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5. Kapitel 4

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Sighold

Die Flure des nördlichen Teils des Schlosses waren zu dieser frühen Morgenstunde menschenleer. Die Dienerschaft war natürlich bereits seit Längerem auf den Beinen und ging ihrer Arbeit nach. Herren und Gäste hingegen, die sich jederzeit frei bewegen konnten, schliefen zumeist noch. Oder aber sie waren damit beschäftigt, sich auf das Frühstück vorzubereiten.

Ginevra hatte diese ersten Stunden des Tages schon in Kindertagen für sich entdeckt. Im Laufe der Zeit war zwischen der Kronprinzessin und ihren Eltern eine Art stilles Einvernehmen entstanden. Sie ging früh zu Bett und kam den lästigen Pflichten ihres Standes ohne zu murren nach. Damit erkaufte sie sich freie Stunden wie diese. Und darüber hinaus ein Maß an Freiheit, von dem andere Kinder der Aristokratie des Reiches nur träumen konnten.

Kurz nach ihrem zehnten Geburtstag, also seit inzwischen über vier Jahren, hatte sie mit diesem außergewöhnlichen Tagesablauf begonnen. Sie holte sich ihr Frühstück zumeist in der Küche oder ließ es ganz ausfallen. Oft genügten ihr auch ein oder zwei Äpfel. Außerdem war es ihr gestattet, an Tagen, an denen sie sonst keine Verpflichtungen hatte, mit dem Mittagessen zu beginnen, wann sie mochte. Gemeinsame Mahlzeiten der gesamten königlichen Familie gehörten ohnehin in eine Zeit, an die sie sich kaum noch erinnern konnte.

Wenn sie das Schloss am frühen Morgen hinter sich gelassen hatte, begannen die Stunden, die für sie die allerkostbarsten waren und die jenes eine Gut darstellten, für das es sich für sie zu leben lohnte. Sie beeilte sich an jedem Tag, so schnell wie möglich zu den Stallungen zu kommen. Zeit mit den Pferden und Hunden des Hofs zu verbringen, war seit jeher die liebste Beschäftigung des kleinen Wildfangs, der sie schon mit sechs Jahren gewesen war.

Sie liebte jeden Aspekt daran, den Umgang mit den Tieren und das Reiten selbst, wie auch das Gefühl von echter Freiheit, dass es ihr vermittelte. Die war freilich eine Illusion, was nichts daran änderte, dass sie die einzige Freiheit war, die sie höchstwahrscheinlich je erfahren würde. Sie hatte sich eine eigene kleine Welt innerhalb ihres goldenen Käfigs erkämpft und tat, was immer nötig war, um sie sich so lange wie möglich zu erhalten. Sogar an der Jagd hatte sie im letzten Jahr einige Male teilnehmen dürfen. Sie erlegte in der vergangenen Saison zwei Rehe und einmal sogar ein Wildschwein. Es war ihr nur darum gegangen herauszufinden, ob sie es fertigbrachte zu töten. Das tat sie, aber es bereitete ihr ebenso wenig Freude wie die Gesellschaft ihres gefühlskalten Vaters und seiner herzöglichen Stiefellecker. Denn nicht mehr als das waren die Vertrauten und die sogenannten Freunde des Königs in ihren Augen. Das galt ebenfalls für den Großteil vom Rest der Aristokratie des Reiches.

Sie kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass ein solcher Mann keine Freunde hatte. Und ebenso kannte sie, trotz ihrer Jugend, die Menschen gut genug, um zu wissen, dass jeder einen solchen Mann fürchtete. Das galt umsomehr, wenn er über die Macht eines Königs verfügte. Sie hatte die Adligen in der Nähe ihres Vaters auf den Jagdgesellschaften sehr aufmerksam beobachtet, wie sie es stets mit allem in ihrer Umgebung tat. Es gab das übliche bunte und unappetitliche Treiben auf der Jagd, das Fressen, Saufen und Prahlen. Kurzum genau das, worum es den feisten Schweinen ohnehin in erster Linie ging, gewiss. Ginevra entging jedoch nicht, dass selbst die Herzöge und ihre Söhne sich in der Nähe ihres Vaters nie wirklich gehen ließen oder entspannten. Dabei neigte der König weder zum Jähzorn, noch konnte man ihn als über die Maßen ungerechten Mann bezeichnen. Aber kalt war er, verschlossen und damit doch nie ganz berechenbar.

