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Bauers Diagnose

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Nach Bauers tiefster Überzeugung gab es »in Deutschland nicht nur den Nazi Hitler und nicht nur den Nazi Himmler. Es gab Hunderttausende, Millionen anderer, die das, was geschehen ist, nicht nur durchgeführt haben, weil es befohlen, sondern weil es ihre eigene Weltanschauung war, zu der sie sich aus freien Stücken bekannt haben. Und die Mehrzahl der SS war nicht bei der SS, weil sie gezwungen war, sondern sie war bei der SS, und sie war bei der Wachmannschaft im Lager Auschwitz und in Treblinka und Ma[j]danek, und die Gestapo war in aller Regel bei den Einsatztruppen [sic], weil die Leute ihren eigenen Nationalsozialismus verwirklichten.«11 Die Deutschen waren für Bauer mithin kein verführtes und irregeleitetes, kein verantwortungsfreies und entschuldigtes Volk. Ihm zufolge war der Nazismus »eine Bewegung im deutschen Volke«12 gewesen, möglich geworden durch Obrigkeitsdenken, Untertanengesinnung, Jasagertum, Kasernenhofmentalität, Gesetzesfrömmigkeit, Staatsvergottung und Machtverherrlichung. Die in den NS-Verbrechen zum Ausdruck gekommenen Einstellungen, Denkweisen und Geistesverfassungen, für Bauer die unbedingt auszureißenden »Wurzeln« des Nationalsozialismus, reichten weit in die Geschichte zurück. Moral und Humanität, Freiheit und Autonomie, Selbstverantwortung und Gewissen waren den Deutschen, die nach Bauer einen verhängnisvollen Sonderweg eingeschlagen hatten, abhanden gekommen. Nicht der Mensch als Ebenbild Gottes – so der bibelfeste Justizjurist – stand im Fokus des Handelns der Deutschen, sondern die seelenlose Sache. Nicht die Menschenwürde war handlungsleitend, Sachanbetung13 bestimmte vielmehr ihr Tun und Lassen. Toleranz, Zivilcourage, Widerständigkeit, Grundrechtssensibilität, Mitmenschlichkeit, Solidarität, Mitleid, Brüderlichkeit und Nächstenliebe galt es sich anzueignen, zu erlernen. Aus seiner Deutung des Nazismus und der konstatierten, aus geteilten Überzeugungen sich konstituierenden Gefolgschaftstreue der Volksgenossen schloss Bauer, die Deutschen seien in strafrechtlicher und tatsächlicher Hinsicht alles andere als ein Volk von Gehilfen gewesen.

Die in NS-Prozessen häufig thematisierte Frage, ob bei den Angeklagten Täterschaft oder Teilnahme vorliege, war nach den Ergebnissen von Bauers Ursachenforschung eindeutig zu beantworten. Die Tatbeteiligten in den Konzentrations- und Vernichtungslagern und die Angehörigen der Einsatzgruppen waren ihm zufolge allesamt eifrige, gläubige Nazis gewesen, hatten sich Hitlers Überzeugungen zu eigen gemacht, den Mord an den europäischen Juden als eigene Tat gewollt, ließen sich mithin strafrechtlich durchweg als Mittäter qualifizieren.14

Bauer entwickelte eine eigene Völkermord-Tätertypologie, die er in mehreren Texten darlegte. Insgesamt fünf Tätertypen machte er aus: Neben den »Fanatikern« und »Gläubigen«, die die Ideologeme der verbrecherischen Staatsführung teilten, unterschied er die »Formalisten« und »Blindgehorsamen«, für die Gesetz Gesetz sowie Befehl Befehl seien, ungeachtet der Frage, ob nicht durch die befohlene Tatausführung übergesetzliche Normen verletzt, menschenrechtswidrige Handlungen ausgeführt, gesetzliches Unrecht praktiziert werden. Weiter führte Bauer als dritte Gruppe die »Nutznießer« und »Opportunisten« an, denen Ideologie und Weltanschauung gleichgültig, das persönliche Fortkommen und die berufliche Karriere hingegen vorrangig seien. Personen, die einer dieser drei Gruppen zuzuordnen waren, erachtete Bauer als Täter bzw. Mittäter. Hinsichtlich der Gruppe der »missbrauchten Werkzeuge«, die unter Befehlszwang und in Befehlsnot handelten, und der fünften Gruppe, der »Mitläufer« und »Zuschauer«, legte Bauer weniger strenge Maßstäbe an. Die befehlsabhängigen Handlanger, die bloßen Instrumente der verbrecherischen Politik, qualifizierte er als Tatbeteiligte, bei denen Milderungsgründe ins Feld zu führen waren. Die Mitglieder der fünften Gruppe waren Bauer zufolge mehr als 15 Jahre nach der Tat strafrechtlich nicht mehr zu belangen.15

Fritz Bauer und das Versagen der Justiz

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