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|7|Einleitung

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Dieses Buch geht auf einen Aufsatz zurück, den ich vor Jahren geschrieben habe.1 Darin habe ich verschiedene Ansätze vorgeschlagen, um eine neue, fundiertere Antwort auf eine Frage zu geben, die politische Entscheidungsträger, Wissenschaftler und viele Menschen seit über 150 Jahren umtreibt: „War oder ist oder wird Russland je ein normales Land?“, wobei mit „normal“ gewöhnlich westlich-demokratisch gemeint ist.2

Der erste Präsident der Russischen Föderation, Boris Jelzin, erklärte 1994: „Wir [Russen] leben in einem normalen Land.“ Er war so entschlossen, diesen Anspruch geltend zu machen, dass er das erste Kapitel seines Buchs Auf des Messers Schneide. Tagebuch des Präsidenten mit „Ein Land wie alle anderen“ überschrieb.3 Zehn Jahre später veröffentlichte der Harvard-Ökonom Andrei Shleifer ein Buch und eine Reihe von Aufsätzen, darunter einen Leitartikel in Foreign Affairs mit dem Titel „Ein normales Land“.4 Darin vertritt er die These, dass das politische und wirtschaftliche System Russlands etwa dem entspreche, was von einem Land in seinem Entwicklungsstadium zu erwarten sei – ein Stadium, das die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) seinerzeit als Schwellenland auf mittlerem Niveau bezeichnete. Die Arbeiten von Andrei Shleifer und Daniel Treisman, Politikwissenschaftler an der University of California, Los Angeles, führten wiederum zu den kritischen Einschätzungen von Peter T. Leeson und William N. Trumbull in Post-Soviet Affairs 2006 sowie zu meiner Bewertung 2007.5

Tatsächlich half mir die Frage, ob Russland ein normales Land sei, meine Überlegungen zur Entwicklung der russischen Politik zu strukturieren. Anhand statistischer Erhebungen habe ich die Russische Föderation mit anderen Staaten verglichen. Doch je weiter das Buch gedieh, umso mehr wurde mir klar, wie leicht die zahlreichen und unterschiedlichen Verwendungen des Begriffs „normal“ in die Irre führen.6 Dementsprechend verwende ich den Begriff „Normalität“ nur dort, wo |8|er für die historische Entwicklung der politischen Systeme Russlands von 1917 bis 2013 relevant und erhellend ist.

Worauf aber spielen führende sowjetische und post-sowjetische russische Persönlichkeiten an, wenn sie sich auf „normale“ politische Systeme beziehen? Wie sich gezeigt hat, tat sich eine fundamentale Kluft auf, allerdings nicht etwa zwischen sowjetischen und post-sowjetischen Personen des öffentlichen Lebens in Russland. Vielmehr trennte diese Kluft jene, die mit „normal“ Stabilität, Sicherheit, das Fehlen von Wandel und oftmals die Einzigartigkeit Russlands meinten, von denen, für die „normal“ eine Entwicklung hin zu einem politischen System implizierte, das ganz oder in Teilen Systemen im Westen gleicht.

Stabilität, Sicherheit und der Erhalt des Status quo waren das, was Gennadi Janajew, Vizepräsident der UdSSR, während des gescheiterten Putsches gegen Michael Gorbatschow im August 1991 im Sinn hatte, als er von der Rückkehr zu einem Normalzustand sprach. Ähnliches schwebt auch Wladimir Putin vor, wenn er von „normal“ spricht, abgesehen von Ausnahmen etwa während der ersten zwei Jahre seiner Präsidentschaft. Zu denjenigen hingegen, die westliche politische Systeme im Sinn hatten, wenn sie von „normalen“ politischen Systemen sprachen, gehören so unterschiedliche Personen des öffentlichen Lebens wie Michael Gorbatschow, Boris Jelzin und der sehr präsente Blogger Alexej Nawalny.

