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3. Kapitel 2

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Falkehaven

Das Gefühl einer Hand, die sich schwer auf seine Schulter legte, brachte Alfr av Falksten zurück in das Hier und Jetzt. Gedankenverloren hatte er gerade am Horizont die Umrisse der Insel verschwinden sehen, auf der er die letzten 35 Jahre verbracht hatte. Natürlich war er schon einige Male für längere Zeit auf See gewesen, nie jedoch hatte er die Heimat für mehr als ein paar Tage verlassen. Im Grunde gehörte die nordische See um Norselund für ihn auch genauso dazu, wie der heimische Boden. Er drehte sich um und schaute in das tiefe Stahlgrau der Augen des Jarls von Ulfrskógr. Das zugleich vital und verlebt wirkende Gesicht unter dem ergrauenden Bart verzog sich zu einem Lächeln.

»Ich bin sicher, dein Vater passt gut auf deine Stadt auf«, sagte er.

Obgleich sie nur wenige Jahre trennten, empfand Varg für Alfr wie für einen Neffen und wusste, dass der ihn umgekehrt ebenso als eine Art Onkel sah, wie seine beiden wesentlich jüngeren Schwestern es taten. Vermutlich lag es daran, dass er bereits seit über zwanzig Jahren die Position eines Jarls innehatte und noch länger mit Stian befreundet war. Der Sohn des Freundes begann erst nach und nach damit, die Verantwortung zu übernehmen, die ihm nach dem Tod seines Vaters zufallen würde. Falkehaven war für Alfr av Falksten der Anker seines Lebens. Dort vereinten sich die Erinnerungen an seine Kindheit mit den alten Träumen von einem Leben zur See, die nie in Erfüllung gehen würden. Dort lag auch seine Zukunft als Jarl von Falksten. Die Wurzeln von Alfr waren mindestens so tief in die südöstliche Küste von Norselund eingegraben, wie die von Varg in dem harten, kalten Boden seiner Heimstatt, der weit im Norden der Insel gelegenen Festung Snaergarde.

Alfr erwiderte das Lächeln, wenn auch ein wenig wehmütig. Sein Vater war wenige Tage vor ihrer Abreise in Falkehaven eingetroffen. Rechtzeitig, um sich einen Überblick über die Situation in der Hauptstadt zu verschaffen. Und um seinen Sohn, der sich die letzten Jahre um ihre Geschicke gekümmert hatte, zu verabschieden.

»Dessen bin ich mir sicher«, meinte er, »aber dennoch ist dies hier eine der mir zugedachten Pflichten, auf die ich dankend verzichten würde. So sehr ich die Anwesenheit auf See genieße, wenn ich an die Zeit an Land denke, könnte ich zum ersten Mal in meinem Leben über die Reling kotzen. Ich habe alle Aufgaben, die Vater mir vorzeitig übertragen hat, gerne übernommen. Aber die jährlichen Besuche bei Hof hätte er wegen mir noch zwanzig Jahre lang selbst machen können.«

»Du wirst zum ersten Mal in deinem Leben den Glanz und die Erhabenheit der Heimstatt und Person des Regenten unseres glorreichen Königreiches kennenlernen«, meinte Varg mit einem Tonfall, der vor Sarkasmus troff. Alfr kannte ihn von seinem Vater nur allzu gut. »Zeig ein wenig mehr Anerkennung, mein Junge.«

»Anerkennung am Arsch«, gab Alfr zurück, konnte aber ein Grinsen nicht unterdrücken. Zu gut war Varg der Duktus gelungen, mit dem sein Vater zu spötteln pflegte, obgleich seine Stimme tiefer und rauer war.

»Ihr beide verbringt eindeutig zu viel Zeit miteinander, seit der alte Mann teilabgedankt hat«, sagte Alfr nicht unfreundlich. »Etwas in der Art habe ich mir vor der Abreise schon von ihm selbst anhören müssen, besten dank auch.

Varg lachte leise und klopfe dem jüngeren Mann auf die massige Schulter. »Versuch einfach, das Beste daraus zu machen. Mehr bleibt uns allen nicht übrig. Niemand von uns fährt gerne zu diesen götterverdammten Festen. Selbst wenn wir die Reise nicht unternehmen würden, um unsere Zeit mit dem Firlefanz am königlichen Hof und mit den Weißlichtern der Kirche zu verschwenden, hätten wir dieser Tage Besseres zu tun.

Es sind jedes Jahr fast zwei verschwendete Monate, jedenfalls für mich. Immer noch genug sinnlos vertane Wochen für die anderen beiden, die nicht bis ganz hinauf in den Norden müssen, bevor sie wieder zu Hause sind. Dieses Jahr ist das für uns alle besonders beschissen. Ich würde lieber meine neuen Verbündeten im Auge behalten und Bjorn wäre lieber bei seiner kleinen Familie. Aber das ist nun einmal der Preis, den wir dafür zahlen, dass die Festländer unser Volk in Frieden leben lassen.

Was wir hier tun, schützt unsere Heimat. Mehr noch, als das Eisen, das wir dem König liefern. Versuch es von dieser Seite aus zu sehen, Alfr. Mir hilft es jedenfalls, wenn ich mir diese Scheiße als eine Schlacht vorstelle, die ich zu schlagen habe. So stumpfsinnig das Schlachtfeld auch gewählt sein mag.«

Der jüngere Mann nickte seufzend. Er wusste wohl, dass er es noch am besten getroffen hatte. Varg hatte seine Geschäfte Sigvar Rothborg übergeben. Er hatte den ehemaligen Hauptmann seiner Rabengarde über die letzten Jahre hinweg als Stellvertreter aufgebaut. Vor seiner Abreise hatte er ihn offiziell als solchen eingesetzt und ihm den Titel eines landlosen Thane verliehen. Obgleich er dem fähigen und loyalen Mann vertraute, wusste Alfr, wie heikel die Situation in Ulfrskógr war. Die neuen Vasallen des Jarls hatten ihr Land in Besitz genommen und niemand wusste, wie gut oder schlecht sich die fremdartige Kultur der geheimnisvollen Vannbarn in die der Norselunder einfügen würde.

