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Bauers Rechtsauffassung

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Wie eingangs erwähnt, war Bauer nicht frei von Widersprüchen. Hinsichtlich der NS-Täter vertrat er eine Rechtsauffassung, die mit seiner volkspädagogischen Konzeption der NSG-Verfahren schwer in Einklang zu bringen war. Bauer zufolge war die »Sach- und Rechtslage« in den Prozessen gegen nationalsozialistische Verbrecher »ungewöhnlich einfach«.43 Historische Gutachten steckten den geschichtlichen Rahmen ab, in dem die Angeklagten gehandelt hatten. Das Gesamtgeschehen, die NS-Judenverfolgung und -vernichtung, war durch die Expertisen der Sachverständigen verhandelbarer Prozessstoff. Urkunden – so Bauer in Verkennung der Beweislage zumindest im Fall des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses –, nicht Zeugen, bewiesen Präsenz und Tatbeteiligung der Angeklagten in den Vernichtungszentren.44 Einer weiteren Wahrheitserforschung bedurfte es nach Bauer nicht. Die Angeklagten waren als Angehörige des Tötungspersonals und somit als Mittäter am Massenmord abzuurteilen. Auf der »4. Arbeitstagung der Leiter der Sonderkommissionen zur Bearbeitung von NS-Gewaltverbrechen« führte Hessens oberster Ankläger wenige Wochen vor Beginn der »Strafsache gegen Mulka u.a.« aus: Der Auschwitz-Prozess könne »in drei bis vier Tagen erledigt sein«. Seine die Tagungsteilnehmer gewiss überraschende Ansicht begründete Bauer folgendermaßen: »Es gab die Wannseekonferenz mit dem Beschluss zur Endlösung der Judenfrage.45 Sämtliche Juden in Deutschland sollten vernichtet werden. Dazu gehörte eine gewisse Maschinerie. Alle, die an dieser Vernichtung bzw. bei der Bedienung der Vernichtungsmaschine mehr oder minder beteiligt waren, werden daher angeklagt wegen Mitwirkung an der ›Endlösung der Judenfrage‹.«46

Die Massenvernichtung in Auschwitz war nach Bauer als eine Tat im Rechtssinne, als natürliche Handlungseinheit, zu betrachten. Seine Auffassung lässt sich wie folgt reformulieren: Wer kausal an dem Gesamtverbrechen (Haupttat) im Wissen um den Zweck der Mordeinrichtung beteiligt war, lässt sich ohne weitere Zurechnung von nachgewiesenen individuellen Tatbeiträgen als Mittäter qualifizieren. Oder: Wer in Auschwitz eine Funktionsstellung im Vernichtungsapparat innehatte, wirkte mit an einer Tat, nämlich an der Tötung derjenigen Menschen, die in der Dienstzeit des jeweiligen Mittäters in Auschwitz umgebracht worden waren.47

Die prozessökonomische Auswirkung seiner Rechtsauffassung hat Bauer hervorgehoben. Im Rückblick auf das Auschwitz-Verfahren, das nach Einschätzung vieler Prozessbeteiligter zu lange gedauert hatte, meinte er: »Die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit trägt bei den sich in aller Regel über viele Monate, ja Jahre erstreckenden Prozessen zur Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren wesentlich bei.«48 Erstaunen muss Bauers Auffassung, hinsichtlich der subjektiven Tatseite seien bei den NS-Angeklagten keine weiteren Nachforschungen anzustellen. Der Nachweis ihrer funktionellen Mitwirkung an den Massenmorden war ihm Beweis genug für die Feststellung, sie hätten allesamt in Übereinstimmung mit den sogenannten Haupttätern gehandelt.

Bauers Konzept des kurzen Prozesses mit NS-Tätern stand ersichtlich im Gegensatz zu seinen volkspädagogischen Intentionen. Da die Verfahren – wie bereits dargelegt – »Schule«49 und »Unterricht«50 sein sollten und Lehren zu erteilen hatten, war die Zeugenschaft der Überlebenden, war die Stimme der Opfer für die intendierte Öffentlichkeitswirkung, für den erhofften Aufklärungseffekt fundamental. Wie wenig kompatibel Bauers Prozesskonzept mit seinem Willen zur Menschenrechtserziehung durch NS-Verfahren, zur Re-Demokratisierung der Deutschen war, ist ihm offenbar bewusst gewesen. Den Widerspruch schien er aber nicht auflösen zu wollen. So meinte er im Rückblick auf das Verfahren gegen Mulka u.a. recht paradox: »Der Auschwitzprozeß war gewiß der bisher längste aller deutschen Schwurgerichtsprozesse, in Wirklichkeit hätte er einer der kürzesten sein können, womit freilich nicht gesagt sein soll, daß dies aus sozialpädagogischen Gründen auch wünschenswert gewesen wäre.«51

