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April: Schnecken

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Nun schleimen sie wieder , sagte Walter Kübler hinter der Zeitung. Seine Frau Roswitha strich sich selbstgemachte Quittenmarmelade aufs Brot und wollte erst gar nicht fragen. Walter hatte die Gewohnheit, immer nur anzudeuten. Selten folgten Erklärungen, aber jetzt fragte sie doch nach: Wer schleimt? Walter Kübler legte die Zeitung zur Seite: Es gibt zwei Dinge in der Nahrungskette, die uns jedes Jahr Ärger machen. Das sind die neuen Pflanzen und die winterhungrigen Schnecken. Ich bestell’ jetzt doch das Buch über Schnecken. Erstens interessiert’s mich und zweitens will ich wissen, wie man den Biestern beikommt. Es kann doch nicht sein, dass die uns jedes Jahr den Salat fressen. In der Zeitung steht, dass man jetzt versuchen soll, die Jungtiere zu dezimieren bevor auch die sich wieder vermehren.

Roswitha Kübler dachte daran, was der Arzt gesagt hatte: Ihr Mann hat nicht mehr lange zu leben, genießen Sie die Zeit, die Sie noch mit ihm haben. Wie kann man denn genießen, wenn alles, was vorher war, nun plötzlich unterbrochen ist. Bei ihr mischten sich je nach Anlass Trauer, Wut und Ärger. Komisch, sie ärgerte sich auch jetzt über ihren Mann. Wie konnte der sich in seiner Situation um Schnecken kümmern? Er bestellt sich jetzt ein Buch und will verhindern, dass die Schnecken den Salat auffressen. Wie lange wird er denn selbst noch Salat essen können?

Was sind das bloß für furchtbare Gedanken. Seien Sie froh, hatte der Arzt gesagt, es ist selten, dass Menschen so kurze Zeit nach der Entdeckung ihrer Krebserkrankung an den Folgen dieser Krankheit sterben. Bei Walter hatte man Leberkrebs festgestellt. In der Regel, das hatte sie im Internet gelesen, dauert es acht bis zehn Jahre, bis sich aus einer entarteten Zelle ein Karzinom entwickelt, das man klinisch nachweisen kann. Aber es gibt Krebsformen, die lange Zeit unentdeckt bleiben, dazu gehört der Leberkrebs. Walter hat noch keine Schmerzen und von Beeinträchtigungen ist kaum was zu spüren. Aber es ist nur eine Frage der Zeit. Der Tumor hat gestreut und weitere lebenswichtige Organe befallen. Das kann jetzt sehr schnell gehen, hatte Dr. Tucher gesagt.

Drei Tage später hielt Walter Kübler ein Schneckenbuch in Händen, das keine Fragen mehr offen ließ. Natürlich stürzte er sich zuerst auf das einheimische Getier und erkannte schnell, dass Schnecke nicht gleich Schnecke war. Es gab Wegschnecken, Ackerschnecken, Bänder-schnecken, Schnirkelschnecken, Baumschnecken und andere Weichtiere, denen der Gärtner hilflos ausgeliefert zu sein schien, denn das Liebesleben und die Vermehrung der Schnecken schienen keine Grenzen zu kennen.

Wusstest du, rief Walter Kübler seiner Frau beim Durchblättern des Schneckenbuches zu, dass es sich bei den Schnecken in unseren Gärten um Hermaphroditen handelt? Um wen, rief Roswitha Kübler aus der Küche zurück. Um Zwitter! Die haben ein Organ mit männlichen, weiblichen und zwittrigen Teilen. Zu was das denn? Was fragst du mich! Hier steht, Walter Kübler setzte die Lesebrille auf und las, sie haben eine Keimdrüse, die Eizellen und Samenzellen herstellt. Damit die Schnecke aber ihre Eier nicht selbst befruchtet, werden Eizellen und Samenzellen nie zur gleichen Zeit produziert. Das ist vielleicht eine vernünftige Einrichtung, kommentierte Rosemarie Kübler, die nun aus der Küche gekommen war und sich ihre nassen Hände an der Schürze abtrocknete. Und wie kann man sich dann die Paarung vorstellten?

Walter Kübler, der neue Schneckenexperte nahm das Buch und dozierte: Während der Paarung drücken die Schnecken die Körperunterseiten aneinander und richten sich so auf. Dann stoßen sie sich gegenseitig den sogenannten Liebespfeil in die Körperunterseite. Das hört sich ja direkt nach Sex an, lachte Frau Kübler. Ja, Sex mit Folgen, denn jetzt kommt’s: Nach der Befruchtung legen die Schnecken die weißen, ungefähr Stecknadelkopf großen Eier in Erdlöcher, welche sie zuvor mit Hilfe des Fußes selber ausgehoben haben. Mein lieber Walter, dann geh’ mal schön in den Garten und heb’ die Erdlöcher aus, bevor der Nachwuchs unseren zarten Frühlingssalat vernichtet.

Eigentlich wollte Roswitha sagen, dass sich Walter jetzt nicht so viel Gedanken um die Schnecken machen sollte. Aber warum sollte sie ihn abhalten, warum sollte er jetzt nicht in den Garten gehen und Erdlöcher ausheben?