Bjorn av Krakebekk war nur wenige Tage, bevor er von Krakeborg aufgebrochen war, Vater einer gesunden, rosigen Tochter geworden. Vendela, die ältere der beiden Schwestern von Alfr, war ebenso wie das Kind wohl auf und hatte die Geburt gut überstanden. Dennoch fraß es sichtlich an dem jungen Jarl, dass er diese erste Zeit im Leben seiner Tochter nicht mit seiner kleinen Familie verbringen konnte.

Alfr selbst hatte Stian, der sich zu Hause um alles kümmerte, und genoss darüber hinaus während der Reise die Gesellschaft seiner Gemahlin. Die einzigen Sorgen, die er sich machte, entstanden in seinem Kopf. Unglücklicherweise war er ein wahrer Meister des sinnlosen Grübelns. Wenigstens ging es Sikah wieder gut. Sie schien ob des Abenteuers der Exkursion zum Festland regelrecht aufzublühen.

Sie befanden sich an Bord der Falkenkralle, dem Flaggschiff der norselunder Flotte unter der Flagge derer av Falksten. Der bullige Dreimaster beherbergte neben der normalen Besatzung für gewöhnlich fünf Dutzend schwer bewaffneter Karls. Auf der Reise zum Hof des Königs wurden sie zu gleichen Teilen durch Huskarlar aus den Reihen von Falksten, wie durch Blodskjoldir der Rabengarde von Varg ersetzt. Diese Männer bildeten auch die Eskorte, mit welcher die Jarle später über Land reisten. Darane, der undurchsichtige Berater der Jarle von Norselund, befand sich ebenfalls an Bord der Falkenkralle. Der alterslose Zauberer, der vor wenigen Monaten nach Jahrzehnten der Abwesenheit wieder aufgetaucht war, würde sie nach dem Anlegen in der Nordmark verlassen.

Bjorn av Krakebekk hatte es vorgezogen mit seinem eigenen Flaggschiff, der Seebär, zu reisen. Er hatte nicht versucht, sich um die diesjährige Teilnahme an dem Besuch beim König zu drücken, obgleich ihm anzumerken war, wie viel lieber er bei seiner Familie geblieben wäre.

Varg begrüßte die Entscheidung des jungen Jarls, mit seinem eigenen Schiff zu fahren, durchaus. In seiner derzeitigen Stimmung war die Gesellschaft von Darane und vor allem Alfr das Letzte, was er brauchte. Und mit Bjorn und Alfr längere Zeit gemeinsam auf einem Schiff zu sein, war eine Aussicht, bei der ihm schauderte. Es war ohnehin gut möglich, dass die jahrelangen Spannungen zwischen dem jungen Jarl av Krakebekk und dem zukünftigen Jarl av Falksten im Laufe dieser Reise eskalierten. Es war bisher nie zu offenen Feindseligkeiten zwischen den beiden so verschiedenen Männern gekommen, aber gemocht hatten sie sich nie.

Alfr hatte den über zehn Jahre jüngeren Jarl als zorniges, unbeherrschtes Kind kennengelernt. Das gute Verhältnis, das seine Schwester Vendela zu Bjorn hatte, war ihm immer suspekt gewesen. Auch die späteren Avancen des Krakebekk und die anschließende Vermählung hatte er im Stillen missbilligt. Er sah die Vorteile, die eine Verbindung zwischen den beiden Häusern der Insel bringen mochte, konnte aber gegen seine Abneigung nicht an. Alfr hätte, genau wie sein Vater, nur zu gerne eine Verbindung zwischen Varg und seiner Schwester Catherine zugestimmt. Der Jarl av Ulfrskógr hatte Lifa, seine erste Gemahlin, vor einigen Jahren bei der Geburt ihres ersten Kindes verloren, genau wie die kleine Tochter selbst. Doch die Gefühle zwischen ihm und der jüngsten Lady av Falksten hatten stets nur denen zwischen Onkel und Nichte entsprochen.

So hatte Alfr zähneknirschend hingenommen, dass der junge Jarl zu seinem Schwager wurde. Ein Mann, der sich von seinem eigenen Wesen unterschied wie der Tag von der Nacht. Varg kannte Alfr seit seiner Jugend als einen ruhigen, besonnen und ernsthaften Mann. Er war intelligent, lernbeflissen und zuverlässig, doch fehlte es ihm an einer gewissen Aggressivität und jede Art von Spontanität ging ihm völlig ab. Bjorn auf der anderen Seite war, zumindest nach außen hin, oft unbekümmert und großspurig. Er gab sich nicht selten ein wenig herrisch und handelte oft mutig, aber unbesonnen. Er war weder dumm noch gedankenlos, obgleich oft ebenso impulsiv wie jähzornig.

Varg wusste, dass Bjorn dem älteren Bruder seiner Gemahlin eine gewisse Verachtung entgegenbrachte, die er nur schwer im Zaum zu halten vermochte. Das lag zum einen an den grundverschiedenen Charakteren der beiden, zum anderen an der Unreife des Jarls. Der muskelbepackte, aggressive junge Mann, der schon durch seine unglaubliche Größe einen beeindruckenden Anblick bot, hielt seinen Schwager schlichtweg für einen verweichlichten Feigling. Allein seine aufrichtige Liebe zu Vendela ließ ihn im Umgang mit Alfr ein gewisses Maß an Höflichkeit an den Tag legen. Bjorn war mit seinen kaum mehr als zwanzig Wintern das Paradebeispiel eines ungestümen Kriegers. Alfr lebte im Grunde das Leben eines adligen Stadthalters und schleppte inzwischen ein nicht zu übersehenes Maß an Übergewicht mit sich herum.

Während Varg jetzt neben dem Sohn des Freundes von der Heckreling aus Richtung Bug ging, musterte er ihn mit einem Seitenblick. Die Fettleibigkeit des Mannes hatte mittlerweile ein Ausmaß angenommen, das seine Schritte und Bewegungen behäbig wirken ließ. Allein dieser Leibesfülle wegen war ihm die Verachtung von Bjorn gewiss. Für ihn war sie ein Zeichen von Maßlosigkeit und Dekadenz, die von dem behüteten Stadtleben herrührten. Varg hingegen kannte Alfr gut genug, um zu wissen, dass die Probleme vielschichtiger waren.