Fritz Bauers Erwartungen an die aufklärende Wirkung von NSG-Verfahren waren zu groß. Einen nur bescheidenen Beitrag hat die Strafjustiz zur politischen Bildung leisten können. Fraglos aber haben Verfahren wie der Auschwitz-Prozess bei zeitgeschichtlich interessierten Menschen bleibenden Eindruck hinterlassen. Hinweise auf diese Wirkung finden sich immer wieder in lebensgeschichtlichen Angaben von Personen, die Mitte der sechziger Jahre mit Offenheit und Interesse am Zeitgeschehen teilnahmen. Nicht wenige, die einen von eindrücklichen Aussagen der Opferzeugen geprägten, mithin wirkmächtigen Verhandlungstag besuchten oder sich gute und gründliche Prozessberichterstattung in Presse und Hörfunk52 aneigneten, wurden nachhaltig beeinflusst. Ihnen tat – in Bauers Worten – der Prozess die »historische Wahrheit kund« – eine Wahrheit, die viele Leben veränderte.

1 Fritz Bauer, »Antinazistische Prozesse und politisches Bewußtsein. Dienen NS-Prozesse der politischen Aufklärung?«, in: Antisemitismus. Zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft, hrsg. von Hermann Huss und Andreas Schröder, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1965, S. 169.

2 Fritz Bauer, Die Kriegsverbrecher vor Gericht, mit einem Nachwort von H. F. Pfenninger, Zürich: Europa Verlag, 1945, S. 211. Das Werk ist 1944/45 auch auf Schwedisch und Dänisch erschienen.

3 Ebd.

4 Ebd.

5 Ebd.

6 Fritz Bauer, »Der SS-Staat in Person« (Interview mit Thomas Gnielka), in: Weltbild, Jg. 16, Nr. 3 (13.1.1961), S. 3.

7 Fritz Bauer, »Im Namen des Volkes. Die strafrechtliche Bewältigung der Vergangenheit«, in: Zwanzig Jahre danach. Eine deutsche Bilanz 1945–1965. Achtunddreißig Beiträge deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten, hrsg. von Helmut Hammerschmidt, München: Verlag Kurt Desch, 1965, S. 302; Nachdruck in: Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 1998, S. 78.

8 Fritz Bauer, »Nach den Wurzeln des Bösen fragen«, in: Die Tat vom 7.3.1964, Nr. 10, S. 12.

9 Ebd.

10 Bauer, Humanität, S. 85.

11 Fritz Bauer, »Zu den Nazi-Verbrecher-Prozessen«, Das politische Gespräch, NDR vom 25. u. 28.8.1963, in: Stimme der Gemeinde zum kirchlichen Leben, zur Politik, Wirtschaft und Kultur, Jg. 15 (15.9.1963), H. 18, S. 568 und in: ders., Humanität, S. 110.

12 Fritz Bauer, Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1965, S. 11.

13 Ebd., S. 27.

14 Bauer, Humanität, S. 83.

15 Siehe Fritz Bauer, »Genocidium (Völkermord)«, in: Handwörterbuch der Kriminologie. Bd. I, 2. Aufl., Berlin: Walter de Gruyter, 1965, S. 272 f.; ders., »Wurzeln des Bösen«, S. 12; ders., »Warum Auschwitz-Prozesse?«, in: Neutralität. Kritische Zeitschrift für Kultur und Politik, H. 6–7 (1965), S. 7 ff.; ders., »Antinazistische Prozesse«, S. 176 ff.; ders., »Kriminologie und Prophylaxe des Völkermords«, in: Recht und Politik. Vierteljahreshefte für Rechts- und Verwaltungspolitik, Jg. 3 (1967), H. 3, S. 71 ff.; ders., »Kriminologie des Völkermords«, in: Rechtliche und politische Aspekte der NS-Verbrecherprozesse. Kolloquium mit Peter Schneider u.a. Fünf Vorträge von Fritz Bauer u.a., hrsg. von Peter Schneider und Hermann J. Meyer, Mainz 1968, S. 22 ff.

16 Bauer, »Antinazistische Prozesse«, S. 183.

17 Fritz Bauer, »Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart«, in: Vorgänge. Eine kulturpolitische Korrespondenz, Jg. 7 (1968), H. 8/9, S. 291.

18 Fritz Bauer, »Warum Auschwitz-Prozeß?«, in: Konkret, Nr. 3 (März 1964), S. 12.

19 Bauer, »Wurzeln des Bösen«, S. 12.

20 Bauer, »Namen«, S. 310, und ders., Humanität, S. 85.

21 Fritz Bauer, »Im Mainzer Kulturministerium gilt ein merkwürdiges Geschichtsbild«, in: Frankfurter Rundschau vom 14.7.1962, Nr. 161; ebenso in: ders., Wurzeln, S. 67 f.

22 Bauer, »Antinazistische Prozesse«, S. 173.

23 Bauer, Wurzeln, S. 36.

24 Bauer, Kriegsverbrecher, S. 205.

25 Ebd.

26 Siehe hierzu Vasco Reuss, Zivilcourage als Strafzweck des Völkerstrafrechts. Was bedeutet Positive Generalprävention in der globalen Zivilgesellschaft?, Münster, Berlin. Lit Verlag, 2012.