Dennoch hat die Gleichsetzung von „normal“ mit westlichen Systemen führende russische Politiker nicht davon abgehalten, alles zu tun, um den ungewissen Ausgang von Wahlen, der ein zentraler Bestandteil der Wahlsysteme des Westens ist, möglichst zu vermeiden. Ganz im Gegenteil haben auch Gorbatschow und Jelzin ebenso wie Putin zu verschiedenen Tricks gegriffen, um Bedingungen herzustellen, die für autoritäre Systeme typisch sind und den Amtsinhaber „am Wahlabend ruhig schlafen“ lassen.7 Dies ist einer der Gründe, warum die zu Beginn des 21. Jahrhunderts weit verbreitete optimistische Rede von Demokratisierung mit ihren teleologischen Konnotationen zehn Jahre später schon hohl klang. Russland zu diesem Zeitpunkt noch als demokratisches Land zu bezeichnen, war kaum mehr angebracht, wie am Rückwärtstrend bei den Präsidentschaftswahlen von 2000, 2004 und 2008 abzulesen ist.

Wie wir sehen werden, war es für Gorbatschow leicht, die Niederlage anderer Parteifunktionäre bei allgemeinen Wahlen als „normales“ Vorkommnis |9|zu behandeln, nicht jedoch seine eigene. Er selbst wurde nicht von der Gesamtheit der Sowjetbürger, sondern vom Kongress der Volksdeputierten zum Präsidenten gewählt. Um zum Präsidenten gewählt zu werden, musste er die absolute Mehrheit der Kongressmitglieder auf sich vereinen. Ohne Gegenkandidaten erhielt Gorbatschow weniger als sechzig Prozent der abgegebenen Stimmen. Wäre die Sowjetunion nicht 1991 zusammengebrochen, hätte er sich 1995 zur Wahl stellen müssen, um im Amt zu bleiben.

Jelzin brach sein Versprechen, frühe Präsidentschaftswahlen abzuhalten. Er stand kurz davor, die Wahlen 1996 abzusagen, als ihn zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und andere – insbesondere seine Tochter und der Ökonom Anatoli Tschubais – vom Gegenteil überzeugten.

Putin wiederum gelang es, die verfassungsgemäße Obergrenze von zwei aufeinanderfolgenden Amtsperioden auszuhebeln, indem er Dmitri Medwedew 2008 zu seinem Nachfolger im Amt ernannte und selbst Ministerpräsident wurde. Somit war an den Präsidentschaftswahlen 2008 ein „Elektorat“ beteiligt, das lediglich aus ein oder höchstens zwei Personen bestand: aus Putin und Medwedew.

In Anlehnung an Philip Roeder verwende ich auch im Weiteren den Begriff „Elektorat“, um den Personenkreis zu bezeichnen, der die politische Führung bzw. den Machthaber durch festgelegte Verfahren wählt und absetzt.8 Diejenigen, welche die Macht besitzen, durch nichtgesetzliche Maßnahmen wie Kundgebungen und Staatsstreiche die Regierung abzusetzen, bezeichne ich als „Ejektorat“.9

Putins Entscheidung, sich selbst 2012 erneut zum Präsidenten zu wählen und Medwedew zum Ministerpräsidenten zu machen, stieß bei einem Teil der russischen Bürger, insbesondere bei den Moskauern, auf massiven Widerstand. So vehement widersetzte sich die breite Bevölkerung, dass Putin ungefähr einen Monat vor der Wahl im März 2012 einräumte, ihm stehe trotz der Schwäche der Gegenkandidaten möglicherweise eine Stichwahl bevor.