Es stimmte, dass der einzige Sohn des Jarl av Falksten nicht unbedingt den Stolz und Ehrgeiz mitbrachte, den man von einem jungen Jarl erwartete. Dagegen standen jedoch eine große innere Reife und ein unerschütterliches Pflichtbewusstsein. Das eigentliche Problem war, dass Alfr zu durchgeistigt und unfähig war, seine Gedanken zur Ruhe zu bringen. Die Probleme der Stadt, des Jarltums und nicht zuletzt die Sorge um die Kinderlosigkeit und instabile Gesundheit seiner Gemahlin, lasteten schwer und ohne Unterlass auf seinem Gemüt. Varg kannte nicht wenige Männer, sich selbst eingeschlossen, die bei zu großem Druck zur Trunksucht neigten. Alfr kompensierte seine Unausgeglichenheit mit Essen. Das Prinzip und die wachsende Abhängigkeit waren identisch.

Wenn er sich stattdessen dem Suff hingeben würde, wäre das für Bjorn akzeptabel, dachte der Jarl bei sich. Beides ein Zeichen von Schwäche, beides bis zu einem gewissen Punkt verachtenswert, aber der Junge hat schon immer nur das Oberflächliche gesehen. Er ist intelligent, obwohl er kaum lesen und schreiben kann, aber ihm fehlt die Reife oder die Tiefe, um hinter die Fassade von Menschen oder Dingen zu schauen. Ich kann von Glück sagen, dass ich mich entschlossen habe, die Reise auf der Kralle zu machen. Alfr ist eine ungleich angenehmere Gesellschaft als ein aufgekratzter, nervöser Bjorn.

Darane hatte sich ihm ohne ein weiteres Wort angeschlossen. Ein dünnes Lächeln glitt über das Gesicht von Varg, während er im eisigen Nordwind über das Deck der Falkenkralle schritt.

Darüber zumindest wird Bjorn erfreut gewesen sein, dachte er grimmig. Mit Darane kann er nicht umgehen, er hat Angst vor ihm und das ist ein Gefühl, das er im Umgang mit anderen nicht gewohnt ist. Das Einzige, was er für gewöhnlich fürchtet, ist seine eigene Unsicherheit und sein Jähzorn. Hoffentlich bringen Vendela und das Kind ihm Frieden. Der Junge hat es götterverflucht nicht verdient so zu Enden wie sein Vater. Und mir hat es mit einem verrückten Krakebekk gereicht, bei Morcraban und Morrigan.

Mit einiger Anstrengung lenkte er seine Gedanken von dem jungen Jarl zu Darane. Auch was den Zauberer anging, empfand er Bedauern. Er würde sie nach ihrer Ankunft in Padermünde, der größten Hafenstadt der Nordmark, verlassen. Seine Angelegenheiten, über die er sich nicht ausließ, führten ihn in den südlichen Teil des Reiches. Varg zweifelte nicht daran, dass er der Einzige war, der die Anwesenheit des alten Vertrauten ihrer Väter vermissen würde. Mit Ausnahme von Catherine möglicherweise. Die jüngste Tochter des Jarls av Falksten hatte vor ihrem Aufbruch nicht wenig Zeit mit Darane verbracht. Die meisten Menschen schienen in seiner Gegenwart eine Mischung aus Unwohlsein und Irritation zu verspüren. Eine Empfindung, die Varg nicht teilte. Er hoffte im Stillen, dass Darane seine Geschäfte auf dem Festland möglichst schnell abwickelte und in einigen Wochen mit ihnen nach Norselund zurückkehrte.

Der Jarl selbst konnte sich nicht erinnern, je weniger Interesse an der Reise zum alljährlichen Lebensfest gehabt zu haben. Snaergarde und sein Jarltum zu verlassen war ihm schon unter normalen Umständen zuwider. Gerade in diesem Frühling wäre er lieber dabei gewesen, wie die Vannbarn ihre neue Heimat in den Grenzen seines Jarltums in Besitz nahmen. Seine neuen Vasallen waren vor einiger Zeit mit ihren ersten Siedlern in den Ländereien eingetroffen, die er ihnen zugestanden hatte. Mit diesem Bündnis und der Schaffung eins Vasallentums verstieß er bereits gegen das Gesetz des Reiches. Dazu kam, dass die Verbündeten aufgrund ihrer fremden Kultur unberechenbar waren. Das Lehen lag jedoch weitab des Zugriffes von König oder Kirche. Wo kein Kläger, da kein Richter.

So hatten, angeführt von der hohen Wächterin ihres Volkes, knapp zweitausend Vannbarn die sterbende Heimat hinter sich gelassen. Von ihrem Reich unter den Bergen des Eisgebirges aus waren sie bis in den östlichen Teil des Jarltums gezogen. Der verlassene, ebenso unfruchtbare wie ungastliche Landstrich am Rande des Steinwaldes würde, so die Götter es wollten, in den kommenden Jahren zu ihrer neuen Heimstatt werden. Auch diese Übereinkunft verdankten sie allein Darane, der den Kontakt zwischen den Vannbarn und den norselunder Jarlen überhaupt möglich gemacht hatte. Varg hatte die hohe Wächterin, Chatikka ith Vallandor, die Schwester des Erzdruiden und Führers ihres Volkes, nach ihrem ersten Treffen noch einige Male gesehen. Beim ersten Mal hatte sie den alten Druiden Garawan von Snaergarde abgeholt. Beim letzten Mal hatte der Jarl die Kriegerin wenige Tage vor seiner Abreise am Steinwald besucht. Ihre Furcht und Unsicherheit ob der ihr völlig fremden Welt war spürbar gewesen. Aber ebenso deutlich hatte Varg ihren Tatendrang und ihre eiserne Entschlossenheit wahrgenommen. Der Mut der Frau rang ihm Respekt ab. Er war froh, dass es einer Kriegerin anstatt einer Priesterin oblag, die Geschicke der Siedler zu lenken. Oder, schlimmer noch, einer Politikerin. Etwas Nutzloseres als einen Aristokraten, wie er sie vom Festland her kannte, konnte sich der Jarl kaum vorstellen.