27 Bauer, »Warum Auschwitz-Prozeß?«, S. 12.

28 Bauer, Humanität, S. 249 ff.

29 Ebd., S. 55 und S. 90.

30 Ebd., S. 57 und S. 82. Siehe aber auch ebd., S. 73.

31 Fritz Bauer, Auf der Suche nach dem Recht, Stuttgart: Franckh’sche Verlagshandlung, 1966, S. 198.

32 Bauer, »Antinazistische Prozesse«, S. 175.

33 Ebd., S. 175 f.

34 Mit Blick auf die Aufgaben eines modernen Kriminalrechts führte Bauer aus: Das Verfahren gegen Völkermörder »dient – spezial- und generalpräventiv – der Konfirmierung der materialen Werte, vor allem der Toleranz, die Völkermord ausschließen, und – spezialpräventiv – der Konformierung der Täter mit ihnen.« (Bauer, »Genocidium«, S. 274, ebenso in: ders., Humanität, S. 74)

35 Fritz Bauer, Alternativen zum politischen Strafrecht, Bad Homburg u.a. 1968, S. 5 f.

36 Amos Elon, In einem heimgesuchten Land. Reise eines israelischen Journalisten in beide deutsche Staaten, München: Kindler Verlag, 1966, S. 376.

37 Fritz Bauer, »Fritz Bauer ist tot« [Auszüge aus Privatbriefen Fritz Bauers an Melitta Wiedemann], in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 19 (1968), H. 8, S. 491.

38 Ebd., S. 491. Siehe auch Günter Blau, »Fritz Bauer †«, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Jg. 51 (1968), H. 7/8, S. 365. – Siehe hierzu auch Klaus Lüderssen, »Der Auschwitz-Prozess – Geschichte und Gegenwart«, in: Heike Jung, Bernd Luxenburger, Eberhard Wahle (Hrsg.), Festschrift für Egon Müller, Baden-Baden: Nomos Verlag, 2008, S. 431 f.

39 So treffend Miloš Vec in seiner Besprechung von Fritz Bauer, Humanität (M. Vec, »Der Gerichtssaal als Klassenzimmer der Nation«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.2.2000, Nr. 28, S. 14).

40 Fritz Bauer, »Die Strafrechtsreform und das heutige Bild vom Menschen«, in: Die deutsche Strafrechtsreform. Zehn Beiträge von Fritz Bauer, Jürgen Baumann, Werner Maihofer und Armand Mergen, hrsg. von Leonhard Reinisch, München: C. H. Beck Verlag, 1967, S. 22.

41 In westdeutschen NSG-Verfahren wurden circa 170 Angeklagte wegen Mordes verurteilt.

42 Michael Stolleis meinte in einem Interview: »[Bauer] lebte auch im Widerspruch: Bauer kämpfte für ein Strafrecht der Prävention und Resozialisierung. Doch diese Ziele passten nicht auf die NS-Täter. Da gab es keine Prävention, keine Warnung vor künftigen Taten, es gab nichts zu resozialisieren. Also blieben der alte Vergeltungsgedanke und das Rätsel der Gerechtigkeit. Doch es gibt keinen Zweifel: Fritz Bauer hat Enormes geleistet.« (Michael Stolleis im Gespräch mit Matthias Arning, in: Frankfurter Rundschau vom 27.1.2009, Nr. 22, F 2)

43 Bauer, Humanität, S. 83.

44 Siehe ebd., S. 108.

45 Zur Wannsee-Konferenz aus der Sicht der heutigen Forschung siehe das grundlegende Sammelwerk von Norbert Kampe und Peter Klein (Hrsg.), Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen, Köln u.a.: Böhlau Verlag, 2013.

46 Protokoll der »4. Arbeitstagung der Leiter der Sonderkommissionen zur Bearbeitung von NS-Gewaltverbrechen« vom 21.10.1963, Protokoll, S. 22 f. (Hess. Hauptstaatsarchiv, Abt. 503, Nr. 1161).

47 Siehe zu Bauers Rechtsauffassung seinen Aufsatz »Ideal- oder Realkonkurrenz bei nationalsozialistischen Verbrechen?«, in: Juristenzeitung, Jg. 22 (1967), Nr. 20, S. 625–628.

48 Ebd., S. 628.

49 Bauer, »Wurzeln des Bösen«, S. 12.

50 Bauer, Humanität, S. 78.

51 Ebd., S. 83.

52 Hervorzuheben sind die Radiosendungen von Axel Eggebrecht (NDR/WDR), der 74 Folgen seiner Sendung »Vergangenheit vor Gericht« (jeweils 15 Min.) und über ein Dutzend »Berichte vom Auschwitz-Prozess« (jeweils 45 Min.) produzierte. Siehe das Hörbuch Aufklärung statt Bewältigung. Tondokumente zur Berichterstattung von Axel Eggebrecht über den ersten Auschwitz-Prozess. Hrsg. Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv DRA, 2011.

Fritz Bauer und das Versagen der Justiz

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