Diese Möglichkeit einer Stichwahl im März 2012 brachte zwei Dinge ans Licht, auf die ich im Laufe des Buches zurückkommen werde. Sie verdeutlicht, wie wenig linear sich die russische Politik von 1917 bis 2013 entwickelt hat: Der Zusammenbruch der Sowjetunion verleitete Autoren zunächst dazu, den Begriff „Demokratisierung“ teleologisch zu konnotieren, nur um später der umgekehrten Versuchung nachzugeben |10|und nach dem demokratischen Rückwärtstrend bei den Präsidentschaftswahlen von 2000, 2004 und 2008 darauf zu schließen, dass die Wahl 2012 noch weniger offen und kompetitiv sein würde als die vorangegangenen.

Um solche Fehlschlüsse zu vermeiden, ist es wichtig, die immanenten Unterschiede des sowjetischen Systems und die entsprechenden immanenten Unterschiede des post-sowjetischen Systems Russlands im Blick zu behalten.10 Dieses Ziel verfolgt auch die Typologie (Tabelle I.1), welche die Dreiteilung von Steven Levitsky und Lucan Way weiterentwickelt.11 In ihrer Analyse verschiedener Regierungsformen seit dem Kalten Krieg unterscheiden diese Autoren zwischen demokratischen, kompetitiv autoritären und solchen Systemen, die sie als „voll autoritär“ bezeichnen; diese drei differenzieren sie anhand des Status von demokratischen Kerninstitutionen, des Status der Opposition und offener Wahlen.

Ich habe eine vierte Spalte mit der Bezeichnung „totalitär mobilisierend“12 hinzugefügt. Mit „mobilisieren“ meine ich grundsätzlich das Ausüben von Druck, um Menschen für Ziele eines Regimes einzuspannen, die sie ansonsten nicht freiwillig verfolgt hätten.13 Diese vierte Spalte erlaubt mir, jene autoritären Systeme mit transformativen Zielen zu berücksichtigen, die weitaus vollständiger autoritär waren als Levitskys und Ways „voll autoritäre“ Systeme. Letztere bezeichne ich mitunter einfach als normale autoritäre Systeme. Hinzugefügt habe ich außerdem zwei Zeilen, wobei eine der Größe des Elektorats – und der Möglichkeit eines Ejektorats – Rechnung trägt, die andere den übergeordneten Zielen des Regimes.

Bei der Konzeption der vierten Spalte habe ich mich stark an Zbigniew K. Brzezinskis Ideology and Power in Soviet Politics14 sowie meine früheren Arbeiten zu Mobilisierungssystemen angelehnt.15 Totalitär mobilisierende Systeme sind solche, in denen das Regime überwunden hat, was Brzezinski als „die natürlichen Hemmnisse“ bezeichnet; hierunter fallen etwa „Verwandtschaftsstrukturen und insbesondere die primäre soziale Einheit, die Familie“16 sowie der Großgesellschaften eigene Pluralismus,17 sowie natürlich die Kerninstitutionen der Demokratie, wobei Letztere entweder nicht vorhanden sind oder lediglich als Fassade dienen.

Die Bürger voll autoritärer Systeme sind nicht nur Repressionen ausgesetzt, sondern sie nehmen auch extranationale Informationsquellen aufmerksam wahr. Regime passen ihre Ziele und Politik den Realitäten |12|von Großgesellschaften, traditionellen Gepflogenheiten und zentralen Werten ihrer Bürger und den Gefahren an, die sie in extranationalen Einflüssen sehen. Totalitäre Systeme wehren sich hartnäckig gegen Einflüsse von außen, indem sie eine autarke Wirtschaftspolitik verfolgen, Menschen mit Verbindungen ins Ausland unterdrücken und entschlossen versuchen, Denken und Verhalten ihrer Bürger zu verändern, anstatt an zentrale Werte der Bürger zu appellieren.