Varg hätte in dieser kritischen Anfangsphase gerne eine Weile am Steinwald verbracht, obgleich er nicht daran zweifelte, dass Sigvar ihn gut vertrat. Die ersten Wochen würden entscheidend dafür sein, wie gut oder schlecht die Vannbarn in ihrer neuen Heimat Wurzeln schlugen. Außerdem hätte er Chatikka gerne unterstützt. Sie litt wie die anderen Vannbarn schwer unter der Andersartigkeit der Oberwelt. Hinzu kam der Druck der Verantwortung, der auf ihren Schultern lastete. Als hohe Wächterin hatte sie Hunderte von Kriegern befehligt. Aber Varg wusste, dass es etwas völlig anderes war, wenn man plötzlich für alle Männer, Frauen und Kinder seines Volkes verantwortlich war. Als er in jungen Jahren zum Jarl ernannt worden war, hatte das Gewicht dieser Verpflichtung beinahe körperlich gespürt.

Die Stimme von Alfr riss seine Gedanken von der Kriegerin los.

»Wir hatten vor der Abfahrt kaum Zeit, uns zu unterhalten«, meinte er. »Hat der Zauberer den Pilz deiner neuen Vasallen zum Wachsen gebracht? Vater meinte, dass davon letztendlich der Erfolg der Siedlung abhängen wird. Die Vorräte, die wir unterwegs kaufen, dienen ja bestenfalls dem Aufstocken dessen, was wir ihnen gegeben haben.«

»Aye, das hat er«, erwiderte der Jarl. »Ich bin nicht mehr dazu gekommen, es mir selbst anzuschauen, aber er meinte, es verliefe alles nach Plan. Das Köttsten anzupflanzen gehört zu den ersten Arbeiten der Siedler. Ich habe sie mit Werkzeug und Vorräten ausgestattet und ihnen jeden Handwerksmeister zur Verfügung gestellt, den ich entbehren konnte. Sie haben praktisch alle Nahrungsmittel bekommen, die ich auf Snaergarde in Reserve hatte. Was wir unterwegs kaufen, dient tatsächlich dazu, meine Vorratskammern für den Winter wieder zu füllen. Hoffen wir mal, dass dieses Pilzgewächs aus ihrer Heimat wirklich so gut gedeiht, wie Darane vorausgesagt hat. Besonders, wenn wir an die Lage an der Küste denken.«

Bei den letzten Worten des Jarls verdüstere sich die Miene von Alfr. Es war bislang bei nur drei Sichtungen von missgestalteten, verderbten Fischen geblieben. Auch war es nach wie vor ausschließlich bei Seelachsen vorgekommen. Nur bei Tieren also, die weitab der Küste in den tieferen Gewässern lebten. Trotzdem war allein schon die Tatsache, dass Fische überhaupt von den unheimlichen Veränderungen betroffen waren, ein neuerliches Damoklesschwert, das über jedem einzelnen Bewohner von Norselund hing. Der Fisch war die einzige zuverlässige Nahrungsquelle, über welche die Insel seit dem Grau verfügte.

»Du riskierst bei der Sache nicht wenig«, meinte er und suchte den Blick des Jarls, den dieser lächelnd erwiderte.

»Tollkühn war meine ich der Ausdruck, den dein Vater gebraucht hat«, meinte Varg. »Und ich widerspreche ihm nicht. Aber ich traue Darane weiter als er oder sonst jemand es tut. Ich weiß, dass die anderen dem Zauberer misstrauen, aber er hat einfach keinen Grund uns schaden zu wollen. Außerdem sagt mir mein Instinkt, dass er unser Freund ist. Ebenso wie er es bei der hohen Wächterin der Vannbarn getan hat. Ein alter Wolf sollte auf seine Instinkte vertrauen. Die Sache mag riskant sein, aber in diesem Bündnis liegt ein großes Potential. Für Ulfrskógr und, wenn das Köttsten so ertragreich ist, wie es der Fall zu sein scheint, für ganz Norselund. Gerade in Anbetracht der Bedrohung der Fischbestände.

»Hat der Zauberer eigentlich seinen götterverdammten Köter mit auf das Schiff gebracht?«, wollte Alfr wissen. »Ich habe ihn noch gar nicht gesehen. Hören tut man das Vieh ja ohnehin nie. Nicht, dass ich seinen Anblick vermissen würde. Dieses Geschöpf verursacht mir eine Gänsehaut. Allein wie er einen ansieht. Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt ein Hund ist.«

»So reichlich, wie er frisst und scheißt, wird er das schon sein«, meinte Varg trocken. »Aber ich weiß, was du meinst. Das Tier ist merkwürdig. Myno ist mit Darane an Bord. Die Reise auf See scheint dem Biest ebenso gleichgültig zu sein wie alles andere.«

Die Vorbehalte anderer Menschen gegenüber dem Hund des Zauberers vermochte der Jarl nachzuvollziehen. Er war mit Hunden aufgewachsen und hatte sowohl auf Snaergarde wie auch in seiner Zeit in Høyby stets welche in seiner Nähe gehabt. Im Grunde war Myno ja ein außerordentlich pflegeleichtes Tier. Er fraß Unmengen an Futter jeder Art, wenn man es ihm hinstellte, bettelte aber nie, falls er einmal nichts bekam. Er bellte nicht, knurrte nicht und war generell ruhig und scheinbar ausgeglichen, beinahe lethargisch. Darane gehorchte er aufs Wort, während er andere Menschen geflissentlich links liegen ließ.

Die Irritation, die Varg dem Hund gegenüber empfand, zeugte in erster Linie davon, wie andere Tiere auf seine Anwesenheit reagierten. Sie ignorierten ihn, als wäre er überhaupt nicht vorhanden. Ganz gleich, ob es sich dabei um andere Hunde, Pferde oder gar Katzen handelte. Sie scheuten nicht vor dem pelzigen Begleiter des Zauberers zurück, sie schienen ihn einfach nicht wahrzunehmen. Die andere Sache war die Art und Weise, in der Myno einen gelegentlich anschaute. Diese kalten, grauen Augen gehörten schlichtweg nicht in ein Hundegesicht. Es war Varg jedes Mal für einen Sekundenbruchteil, als würde er im Spiegel das stählerne Grau seiner eigenen Augen sehen, dass so typisch für die Herren von Norselund war. Mit diesem kühlen, leeren Blick schaute einen der Hund teilweise minutenlang an. Wie ein Schwachsinniger oder eine lebendige Statue. Dabei hatte man mal den Eindruck, er blicke einem in sein innerstes Selbst, mal schien es, als ob er durch einen hindurch schaute wie durch Luft. Die Gesellschaft des Tieres würde der Jarl, im Gegensatz zu der seines Herrn, jedenfalls nicht vermissen.

