohlwollenden Gesichter der Damen vom Sozialamt. »Seit dieser Stunde versuche ich meiner Herkunftsfamilie keinen Raum mehr zu geben in meinem Leben. Ausserdem brauchte ich Jahre bei der Psychotherapeutin, um dieses und andere schreckliche Erlebnisse aufzuarbeiten und meine Vergangenheit zu bewältigen. Als es am schlimmsten war, konnte ich nicht einmal aufs Land fahren, um zu wandern und einfach nur die Natur zu geniessen.« Für einen Moment lang war es andächtig still. Die Sonne brannte ins klimatisierte Wohnzimmer und dieselben bunten Schmetterlinge, die Elisabeth an diesem Tag einen wunderschönen guten Morgen und einen guten Appetit wünschten, liessen sich für eine ganze Weile auf einer ihrer Sonnenblumen nieder. Sie krabbelten dermassen nah und harmonisch beieinander, als hätten sie sich in diesem Sommer frisch verliebt. Plötzlich flogen sie gleichzeitig an die Fensterscheibe, um im selben Moment in Richtung Himmel zu schweben.

Während sich Elisabeth mit den Überraschungsgästen anfreundete und den Tag gemütlich ausklingen liess, befand sich Studentin und Ersatzmama Leonie Krug noch voll im Einsatz. Sie hatte heute den ganzen Tag bei der Caritas geholfen und ihre beiden »kleinen Geschwister«, wie sie die beiden immerzu liebevoll nennt, brauchten auch ihre Hilfe. »Schau Sven, wenn ich hier zehn Kirschen habe und vier wegnehme: Wie viele bleiben dann übrig?« Der Knirps rutschte auf dem Stuhl hin und her, schüttelte den Kopf und begann zu weinen: »Das weiss ich doch nicht.« Leonie setzte sich seufzend neben ihn an den Küchentisch: »Schau. Du musst nur diejenigen Kirschen zählen, die noch da sind, dann weisst du's. Probier nochmals.« Sie wandte sich dem Herd zu, um das Abendessen vorzubereiten, als das Handy klingelte: »Halloechen meine Grosse! Na, kommt ihr zurecht?« Sie verdrehte die Augen: »Hallo Tante Elisabeth: Ja, der Sven rechnet ganz fleissig und die Chantal hat heute eine eins im Deutschtest nach Hause gebracht.« Leonie musste den Hörer etwas vom Ohr nehmen, um keinen Gehörschaden zu erleiden: »Das ist ja grossartig! Stell dir vor: Dein Onkel kann hier dermassen gut abschalten, dass er sogar die Energie hat, aufs Laufband zu gehen.« Sie schluckte die Tränen. Sie fühlte sich auf einmal extrem müde und kratzte das letzte Bisschen Energie zusammen, um nicht loszuheulen. Im selben Augenblick stellte sie erleichtert fest, dass der Svennielein schon längst wieder davon geflitzt war. »Das freut mich so für Euch beide- nach all dem Stress in der Firma habt Ihr Euch das Echt verdient.« Nach ein paar weiteren Freundlichkeiten verabschiedeten sie sich und sie zauberte Svennielein' s Lieblingsgericht auf den Tisch: Spaghetti Bolognese mit extra viel Zwiebeln und Chili. Nach dem gemeinsamen Abendessen ging irgendwann auch im Hause Krug der Tag zu Ende: Leonie legte sich weinend ins Bett und bewunderte dabei die Handyfotos von ihrem letzten freien Campingwochenende: Cem strahlte von einer saftigen grünen Wiese am Waldrand während hinter ihm die gleissende Sonne in einem wunderbaren Morgenrot aufging. Seine vor Begeisterung funkelnden, tiefbraunen Bambiaugen blitzen tief in Leonies Herz hinein, wenn sie dieses Bild bewundert und können dort all ihre Tränen trocknen- bis anhin war ihr auf dieser Welt nichts wärmeres und liebevolleres begegnet. Das letzte Bild zeigte das geheimnisvolle knarrend alte Bauernhaus, aus dem sie gemeinsam mit Cem und Victor das Ehepaar Brandner befreiten: »Die beiden Leutchen hätten sich bestimmt über Nachhilfeunterricht mit Kirschen gefreut in Svens Alter«, grübelte Leonie. »Selbst wenn es eine Stunde weniger Ferien pro Tag bedeutet. Während Svennielein nichts besseres zu tun hat, als sich vor meiner individuellen Lernhilfe zu drücken, um nächsten Monat übellaunig zur Schule zu gehen, sterben tausende Kinder auf der Flucht- ohne jemals die Chance zu haben, mit Esswaren das Einmaleins zu lernen.« Mit diesem Gedanken schlief sie ein.

Die Zufluchtsoase

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