Tabelle 1.118. Regimevergleiche: demokratisch, kompetitiv autoritär, voll autoritär und totalitär mobilisierend

|13|Zwar unterscheidet Tabelle I.1 solche klar abgegrenzten Regimetypen, doch die Realität russischer Politik folgt nicht immer in allen Aspekten einem einzigen Typus. Folglich verlangt dieses formalisierte System nach einer gewissen Flexibilität. In manchen Fällen ist die Zuordnung leicht. Die Sowjetunion von 1937 bis 1938 war eindeutig totalitär und das Russland im Jahr 2008 illustrierte offenkundig, was Levitsky und Way als vollen Autoritarismus bezeichnen. Zu anderen Zeiten sind die Sowjetunion und Russland schwieriger einzuordnen, etwa weil wir ihnen in jenen Jahren aus der Rückschau Merkmale zuschreiben, die sie erst später entwickelten, oder weil sie in den meisten, aber nicht in allen Aspekten einem Typ entsprachen, oder weil sie an der Schwelle zwischen zwei Typen standen, etwa zwischen kompetitivem Autoritarismus und normalem Autoritarismus oder zwischen kompetitivem Autoritarismus und Demokratie. Das hier verwendete Schema liefert nichtsdestotrotz eine Methode, eine komplexe und sich kontinuierlich entwickelnde Geschichte zu strukturieren.

Anhand dieser Kriterien lässt sich nicht beweisen, dass das sowjetische System von Anfang bis Ende totalitär gewesen sei.19 Mein Ansatz unterscheidet sich jedoch auch von dem vieler anderer, die in den 1960er- und 1970er-Jahren den Totalitarismus an sich in Frage stellten.20 Sie hätten sagen sollen, dass die Sowjetunion zu der Zeit, über die sie schrieben, nicht totalitär, sondern vielmehr autoritär gewesen ist. Das allerdings hätte ein Differenzieren erfordert zwischen der Sowjetunion um 1970 und den schrecklichen Jahren 1937 und 1938, in denen das sowjetische System am ehesten als totalitär zu bezeichnen war. Ebenso hätte es erfordert, der glänzenden Forschung zu den Jahren 1937 und 1938 einer Handvoll westlicher und russischer Wissenschaftler (wie Terry Martin, Sheila Fitzpatrick, Peter Solomon und Oleg Khlevniuk)21 Rechnung zu tragen, deren Recherchen in den Sowjetarchiven die Merkmale des stalinistischen Totalitarismus dokumentiert haben – die Atomisierung und Hypermobilisierung der Gesellschaft, |14|die Tiefen des Terrors und das Fehlen von Normen innerhalb der Elite.

Im Laufe der Zeit nahmen diese Merkmale des stalinistischen Totalitarismus allmählich ab. Es entstanden Bereiche der Privatsphäre, der tatsächliche Terror schwächte sich ab (die Bedrohung blieb bestehen), die Zwangsmobilisierung der Gesellschaft ließ nach, innerhalb der Elite entwickelten sich bescheidene, jedoch signifikante Normen. Das totalitär mobilisierende System entwickelte sich schrittweise zu einem konventionelleren (sprich: „vollen“ oder „normalen“) Autoritarismus, weshalb zwei sowjetische Systeme zu unterscheiden sind.

Ebenso schwer haben sich westliche und russische Wissenschaftler damit getan, die postkommunistischen politischen Systeme Russlands zu charakterisieren. So gibt es beispielsweise eine Fülle von Termini für die Mischformen von Demokratie und Diktatur, welche die Russische Föderation um 1996 beschreiben sollen – kompetitiver Autoritarismus (Levitsky und Way)22, Wahldemokratie (Michael McFaul23 in Anlehnung an Adam Przeworski) bzw. ein „teilweise freies“ Land (Freedom House). Die meisten westlichen Experten schlossen sich jedoch der Aussage von Levitsky und Way an, „das Regime Anfang und Mitte der 1990er-Jahre [sei] relativ offen“ gewesen mit „äußerst kompetitiven Wahlen“, einer „Legislative[,die] eine erhebliche Macht ausübte, und privaten Massenmedien …, [die] Jelzin regelmäßig kritisierten und eine Plattform für die Opposition darstellten“.24