Die beiden Männer hatten das Mittschiff hinter sich gelassen und stiegen nun die hölzernen Stufen zum Heckaufbau hinauf. Wieder an der Reling angekommen, standen sie nebeneinander im kalten Seewind und schauten in die zerwühlte nordische See, die sich vor ihnen erstreckte.

»Und diese wundervolle Reise«, seufzte Alfr nach einer Weile, »darf ich von nun an jedes verdammte Jahr meines Lebens machen. Auch wenn ich es grundsätzlich genieße, auf See zu sein, ist das keine besonders erfreuliche Aussicht. Gewöhnt man sich eigentlich je an diesen Schwachsinn?«

»Nay, es ist jedes Frühjahr wieder aufs Neue zum Kotzen«, antwortete Varg lächelnd, »jedenfalls geht mir das so. Aber falls es dich tröstet, ich teile dein Leid. Beide haben wir auf mittlere Sicht keine Söhne, auf die wir diese Pflicht abwälzen können.« Mit feierlicher Stimme fügte er hinzu: »Der Herzog oder sein ältester Sohn nimmt an den heiligen Festlichkeiten teil. So sei es geschrieben und verkündet im Reiche Stennward.«

Alfr warf ihm einen amüsierten Seitenblick zu.

»Teilen wir diese unerfreuliche Erfahrung etwa?«, wollte er wissen.

»Gewissermaßen«, nickte Varg. »Mein alter Herr hat mich mit vierzehn einmal mit deinem Vater und dem Großvater von Bjorn zusammen losgeschickt. Ich war ganz alleine der Repräsentant von Ulfrskógr und hätte mir am Hof beinahe in die Hose gemacht. Danach hatte ich allerdings noch ein paar Mal Ruhe, bis Vater gestorben ist. Nun sind es fast zwanzig Besuche und es ist jedes Mal aufs Neue wieder ebenso eine Freude, wie es eine Ehre ist, das kann ich dir versichern.«

Die letzten Worte des Jarls troffen so sehr vor Sarkasmus, dass Alfr ein leises Glucksen nicht unterdrücken konnte.

»Habt ihr nie versucht, aus dieser Sache herauszukommen?«, fragte er schließlich. »Ich meine, ich bin mir schon bewusst, wie wichtig es nach dem Krieg war, die Festländer bei Laune zu halten. Aber nun herrscht seit Jahrzehnten Frieden, es gibt keine Grenzstreitigkeiten und auch sonst kaum Reibungspunkte.«

»Nay, darum geht es auch schon lange nicht mehr«, erklärte Varg. »Wir haben im Laufe der Jahre, natürlich nicht zuletzt durch das Grau, eine sehr viel größere Unabhängigkeit erlangt, als uns der Friedensvertrag je zugesichert hat. Das fängt schon bei der Kirche an, die ja auch über einen erheblichen Einfluss verfügt.

König Randolf ist es, wie ich ihn einschätze, im Grunde scheißegal, was wir auf unserer Insel machen. Solange wir uns ruhig verhalten und ihm jedes Jahr sein Eisen liefern, kümmern ihn die Angelegenheiten von Norselund nicht. Er mag ahnen, wie eng unsere Familien zusammenarbeiten und die Herzöge werden ihm ab und an wegen der Privilegien in den Ohren liegen, die er den Barbaren aus dem Norden zugesteht. Aber was schert ihn das schon. Er weiß ganz genau, dass er uns nicht zu fürchten braucht, weil uns das Festland einen Dreck interessiert. Schließlich ist auch der letzte Krieg nicht von uns ausgegangen, sondern von seinem Großvater.

Was die Kirche angeht, verhält es sich im Grunde genauso. Bei der großen Schlacht sind damals fast alle Druiden und anderen Zauberkundigen der Insel getötet worden. Das war ja für sie der Hauptgrund, den Krieg so eifrig zu unterstützen. Der Rest ist, von Darane mal abgesehen, ebenfalls längst tot. Das Grau hat zwar verhindert, dass ihre Religion bei uns wirklich Fuß gefasst hat, aber unsere Väter sind offiziell konvertiert. Was auf der Insel passiert, ist den Verantwortlichen der Kirche heute ebenso gleichgültig wie seiner Majestät. Die regelmäßigen Besuche beim Lebensfest sind unser Zoll, in Respekt gezahlt, und damit geben sie sich zufrieden.

Wir haben also sowohl mit dem König wie mit der Kirche ein stilles Abkommen, das uns ein geradezu unverschämtes Maß an Freiheit gewährt. Der Preis dafür ist diese Fahrt. «

»Ich verstehe, was du meinst«, lächelte Alfr dünn.

»Auch wenn sich diese Wochen wie verschwendete Lebenszeit anfühlen«, fuhr Varg fort, »und das tun sie immer, sind sie doch ein wichtiger Dienst für unser Land und Volk. Der Pomp bei Hof, der Empfang beim König, das Treffen mit den anderen Herzögen und die Gottesdienste sind nur Mummenschanz.

Obgleich dein Vater und ich uns manches Mal gefragt haben, ob sie nicht nur deswegen auf unserer Anwesenheit bestehen, weil sie hoffen, dass uns eines Tages bei der Überfahrt das Meer holt.«

»Na, dann hoffen wir mal, dass die See ihnen diesen Gefallen heuer nicht tut«, sagte Alfr. »Von meinem Wunsch abgesehen, Falkehaven wiederzusehen, werden wir mit der Nahrung eine wertvolle Fracht geladen haben.«

Der Blick beider Männer richtete sich in Bugrichtung zum Meer. Die Flotte, die hinter der Falkenkralle folgte, bestand aus zweiundzwanzig Schiffen, wenn man die Seebär von Bjorn nicht mitrechnete. Das war die größte Handelsflotte, die seit dem Krieg die Reise über das Meer angetreten war.