Sie selbst hatte früh gelernt ihn ebenso zu meiden, wie sie es inzwischen bei den meisten anderen Menschen von Stande tat. Sie hielt sich von all den Hofschranzen fern, so gut sie es vermochte. Überhaupt konnte sie sich nur dann entspannen, wenn sie entweder mit den Tieren allein war, oder sich in Gesellschaft einiger besonderer Diener befand. Der alte Stallmeister zählte dazu, ebenso der betagte Hufschmied. Diese Männer verkörperten für sie ein Leben, das ihr verwehrt war. Ein Leben mit einem Inhalt, einer Aufgabe und vielleicht so etwas wie einem Sinn. Das Treiben bei Hofe war ihr schon immer zutiefst zuwider gewesen. Die Arbeit mit den Pferden hingegen erfüllte sie, das Erkennen des Charakters eines Tieres und das selbstlose Erfüllen seiner Bedürfnisse. Oder eine so simple Freude wie das Bogenschießen. Ihr lag nichts an der Jagd an sich, aber der Umgang mit dem Bogen faszinierte sie. Die Mischung aus Kraft und Konzentration, die man benötigte, um mit einer ordentlichen Waffe ein weit entferntes Ziel zu treffen, war ebenso fordernd wie befriedigend. Diese einfachen, greifbaren und echten Dinge liebte sie über alles. Wenn sie zumindest ein paar Stunden am Tag auf diese Weise verbrachte, fühlte sie sich geerdet und halbwegs geborgen. Sie wusste nicht, wie sie die gekünstelte Welt der Aristokratie ohne einen solchen Ausgleich ertragen sollte.

Einmal, als ihr Vater erfahren hatte, dass sie selbst die Ställe ausmistete, hatte er abfällig bemerkt, dass sie sogar lernen würde, wie man den Tieren die Hufe beschlüge, wenn man sie gewähren ließe. Sie hatte ihm nur dieses dünne, eisige Lächeln geschenkt, das damals noch allein ihm vorbehalten war, und geflissentlich den Mund gehalten.

Wenn es nach ihr ginge, würde sie sogar lernen, wie man die Hufeisen schmiedete. Sie hätte auch gerne richtig zu fechten gelernt, ein wenig konnte sie es schon, aber das hatten beide Elternteile abgelehnt. Und wenn selbst Mutter gegen sie stand, lagen die Dinge denkbar schlecht. Sie wusste, dass die Damen, wenn man sie so nennen wollte, bei den Nordländern aus dem fernen Norselund ebenso selbstverständlich das Kämpfen lernten wie das Lesen und Schreiben. So hieß es jedenfalls. Das war jedoch kaum als Argument geeignet, denn jede Diskussion mit ihrem Vater war ohnehin eine zu viel, und die Belange der Insel in Nordmeer stellten immer ein schlechtes Gesprächsthema dar.

Sie beschränkte sich also darauf, ihr Können mit dem Bogen zu vergrößern, übte mit dem Jagdspeer und versorgte die Tiere. Sie hatte eine Zeit lang in Erwägung gezogen, heimlich jemanden zu bezahlen, damit er sie im Fechten unterrichtete, dieses Vorhaben aber bald wieder aufgegeben. Zu groß war die Gefahr, dass eine solche Sache aufflog. Und zu schrecklich die Folgen für den Unglücklichen, der ihr Zudiensten gewesen wäre.

Während die Nacht gerade begann, dem Morgen zu weichen, durchquerte sie mit schnellen Schritten die Flure und Gänge. Sie war auf dem Weg zu den Stallungen und trug ihre dafür übliche Aufmachung. Hohe Stiefel aus dunklem, abgenutzten Leder, enge Leinenhosen, ein ebensolches Hemd und eine dicke Wolljacke. Ihr lockiges, kastanienbraunes Haar hatte sie im Nacken mit einem Lederband zusammengebunden. Sie war groß für ihr Alter, schlank und trainiert, eine erblühende Schönheit, die umso natürlicher wirkte, da sie keinen Wert auf ihr Aussehen legte.