Zugleich würden wenige Wissenschaftler die immanenten Veränderungen des politischen Systems Russlands in den rund zwölf Jahren nach den Wahlen 1996 bestreiten. In dieser Zeit rückte man ab von dem, was einmal ein kompetitives System – mit all seinen Schwächen – gewesen war. Stattdessen wurden die Präsidentschaftswahlen in der Zeit nach dem Wahlsieg Jelzins 1996 und dem Jahr 2008, als Dmitri Medwedew zu Putins Nachfolger als Präsident erkoren wurde, immer weniger offen, immer weniger kompetitiv und immer bedeutungsloser. Diese Unterschiede traten um 2010 noch deutlicher hervor, als maßgebliche westliche und russische Wissenschaftler Aufsätze mit Titeln wie „Die Sowjetisierung der russischen Politik“25 publizierten. Gerald Easters These, Russland habe sich im Jahr 2008 zu „einem normalen Polizeistaat“26 entwickelt, war übertrieben. Grigori Golossow lag jedoch nicht falsch, als er die Ernennung von Dmitri Medwedew 2008 zum Nachfolger von Wladimir Putin als „wahlähnliches Ereignis“ beschrieb. Dies |15|war ein wichtiger Grund dafür, weshalb von den 35 Staaten, die Levitsky und Way zwischen 1990 und 1995 als kompetitiv autoritär einordneten, Russland und Weißrussland die beiden Länder waren, die 2008 als „voll autoritär“ eingestuft wurden.27

Zum Aufbau dieses Buches

Im ersten Kapitel beschreibe ich die Entscheidungsfindung der Elite in den drei, vier Jahren unmittelbar nach der Oktoberrevolution, die mit geregelten Abstimmungen innerhalb eines kleinen Elektorats einherging und somit nur wenig mit der hohen sowjetischen Politik der Stalinzeit gemein hatte. Diese Einhaltung von Verfahrensnormen fand vor dem Hintergrund der Unterdrückung nicht-bolschewistischer Parteien statt und löste sich kontinuierlich auf. Was blieb, waren die Institutionen, die in den frühen Jahren nach der Revolution gegründet worden waren und die den stetigen Rückgang des Elektorats in so hohem Maße beförderten, dass mit einigem Recht behauptet werden kann, Stalin selbst habe von der Mitte der 1930er-Jahre an bis zu seinem Tod 1953 in seiner Person das Elektorat dargestellt.

Kapitel 2 schildert erfolgreiche und erfolglose Versuche, die Sowjetbürger in den Jahren zwischen der Oktoberrevolution und dem Zweiten Weltkrieg zu mobilisieren. Was die Beziehungen zwischen Regime und Gesellschaft angeht, so kündigten die anfänglichen Anstrengungen während des Kriegskommunismus und des Bürgerkriegs die schlimmsten Jahre der stalinistischen Herrschaft an und verdeutlichten, inwieweit sich Russland über weite Strecken der Sowjetzeit von dem unterschied, was wir gemeinhin als traditionelle autoritäre Staaten bezeichnen, nämlich Diktaturen, die einen Status quo zementieren. Zu verschiedenen Zeitpunkten in jener Ära verfolgte die russische Führung, anders als traditionelle autoritäre Staaten, transformative Ziele, für die sie ihre Bürger erfolgreich zwangsmobilisierte. Wie wir sehen werden, war das während der Sowjetzeit nicht immer der Fall: Die Geschichte des Zusammenbruchs der Sowjetunion ist über weite Strecken eine von der zunehmenden Unfähigkeit des Regimes, die Bürger für seine Zwecke zu mobilisieren.28