Varg und Stian hatten beschlossen, das Risiko einzugehen, ein gewisses Aufsehen zu erregen, indem sie gewaltige Mengen an Nahrung einkauften. Schließlich konnte man ebenso gut ein paar schlechte Ernten gehabt oder eine Kornfäule erlitten haben. Die Tatsache, dass sich der Fischbestand der Insel durch die Verderbtheit in Gefahr befand, war eine Möglichkeit, die sich nicht jedem erschloss. Von dem Umstand, dass ein Jarltum seine Wintervorräte aufgebraucht hatte, um ein fremdes Volk durchzufüttern, ganz zu schweigen.

Vor der Küste der Nordmark würde man die beiden Flotten teilen. Der Jarl von Krakebekk legte dann die letzten Seemeilen bis nach Padermünde an Bord der Falkenkralle zurück. Während die Kralle wie jedes Jahr in der großen Hafenstadt einlief, führte die Seebär die andere Hälfte der Flotte nach Südwesten. Diese Schiffe würden am unteren Ende der Südmark damit beginnen, jedes Stück lagerbare Nahrung aufzukaufen. Die Schiffe im Norden würden das gleiche tun, dabei aber an der Küste der Ostmark anfangen. Das entsprach der Strecke, die für gewöhnlich zwei Handelsschiffe abklapperten, die Alfr zweimal im Jahr losschickte. Sie besorgten an verschiedenen Häfen Seile, Segeltuch und Hanf für den geheimen Bau der neuen Kriegsschiffe in der verborgenen Werft an der Westküste von Norselund. Für die Flotte stand nun neben diesen Dingen auch Getreide, Mehl, Fett, Öl, Dörrfleisch und Trockenfisch auf der Ladeliste.

»Das wird an gewissen Stellen einiges an Aufsehen erregen. Genau das, was ich all die Jahre zu verhindern versucht habe«, meinte Alfr. »Allein die Tatsache, dass wir fünfmal so viel Nahrung kaufen wie sonst, von einer größeren Menge an Seilen und Segeltuch ganz zu schweigen.«

»Mag schon sein«, gab Varg zu, »in vollem Umfang werden sie es aber erst merken, wenn wir längst wieder weg sind. Nämlich dann, wenn ihnen klar wird, dass wir im Süden genauso viel gekauft haben wie im Norden, also zwei Flotten am laufen hatten.«

Der Jarl lächelte den jüngeren Mann an. »Bis dahin sind wir fast schon wieder zu Hause. Oder zumindest weit auf See. Niemand wird eine Reise von mehreren Wochen unternehmen, um uns dumme Fragen zu stellen. Und wer weiß schon, was in einem Jahr passiert. Wahrscheinlich wird kein Hahn mehr danach krähen, bis das Packeis nächsten Frühling wieder schmilzt. Und selbst wenn«, er zuckte mit den Schultern, »hatten wir eben eine schlechte Ernte oder ein Herbststurm hat Falkehaven getroffen.«

»Ich wünschte, es wäre wirklich nur eine schlechte Ernte oder ein Sturm gewesen«, murmelte Alfr mit düsterer Miene. Die missgebildeten Fische waren etwas, das ihn in seinen Träumen verfolgte. Dabei spielte die verstörende Andersartigkeit der Tiere selbst kaum eine Rolle. Die Konsequenzen, die dem Verlust der Fischerträge folgen würden, waren es, die ihn zermürbten. Er hatte Tage damit verbracht, Informationen zu sammeln und Berechnungen anzustellen, nachdem die Verderbnis bei einigen Seelachsen festgestellt worden war. Er war zu dem Ergebnis gekommen, dass inzwischen gut siebzig Prozent der Versorgung des Volkes mit Nahrungsmitteln auf Norselund vom Fischfang abhingen.

Sollte diese Quelle tatsächlich versiegen, würde das Land seiner Väter in Tod und Chaos versinken. Die Folgen wären ungleich schwerer, als es die des Einbruchs des Grau in den ersten Jahren der Fall gewesen war. Selbst wenn sie jedes Jahr den gesamten Nahrungsüberschuss vom Festland aufkauften, wäre das Todesurteil für Tausende unterzeichnet. Und letztendlich waren die Meere der Welt im Grunde eins. Lange würde auch ein Fischsterben an den Küsten des Königreiches nicht auf sich warten lassen, wenn es zum Schlimmsten kam. Dort war das Land nach dem Grau noch fruchtbarer als auf der Insel, doch selbst in den Marken brachte der Ackerbau längst nicht mehr genug ein, um das Volk zu ernähren.

Abrupt wandte er sich vom Meer und seinen Grübeleien ab und Varg zu.

»Hattest du eigentlich vor der Abreise noch Gelegenheit, deine Nichte zu sehen?«, wollte der Jarl wissen.

»Nein«, erwiderte Alfr mit Bedauern in der Stimme, »das war alles zu knapp. Die kleine Talida wird noch ein paar Monate warten müssen, bis sie ihren dicken Onkel kennenlernt. Vendela ist mit dem Säugling in Krakebekk geblieben, es wäre auch noch viel zu früh für so eine lange Reise gewesen.

Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich mich erst einmal aufs Neue in Falkehaven eingewöhnen. Dann sehe ich zu, dass ich es bis zum Herbst entweder nach Krakebekk schaffe. Oder, was mir selbstverständlich lieber wäre, Vendela mit dem Kind nach Falkehaven zu Besuch kommt. Ich habe nicht besonders viel Sehnsucht nach einem längeren Aufenthalt bei meinem Schwager. Von Vorteil wäre natürlich, dass ich mir dort unsere Werft anschauen könnte. Es wäre durchaus interessant, die Anlage einmal selbst sehen zu können, für die ich seit so langer Zeit das Material besorge.«

Die letzten Worte hatte er leise gesprochen, so sehr war ihm die Geheimhaltung der Werft in Fleisch und Blut übergegangen. Nur wenige wussten von den neuen Schiffen, welche dort seit Jahren in einer Zusammenarbeit aller Jarle entwickelt wurden.