Wie Walter Kübler bald erkennen musste, gab es im Land der Schnecken viel zu entdecken. Er zog sich mit seinem Buch in den hinteren Teil des Gartens zurück. Hier konnte er ungestört lesen und sich die Sonne aufs Haupt scheinen lassen. Bis zum Mittagessen war noch etwas Zeit, Roswitha würde ihn schon rufen, wenn es soweit wäre. Über die Spanische Wegschnecke las er, dass diese den Gärtnern das Fürchten lehre. Als Südländerin sei sie auf trockenes Wetter eingerichtet. Sie produziere viel Schleim, um auch in trockenen Perioden gut vorwärts zu kommen.

Walter Kübler nickte anerkennend, als er las, dass ihr Kriechtempo 5-9 Meter in der Stunde beträgt. Wenn es ihr zu heiß wird, sucht sie ein Plätzchen im kühlen Schatten und macht dort ihre typisch südländische Siesta. Vor Feinden muss sie keine große Angst haben. Weil sie so schleimig ist und dazu noch besonders bitter schmeckt, verzichten viele der üblichen Fressfeinde von Schnecken lieber auf den Genuss einer Spanischen Wegschnecke.

Das ist ja alles sehr interessant, murmelte Walter Kübler und blätterte ein wenig weiter, um sich einen gewissen Überblick zu verschaffen. Beim Bild eines stacheligen Schneckengehäuses blieb er hängen. So etwas hatte ihm einmal sein Onkel Manfred aus Griechenland mitgebracht als er noch ein Kind war. Das ist die Keule des Herakles hatte Onkel Manfred gesagt. Was er damit meinte, hatte Walter Kübler damals nicht verstanden, erst später wurde ihm klar, dass die Form der Stachelschnecke an eine Keule, an die Waffe des griechischen Helden Herakles, erinnerte. Roswitha Kübler trat auf die Gartenterrasse heraus und rief: Das Essen ist fertig. Walter Kübler legte ein Lesezeichen ins Buch. Über die Purpurschnecke wollte er nach seinem Mittagsschläfchen weiterlesen. Neben dem Essen standen die Tabletten, eine zu jeder Mahlzeit und abends zwei aus der roten Packung, Scheißkrebs.

Als die Küblers es sich am Abend vor dem Fernseher bequem gemacht hatten und Roswitha gerade ihre Stricksachen aufnehmen wollte, sagte Walter unvermittelt: Was hältst du von einem Urlaub auf Kreta? Wie kommst du denn gerade auf Kreta, wollte seine Frau wissen. Walter Kübler hätte jetzt eine Erklärung abgeben können, die man nur als lange und sehr subjektive Gedankenkette hätte darstellen können. Es war so: Die Schnecken und der Krebs hatten ihn auf Kreta gebracht, und bei den Schnecken war es genauer gesagt die Purpurschnecke und da wieder war es die Keule des Herakles, die ihm einst Onkel Manfred aus Griechenland mitgebracht hatte. Nein, eigentlich war es auch nicht die im Mittelmeer lebende Purpurschnecke, es war ein Artikel, den Walter im Internet, ergänzend zu seiner Buchlektüre, gelesen hatte. In diesem Beitrag hatte ein gewisser Rudolf Prager über Wirtschaft und Handel der alten Römer geschrieben und dabei auch die Wollfärberei, genauer gesagt die Purpurfärberei auf der abgelegenen und heute verlassenen Insel Kouphonisi erwähnt. Sie lag im Südosten vor Kreta und hieß früher Leuke, was wahrscheinlich auf den weißen Sand zurückging, der die Insel wohl immer schon bedeckte.

Von diesem Prager erzählte Walter seiner Roswitha aber vorerst nichts, denn gewisse Dinge, das wusste er aus seiner Zeit bei der Bundeswehr, muss man nicht gleich hinausposaunen, auch wenn es noch so aufregend sein mochte.

Walter Kübler hatte den Namen Prager nicht zum ersten Mal gehört. Die Polizeibeamtin aus Freiburg hatte ihn in Zusammenhang mit dem Selbstmord seines Freundes Herrmann Schmidt gefragt, ob er einen Herrn Prager kenne. Jetzt war er ein weiteres Mal auf diesen Prager gestoßen. Er wollte es erst nicht glauben, aber schon eine kleine Internetrecherche ergab, dass es sich beim Autor des Artikels um eben diesen Prager handeln musste, den die Kommissarin mit Schmidt in Verbindung gebracht hatte. Und Walter Kübler staunte nicht schlecht, als er ein Bild des Altertumsforschers auf der Seite eines Touristikunternehmens entdeckte. Unser Experte vor Ort erklärt unseren Gästen die römischen Hinterlassenschaften von Gortyn . Der Mann auf dem Bild sah aus wie sein alter Freund Herrmann Schmidt.

Noch etwas war ihm eingefallen, als er auf Prager gestoßen war. Maywald, Schmidts Arbeitskollege in Freiburg hatte gesagt, dass Herrmann gerne Urlaub im Süden machen wollte. Er sprach von weißen Häusern am blauen Meer. Wie kann einer Selbstmord begehen, der ins Träumen gerät, wenn er griechische Landschaften sieht? Dieser Prager sah aus wie sein alter Freund Herrmann Schmidt. Walter Kübler verbat sich jetzt weiterzudenken. Nein, das ist Unsinn, aber diesen Prager würde ich gerne kennenlernen. Vergiss deine Tabletten nicht, sagte Roswitha.

Die Keule des Herakles

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