Kapitel 3 beschreibt den steten Verfall der entscheidenden Parteiorgane, des Zentralkomitees und der Parteitage nach dem X. Parteitag 1921. Ungefähr zehn Jahre später, Anfang der 1930er-Jahre, waren Parteitag wie Zentralkomitee bestenfalls auf Elektorats-Status reduziert, das zentrale Entscheidungsgremium war das Politbüro. Wie Kapitel 4 |16|zeigt, hatte dann ab der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre auch die Unterscheidung zwischen Parteimitgliedern, ja sogar zwischen Mitgliedern des Politbüros und der sowjetischen Bevölkerung allgemein jegliche Bedeutung verloren. Es gab praktisch keine Bürger mehr in dem Sinn, wie etwa Bueno de Mesquita den Begriff verwendet. Mit Ausnahme Stalins und einer Handvoll seiner engsten Berater wie Alexander Poskrjobyschew („Stalins treuer Schildträger“) waren alle zu Einwohnern ohne politische Rechte geworden.29

Kapitel 4 konzentriert sich auf die tiefgreifenden Umwälzungen der 1930er-Jahre, die einhergingen mit der Massenmobilisierung der Bürger und dem systematischen Terror gegen Altbolschewiki, Bauern, Geistliche, Nationalitäten mit Bevölkerungsgruppen in und außerhalb der Sowjetunion und somit auch gegen Menschen mit Auslandserfahrung oder zumindest vergleichsweise häufigem Kontakt zu Ausländern.

Kapitel 5 beschreibt die gesellschaftlichen Umwälzungen um 1937, als die Politik einer Elite kaum mehr existierte, als im Grunde Stalin allein das Elektorat bildete und die Mobilisierung der Bürger zu Friedenszeiten am ausgeprägtesten war. Zu dieser Zeit stellten sich die gesellschaftlichen Umwälzungen und die von Stalin vorgegebenen Ziele als kontraproduktiv heraus. Um den sowjetischen Staat und die Bindung der Bürger an diesen Staat zu stärken, ergriff Stalin Maßnahmen, die den tatsächlichen Einsatz von Terror reduzieren und das politische System berechenbarer machen sollten. So kam ein Prozess in Gang, der letztlich zur Stagnation der Breschnew-Ära führte – ein Phänomen, das durch die nachlassende Fähigkeit des Regimes, seine Bürger wirksam zu mobilisieren, durch wachsende Manifestationen von Gruppenartikulationen und feine, aber substanziell wichtige Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Elite gekennzeichnet war.

Darüber hinaus behandelt Kapitel 5 die Zeit nach Stalin, in der unter Nikita Chruschtschow und Leonid Breschnew ein kleines Elektorat politisch wiederauflebte, sich bescheidene Normen innerhalb der Elite entwickelten und die Fähigkeit des Regimes, die Sowjetbürger zu mobilisieren, merklich zurückging. Ohne den systematischen Gebrauch von Terror, ohne den großen Gesellschaftsentwurf, der vor allem für die Ära Stalins kennzeichnend war (teilweise auch für die Ära Chruschtschow), entsprachen die Beziehungen zwischen Regime und Gesellschaft sowie die Interaktionen innerhalb der Elite im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend denen eines normalen autoritären Systems.

|17|Kapitel 6 beschreibt Gorbatschow als systemverändernden politischen Führer.30 Es schildert seine Bemühungen, die Vorbedingungen für ein System mit allgemeinem Wahlrecht zu schaffen, das die für Demokratisierung (und offene Wahlen) charakteristische Ungewissheit mit sich brachte. Seine eigene Macht sicherte Gorbatschow jedoch so lange ab – und dies ist ein typisches Merkmal von Autoritarismus –, bis es ihm gelungen war, die sowjetische Politik umzugestalten, bis Putschisten ihn erfolglos abzusetzen versucht hatten und bis Jelzin sich als dominante politische Kraft in der russischen Politik erwies.