»Warst du in letzter Zeit einmal dort, oder kannst mir Genaueres darüber sagen, wie es vorangeht?«, wollte Alfr nun wissen. »Ich sehe zwar ein, dass schriftliche Berichte darüber zu riskant sind, aber interessieren würde es mich schon. Es geht um Schiffe, weißt du, und die sind neben dem Essen mein liebstes Steckenpferd.«

Varg zog eine Augenbraue hoch und lächelte. »Das letztere Steckenpferd solltest du im Auge behalten. Langsam siehst du nicht mehr gesund aus.

Aber um deine Frage zu beantworten, sie kommen inzwischen mit dem neuen Modell recht gut voran, soweit ich informiert bin. Nachdem sie zweimal von vorn beginnen mussten, weil die Konstruktionen zu instabil geworden sind, scheinen sie jetzt auf dem richtigen Weg zu sein. Wie lange es noch dauert, bis wir ein paar echte Schiffe haben, wissen die Götter.«

Alfr nickte langsam. »Das ist gut. Langfristig wird das der Sicherung unserer Grenzen sehr zuträglich sein.«

Er streckte sich und strich dann mit den Händen über sein gewaltiges Wams. »Was mein anderes Steckenpferd hier angeht, das brauche ich nicht aktiv im Auge zu behalten. Es ist ja leider unübersehbar.

Wo wir schon dabei sind, ich weiß wohl, dass ich ein Problem habe. Man kann sich ebenso gut zu Tode fressen, wie man sich zu Tode saufen kann. Mir ist bewusst, dass ich langsam aber sicher ein Alter und eine Gewichtsklasse erreiche, in der ich auf dem besten Wege dahin bin.«

»Nun, so schlimm ist es, denke ich, noch nicht«, meinte Varg beschwichtigend. »Aber es ist wichtig, das man solche Dinge nicht verdrängt. Wie du schon sagtest, ist es ein bisschen wie mit dem Saufen. Wenn man es nicht selbst erlebt hat, glaubt man, dass die Leute merken müssen, wie sie sich zugrunde richten. Aber es ist verdammt leicht, sich selbst zu belügen, bis man völlig im Arsch ist. Die Grenze ist beinahe unsichtbar und man überschreitet sie schleichend. Und wenn man erst einmal in den Abgrund gefallen ist, gestaltet sich der Weg zurück äußerst unerquicklich.«

»Noch geht es mir relativ gut«, meinte Alfr schulterzuckend, »aber wenn ich so weitermache, wird sich das in den kommenden paar Jahren ändern. Ich habe immer viel gegessen und ich habe immer gerne gegessen. Aber was ich seit knapp zehn Jahren tue, hat mit Ernährung wahrhaftig nicht mehr viel zu tun.

Ich fresse, wie die Trunkenbolde, die mittags schon in den Straßen liegen, saufen. Es ist nicht so, dass mir das nicht schon vor einigen Jahren klar geworden ist. Bis ich dreißig war, ging das alles noch, weil ich essen konnte, was ich wollte, ohne richtig fett zu werden. Und wohl auch, weil ich mich um nichts kümmern musste.

Versteh mich nicht falsch, ich liebe es, mich um Falkehaven zu kümmern. Aber je mehr Verantwortung ich übernommen habe, umso mehr habe ich gefressen. Und mittlerweile, naja, du siehst ja, wie ich aussehe. Den ästhetischen Aspekt einmal außen vorgelassen, wird das Ganze langsam zum Problem. Auch wenn Sikah mein Fett nicht zu stören scheint. Sie hat vor ein paar Jahren gemeint, ich sollte mir keine Sorgen machen, und das es sicher schon dickere Jarle als mich gegeben hätte. Inzwischen wäre sie mit so einer Aussage vermutlich etwas vorsichtiger.

Aber wie dem auch sein, ich will die Verachtung, die ich in den Blicken meines hochgeschätzten Schwagers sehe, nicht auch in den Augen anderer Männer sehen. Und wenn ich so weitermache, wird das nicht mehr lange dauern. Selbst in Falkehaven nicht, wo man mich höher schätzt und respektiert als irgendwo sonst.

Dieser Tage, wo Nahrung noch immer vielerorts knapp ist, ist ein fetter Mann gleich doppelt verachtungswürdig. Wenn ich dieses Zeichen von Schwäche weiter mit mir herumschleppe, bin ich selbst schuld. Außerdem gehe ich langsam auf die vierzig zu, was das Ganze nicht besser macht. Ich will nicht als Alfr der Fette in fünf Jahren tot umfallen, weil mir das Herz platzt wie bei einer übermästeten Sau.«

Varg bemerkte, wie Alfr bei den letzten Worten noch blasser geworden war, als er ohnehin schon war. Er konnte sich nur allzu gut in den Mann hineinversetzen. Scham ob der Schwäche paarte sich mit Angst vor einem elendigen, ehrlosen Tod zu einem Gefühl der Leere und Hoffnungslosigkeit. Er selbst war etwa ein Jahr nach dem Tod seiner Lifa an einem ähnlichen Punkt angelangt.

»Ich erzähle dir das nur«, fuhr Alfr seufzend fort, »damit du weißt, dass ich keineswegs die Augen vor meiner Situation verschließe. Und außerdem, weil ich glaube, dass du es am ehesten verstehst. Ich weiß nicht, wie ich es angehen soll, aber ich bin mir der Tatsache bewusst, dass ich bald etwas tun muss. Spätestens nächstes Jahr.

Vielleicht ist das Essen bei Hof ja so beschissen, dass ich schon ein paar Pfund verloren habe, wenn wir die Rückreise antreten.«

Varg erwiderte sein sardonisches Grinsen, schüttelte aber leicht den Kopf.

»Da muss ich dich, fürchte ich, enttäuschen. Das Essen ist für gewöhnlich exquisit. Aber falls es dich aufmuntert, die Gesellschaft bei Tisch wiederum ist dem Verderben des Appetits zumeist überaus förderlich.«

Der Jarl legte dem jüngeren Mann die Hand auf die Schulter.