Im Gegenteil hätte sie gerne auf dieses Aufblühen ihrer Weiblichkeit verzichtet, und das aus mehr als einem Grund. Zum einen war da die widerliche Lästigkeit, die in ihren Augen die monatlichen Blutungen darstellten. Besorgniserregender aber gestalteten sich die Implikationen, die mit ihnen einhergingen. Eine Frau ihres Standes würde sich unter den gegebenen Umständen in Kürze mit Werbung und Heirat beschäftigen müssen. Oder vielmehr, und das war das eigentlich Schreckliche daran, fiel diese Aufgabe ihren Eltern zu. Ihr selbst blieb nicht viel mehr, als deren Entscheidungen zu ertragen. Wie gerne hätte sie auf die Rundungen an Hüfte und Brust verzichtet, auf die andere Mädchen ihres Alters so sehnlich warteten. Nicht nur, dass sie kein Interesse an dummen jungen Männern hatte. Dabei spielte es keine Rolle, ob es um einen dreckigen Stallburschen handelte, oder um die geleckten Bücklinge aus den Familien der herzöglichen Vasallen, deren Avancen sie zweifellos bald über sich würde ergehen lassen müssen.

Vor allem sah sie sich durch eine bevorstehende Heirat der Möglichkeit beraubt, ihr Leben so fortzusetzen, wie sie es gewohnt war. Die Balance zwischen Pflicht und Freiheit, die ihr Leben bestimmte und die sie so hart erkämpft hatte, würde zerstört werden. Sie empfand panische Angst bei dem Gedanken, ihre Tage nur noch mit Handarbeiten und Tanz zu verbringen. Besonders Letzteren verabscheute sie mit Inbrunst. Sie wollte ihren Körper spüren und sinnvoll benutzen, und nicht zu Musik, die sie lächerlich fand, herumhopsen wie eine Närrin. Ganz davon abgesehen, dass sie genau wusste, dass diese Übung nur zu bald irgendwelchen rotgesichtigen Jünglingen dazu dienen würde, ihren erblühenden Körper zu betatschen.

Sie bewegte sich rasch, sicher und fast lautlos über den getäfelten Boden. Bevor sie sich die Freiheit, sich auf dem Land um das Schloss herum frei zu bewegen erkämpft hatte, waren die Gänge und Räume des Bauwerkes selbst die Welt gewesen, die sie erkundet hatte. Sie kannte jede Tür, jeden Raum und jeden Flur in Sighold. Ganz allein war sie in den frühen Jahren ihrer Kindheit herumgestreunt und hatte jeden noch so entlegenen Winkel ausgekundschaftet. Mit den anderen Mädchen war es im Grunde das gleiche Problem wie mit den Jungen. Entweder man hatte es mit duckmäuserischen, verängstigen Bediensteten zu tun, oder mit verwöhnten, affektierten Höflingen. Letztere pflegten sich für eben jene Dinge zu interessieren, die Ginevra verabscheute und die sie langweilten. Die Königin hatte immer geglaubt, dass ihre Tochter kaum Freundinnen habe. Die Prinzessin hatte es wohlweißlich verstanden, sie in diesem Glauben zu lassen. Die Wahrheit war, dass sie keine Einzige hatte. Sie kannte es nicht anders und vermisste so auch nichts.

Die einzige menschliche Wärme, die sie kannte, bestand in der tiefen Sympathie der betagten Stallmeister, Hufschmiede und Falkner. Die alten Männer respektierten sie für ihren liebevollen und kundigen Umgang mit den Tieren ebenso, wie für ihre Zuverlässigkeit und Disziplin. Sie selbst fand bei den einfachen, rauen Gesellen einen Hauch von Geborgenheit. Ein kümmerlicher Ersatz für die nie erfahrene väterliche Wärme, aber besser als gar keiner. Sie gab sich Mühe, nicht über solche Dinge nachzudenken, war sich aber durchaus der Tatsache bewusst, das sie ziemlich verdreht im Kopf war.