Kapitel 7 schließt sich der Auffassung von Levitsky und Way an, dass die Wahl 1996 nicht demokratisch war. So kompetitiv sie auch war, war sie doch nicht der Meilenstein, der auf weitere Demokratisierung hoffen lassen durfte. Vielmehr war die in Kapitel 8 beschriebene Entwicklung bis 2011 eine Bewegung in die umgekehrte Richtung, die in einer Wahl-Farce gipfelte, welche 2008 die „Salbung“ Dmitri Medwedews zum Präsidenten bestätigte.

Kapitel 9 beschreibt die Entwicklungen, die mit dem Wahlzyklus 2011/12 einhergingen. Erneut kündigten Putin und Medwedew im September 2011 an, dass einer von ihnen für das Amt des Präsidenten kandidieren werde, während der andere Ministerpräsident werden würde. Diesmal würden sie jedoch ihre Rollen tauschen. Die Wahlen zur Duma im Dezember fielen indes anders aus als erwartet. Die offizielle Anzahl der Stimmen für das Einige Russland lag unter fünfzig Prozent, deutlich unter der Zahl, die für eine Verfassungsänderung erforderlich war. Es folgten Großkundgebungen, auf denen gegen Wahlfälschung demonstriert und gegen Putins Präsidentschaftskandidatur agitiert wurde; Wahlreformen schlossen sich an. Ungefähr einen Monat vor den Präsidentschaftswahlen im März herrschte jene Ungewissheit, die mit demokratischen und kompetitiv autoritären Systemen einhergeht, und es war fraglich, ob Putin in der ersten Runde eine Mehrheit erhalten würde. Der Kreml mobilisierte jedoch erfolgreich enorme Ressourcen, um zu vermeiden, dass sich die Erfahrung von Einiges Russland vom Dezember 2011 wiederholte – mit dem Ergebnis, dass Putin im März 2012 in der ersten Runde gewählt wurde. In den darauffolgenden Monaten leiteten Putin und die Mehrheit in der Duma systematisch Schritte ein, um sicherzustellen, dass sich Anti-Putin-Kundgebungen von der Art und Größe der Proteste vor der Wahl nicht wiederholen würden.

|18|Abschließend knüpfe ich an das klare Verständnis vieler Russen, insbesondere der Moskauer, sowie an das von Michael Gorbatschow und Boris Jelzin an, das sowjetische System sei nicht „normal“. Während die Fähigkeit des Systems, die Gesellschaft zu mobilisieren, an Wirksamkeit verlor, deutete alles oben Genannte auf den Wunsch hin, „normal“ zu leben, zhit’ normalno. Übersetzt bedeutete dieser Ausdruck im Allgemeinen „wie ein Europäer leben“, letztlich europäische Institutionen zu übernehmen. Trotz dieser Bestrebungen bleibt im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts offen, ob sich die breite Masse der Bevölkerung nach kurzer Berührung mit echter Teilhabe als „Bürger“ oder doch nur als „Einwohner“ erweisen wird.

Der drastische Rückwärtstrend der Präsidentschaftswahlen 2000, 2004 und 2008 hatte sich im Wahlzyklus 2011/12 eher umgekehrt. Jenem Zyklus fehlten die Merkmale eines voll autoritären Systems, die der Wahlzyklus 2008 noch gezeigt hatte, auch wenn er einige Ähnlichkeit mit einem modernen Gegenstück zum sowjetischen System mit seinem „zirkulären Machtfluss“31 aufwies, nämlich einem Ein-Mann-Elektorat begleitet vom Jubel einer kleinen, aber wachsenden Gruppe im Hintergrund.