»Vielleicht hilft es dir ja schon ein wenig, dass auf unserer Reise nicht überall ständig etwas zu Essen herumliegt. Die Fahrt, aus deiner gewohnten Umgebung herauszukommen, sollte dich nach einer Weile auch ein wenig entspannen. Für die Zeit, bis wir bei Hof angekommen sind, haben sich Verantwortung und Stress für dich zumindest erledigt. Und wenn wir uns erst einmal dort befinden, besteht die größte Herausforderung meist auch nur darin, zu nicken und zu lächeln, ohne dem Geschwätz allzu viel Bedeutung beizumessen.«

»Ich sehe schon, wir nehmen unsere repräsentative Aufgabe überaus ernst«, gab Alfr zurück. »Nun, ich bin jedenfalls wirklich froh, dass Sikah mitkommen konnte. Die Reise scheint ihr gut zu tun und so fühlt sich das Ganze nicht gar so sehr nach verschwendeter Zeit an.«

»Wie geht es ihr?«, wollte Varg wissen, »allgemein, meine ich, nicht im Moment. Dein Vater sagt immer nur, dass sie kränkelt, aber das kann verdammt alles heißen. Wir müssen nicht darüber sprechen, wenn du nicht willst. Aber ich weiß, dass ihr seit Jahren Kinder wollt und ... bei meiner Lifa hat es damals ja auch länger gedauert.«

Alfr sah auf und lächelte den Jarl an. Es rührte ihn, dass die Jahre und unzählige Fässer von Bier, Met und Wein den Schmerz des sonst so harten Mannes noch immer nicht völlig fortgewaschen hatten.

»Viel mehr als das kann ich dir auch nicht sagen, Varg. Sie hat seit jeher kurze Phasen gehabt, in denen sie sich schwach fühlt, das fing an, als sie zwölf oder dreizehn Winter gezählt hat. Sie ist dann kraftlos, wird von Schwindel geplagt und kann kein Essen bei sich behalten. Von diesen Dingen hat sie sich, als sie jünger war, schnell erholt. Das hat immer ein paar Tage gedauert und danach war alles wieder in Ordnung. Ich meine, sie war nie das, was man einen Wildfang nennen würde, so wie meine ältere Schwester einer ist. Aber mit der Zeit sind die schlechten Phasen öfter gekommen und länger geblieben.

Seit ein paar Jahren, vielleicht drei oder vier, kenne ich sie eigentlich nur kränklich. Wenn ich recht darüber nachdenke, sind es jetzt die guten Tage, die kommen und gehen, und nicht umgekehrt. Sie schläft zu viel und isst zu wenig und sie ist meist viel zu schwach.«

Er zuckte mit den Schultern und seufzte Tief, ein Laut voller Hilflosigkeit und Resignation.

»Ich nehme an, was uns an Heilern und Kräuterfrauen zur Verfügung steht, habt ihr schon ausprobiert?«, fragte Varg.

»Ja, immer mal wieder. Aber du weißt ja, wie das ist. Ein Leiden mit einem Dutzend Symptomen, das bedeutet meist hundert Heilmittel und Medizinen, die allesamt nichts taugen. So ist es auch hier. Im Grunde weiß niemand, was ihr eigentlich fehlt.«

»Den Vorschlag, einen der höheren Priester aufzusuchen, wenn wir schon im Zentrum der Macht der Kirche sind, kann ich mir vermutlich sparen«, meinte Varg. Der Blick, den der Mann ihm halb amüsiert zuwarf, war beredt genug und der Jarl nickte. »Nun, vielleicht kann Darane sie sich auf der Reise mal anschauen. Er ist kein Heiler, aber ein fähigerer Magier als die Bande auf dem Festland, möchte ich meinen.

Und falls ihr das nicht möchtet, können vielleicht unsere neuen Verbündeten helfen. Die Druiden der Vannbarn sind laut dem Zauberer nicht so mächtig, wie die unseren es vor dem Krieg waren, aber einen Versuch ist es allemal wert, denke ich.«

»Du traust diesem dunklen Mann«, Alfr machte eine Kopfbewegung in Richtung der Kabinen, wo Darane sich irgendwo aufhalten musste, »wirklich sehr, nicht wahr?«

»Ja, das tue ich«, erwiderte Varg. »Ich weiß, dass ich damit so ziemlich allein stehe.« Er zuckte mit den Schultern.

»Ich verstehe«, murmelte Alfr und hob dann wieder den Kopf. »Ich weiß nicht so recht, was Darane angeht, aber ich werde mit Sikah darüber sprechen.

Auf jeden Fall danke ich dir. Ich persönlich wäre wirklich froh, wenn wir irgendwann im Laufe des Jahres die Möglichkeit hätten, Sikah mit einem Druiden zusammenzubringen. Deine neuen Vasallen mögen einer anderen Kultur angehören und uns fremd erscheinen, aber das Druidentum ist tief im Herzen unseres Volkes verwurzelt. Wenn ihr etwas helfen kann, dann diese alte Kraft.«

Varg nickte und klopfte ihm auf die Schulter. »Dann werden wir uns darum kümmern, sobald wir wieder zu Hause sind.«

Die zwei Männer standen noch lange schweigend an der Reling. Der Anblick des zerwühlten, dunklen Meeres, das unter dem stahlgrauen Himmel dahinrollte, tat ihrer beider Gemüter gut.

Alfr spürte, wie dieses Gespräch viel von der Anspannung von ihm genommen hatte, die er dieser Tage mit sich herumtrug. Er zweifelte nicht daran, dass sie sich bald wieder aufbauen würde, dafür würden seine Grübeleien schon sorgen. Aber es war gut, über Dinge sprechen zu können, mit denen er sich sonst niemandem anvertraute. Seinen Vater und Sikah wollte er nicht mit seinen Ängsten und Problemen belasten. Engere Vertraute hatte er nie gehabt, wie so viele Kinder von hoher Geburt.

Er war froh, dass der Jarl von Ulfrskógr, seit Jahren der Mensch, der seinem Vater am nächsten stand, auch ihm in Freundschaft verbunden war.

Alfr ahnte nicht, dass er sich in Kürze an jeden Trost klammern würde, der ihm geblieben war. So behielt er diese Reise an der Seite seiner Gemahlin als eine schöne, unbeschwerte Zeit in Erinnerung.

Blutherbst

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