Rasch bog sie in einen Gang ein, der nur noch gelegentlich zu ihrem morgendlichen Weg gehörte. Eine Weile hatte sie diesen kurzen Umweg jeden Tag gemacht, doch nun besuchte sie die Gemächer von Benjamin nur noch einmal die Woche. Genau genommen, dachte sie schuldbewusst, ist das letzte Mal nun schon neun Tage her. Ihr Verhältnis zu ihrem kleinen Bruder war immer ein ungewöhnliches gewesen, obschon nie ein schlechtes. In der Hauptsache wurde es von ihrer eigenen Stärke und Unnachgiebigkeit geprägt. Der Prinz war ein aufgewecktes, munteres und unkompliziertes Kind. Doch er war eben ein Junge, und der versuchte irgendwann, seine Schwester zu drangsalieren. Dass sie zwei Jahre älter war, spielte dabei keine Rolle, schließlich war sie nur ein Mädchen. Zu seiner Bestürzung hatte der junge Thronfolger feststellen müssen, dass Ginevra stärker war als er und sich darüber hinaus mit einer Wildheit zur Wehr setzte, die ihm Angst machte.

Dieses Kräfteverhältnis, festgelegt als die beiden gerade sechs und acht Lenze zählten, war in den kommenden Jahren unverändert geblieben. Sie trugen ab und an ihre kleinen Kämpfe aus, körperlich wie mental, wie das bei Geschwistern eben der Fall war. Der Prinz musste jedoch schnell einsehen, dass er der älteren Schwester in allen Bereichen unterlegen war. Ein aggressiverer Geist hätte darauf vielleicht mit Zorn oder gar Hass reagiert, doch Benjamin war von tiefstem Herzen sanftmütig. Er resignierte einfach. Das tat er ohne große Bitterkeit, woran Ginevra ihren Anteil hatte.

Die Prinzessin trug zwar viel vom Eisen ihres Vaters in sich, glücklicherweise aber auch etwas von der Rationalität und Liebenswürdigkeit der Königin. Sie nutzte ihre Stärke, der sie sich sehr wohl bewusst war, nicht aus, um den kleinen Bruder zu drangsalieren, und sie zog ihn auch nicht mit seiner Unterlegenheit auf. Sie sorgte nur für klare Verhältnisse, wann immer sie es für richtig hielt. Dann jedoch mit einer Erbarmungslosigkeit, die dem König selbst zur Ehre gereicht hätte.

Auf diese Weise hatte das königliche Geschwisterpaar die ersten gemeinsamen Lebensjahre auf gesunde und zu weiten Teilen respektvolle Art miteinander verbracht. Ginevra hatte damit gerechnet, dass sich zumindest die physischen Unterschiede mit den Jahren zugunsten von Benjamin verschieben würden. Sowohl sein Geschlecht als auch das Kampftraining, das dem Prinzen im Gegensatz zu ihr zuteilwurde, mussten auf ganz natürliche Art und Weise dafür Sorgen. Irgendwann würde er größer, kräftiger oder ganz einfach geschickter im Umgang mit seinem Körper sein als sie. Sie hatte dieser Aussicht gelassen entgegensehen. Ihre Dominanz war mit den Jahren so fundamental geworden, dass sie eine solche Verschiebung der Kräfte zwischen ihnen sogar begrüßte. Auf lange Sicht konnte sie eine gesunde Ausgeglichenheit in ihr Verhältnis bringen. Das mochte dafür sorgen, dass sie auch im Erwachsenenalter gut miteinander auskamen. Das war etwas, das sie sich wünschte, denn sie liebte ihren kleinen Bruder. Ebenfalls keine Selbstverständlichkeit in den Reihen der Aristokratie.

Wie es nun aussah, würde es jedoch nie dazu kommen. Die Entwicklung des Prinzen war, gelinde gesagt, rückläufig. Während sie zu den Gemächern ging, in welchen Benjamin seit einigen Wochen lebte, wappnete sie sich gegen seinen Anblick. Sie tat das auf die gleiche Art, wie sie sich jeden Tag, nachdem ihre Zeit bei den Pferden vorbei war, gegen das wappnete, was ihr der Tag bei Hof brachte. Es war ein innerer Panzer, eine bewusste Gefühlskälte, die sie heraufbeschwören konnte, wann immer sie wollte. Sie schuf damit die Distanziertheit zu ihrem Umfeld, die alles war, was sie der Welt entgegenzusetzen hatte.