Der Wahlzyklus 2011/12 war nicht demokratisch, da er weder Schumpeter’schen Kriterien – weitgehend freie Presse, Diskussionsfreiheit, alle ernsthaften Kandidaten treten gegeneinander an – entsprach noch den Kriterien von Levitsky und Way – eine Opposition, die mehr oder weniger auf Augenhöhe mit einem Amtsinhaber konkurriert, wobei Letzterer mit hoher Unsicherheit agiert.32

Wie sieht es auf längere Sicht aus? Dass die Politik Russlands im 21. Jahrhundert weniger offen ist, ist augenscheinlich. Der Protest als Reaktion auf Putins „Rochade“ 2011 änderte für einen kurzen Augenblick das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Öffentlichkeit. Die Faktoren, die auf ein demokratischeres Ergebnis hindeuten sollten, liegen relativ klar auf der Hand und werden im Schlussteil ausführlicher erörtert. Es schien denkbar, dass das Regime die Mittelschicht in Städten außerhalb von Moskau davon überzeugen könnte, die nach Putins Amtseinführung im Mai 2012 erlassenen angeblich drakonischen Gesetze seien nur Schau gewesen und könnten getrost ignoriert werden. Drei Jahre nach Putins Amtseinführung scheint dies nicht der Fall zu sein. Und doch kann das Regime sich in letzter Konsequenz selbst abschaffen, indem es |19|Massenproteste anzettelt und die Elite über Themen spaltet, die viele als moralische Fragen wahrnehmen.

Die Opposition könnte sich ebenfalls selbst abschaffen. Die Wahl zur Duma im Dezember 2011 war insofern bemerkenswert, als es vielen Menschen möglich war, durch die Wahl einer anderen zugelassenen Partei gegen Putins Einiges Russland zu stimmen, anstatt sich nur zu enthalten oder den Stimmzettel zu vernichten. Solch ein strategisches Wählen wird Putin wahrscheinlich nicht oft ermöglichen. Angesichts der bisherigen Erfahrungen ist die Wahrscheinlichkeit einer geeinten Opposition gering, es sei denn, sie wählte ihre Schlachten sorgfältig aus. Die Opposition hat bewiesen, dass sie klug und hartnäckig sein kann. Im Nachgang zu den Wahlen 2012 übte der renommierte Schriftsteller Boris Akunin sein verfassungsmäßiges Recht auf einen Kontrollspaziergang aus. Der bekannte Blogger Alexej Nawalny wurde (wenn auch nur kurz) Vorstandsmitglied von Aeroflot;33 sein Sponsor, der Banker Alexander Lebedew, kündigte an, er wolle eine Kreditkarte herausgeben,34 die Nawalnys Anstrengungen zur Korruptionsbekämpfung finanzieren sollte (was er dann wieder verwarf); die erste Karte wolle er Putin überreichen. Der Herausgeber der Nowaja Gaseta, Dmitri Muratow, verlangte und bekam eine Entschuldigung vom Leiter des Untersuchungsdienstes, Alexander Bastrykin, der Sergej Sokolow, einen Mitarbeiter der Zeitung, mit dem Tod bedroht hatte.

Aber – und das ist ein großes Aber – der Kreml wird wahrscheinlich die Kontrolle über drei wichtige Ressourcen behalten: die diversen bewaffneten Einheiten, die Medien und die Menschen, die sich aus Furcht um ihre Arbeit oder Sozialhilfe zwangsmobilisieren lassen. Sollte es einen politischen Führer geben, der einen echten Mittelpunkt darstellt und es vermag, die Menschen auf der Straße, einen Teil der gespaltenen Elite, einige entscheidende gesellschaftliche Gruppierungen und die städtische Mittelschicht Moskaus zu einen – eine Mischung etwa aus älteren Menschen, der Arbeiterklasse oder sogar der städtischen Mittelschicht der elf35 Städte außerhalb von Moskau mit einer Bevölkerung von einer Million oder mehr –, sollte dieser Oppositionelle kurzum in der Lage sein, eine Oppositionspartei auf die Beine zu stellen, dann könnte es ihm oder ihr irgendwann bis zu oder bei den Präsidentschaftswahlen 2018 gelingen, Putin aus dem Amt zu drängen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sich diejenigen mit den meisten Ressourcen durchsetzen werden und dass erneut Putin gewinnt.

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