Vor einer Tür aus rötlichem, feingemaserten Holz kam sie zum Stehen. In diesem Teil des Schlosses befanden sich unter anderem die Gästequartiere. Daher hatte man hier solch edles Material verbaut. Exotisches Edelgehölz aus dem fernen Haquadelaor war nur eine der verschwenderischen Kostbarkeiten, welche in diesem Flügel die einfachen Baustoffe ersetzt hatte. Zierholz, Gold und Seide, anstatt Eiche, Eisen und Wolle. Ein Grund mehr, aus dem Ginevra diesen Teil für gewöhnlich mied. Sie zog die Schlichtheit von grobem Stein und Eisenholz dem vermeintlichen Luxus vor. Ersteres vermittelte ihr wenigstens ein Hauch von Geborgenheit aus frühen Kindertagen. Letzteres stand symbolisch für alles, was sie an ihrem Leben verabscheute.

Sie stieß die polierte, auffallend leichte Tür auf und schlüpfte in einen geräumigen, größtenteils leeren Flur. Von hier gingen drei weitere Türen ab, ebenfalls aus dem feinen, rötlich schimmernden Holz gefertigt, aus dem die Eingangstür bestand. Wunderschön anzuschauen, kaum halb so schwer wie härtere Holzarten und mehr Zierde als Schutz. Sie führten in drei große, rechteckige Räume. Hinter der Tür im Westen erstreckten sich die größten Gemächer, die zugleich Küche und Waschraum darstellten. Nach Osten lag die Kammer ihres Bruders, auf die Ginevra nun zuging. Sie warf im Vorbeigehen einen Blick auf die zu zwei Dritteln geöffnete Tür im Süden.

Dort befand sich das Zimmer der Bediensteten, die ihre Mutter eingestellt hatte. Ihre Zofe Melina hatte die Frau namens Griselda vorgeschlagen, als klargeworden war, dass der Zustand des Prinzen ihn langfristig der Pflege bedürftig machte. Seit einigen Wochen kümmerte sie sich jetzt schon um Benjamin. Sie war eine Witwe von außerhalb, laut Melina aus dem westlichen Grenzland von Stennward. Sie hatte weder Verwandte noch Bekannte in Sigholm und war erst vor Kurzem in die Stadt gekommen. Eine alleinstehende Frau mittleren Alters, die nach dem Tod ihres Mannes noch einmal irgendwo neu anfangen wollte. Die Kammerzofe der Königin hatte schnell Vertrauen zu den Fähigkeiten der Fremden gefasst und, wie sich inzwischen gezeigt hatte, damit recht behalten.

Griselda war von kleinem Wuchs, hatte aber die Statur einer zähen Feldarbeiterin, sehnig und knochig. Schultern und Hüften waren gleichermaßen ausladend und kräftig, ihr Busen hing, frühzeitig erschlafft, über einem massiven Brustkorb. Das Gesicht passte zum Rest ihrer Erscheinung. Es war breit und trotz der hohen Wangenknochen völlig reizlos. Die Nase war groß und schief, so als ob sie vor vielen Jahren gebrochen und nicht ordentlich gerichtet worden war. Überhaupt gab es an dieser Frau keine Symmetrie, weder im Antlitz noch am Körper. Sie war ganz einfach nur hässlich. Jetzt strich sie sich eine Strähne graublonden Haares aus ihrem ungeschlachten Gesicht und schenkte der Prinzessin ein breites Lächeln.

Ginevra erwiderte es unwillkürlich und hob die Hand zu einem kurzen, beinahe kindlichen Begrüßungswinken. Sie mochte die Frau, die ebenso gut vierzig wie fünfzig Jahre alt sein konnte. Sie erschien auf den ersten Blick verbraucht und verlebt, bewegte sich jedoch behände und strahlte Vitalität und Energie aus.

Die Art Frau, dachte sie im Stillen, die man noch in einem Alter auf dem Feld arbeiten sieht, in dem die feinen Damen sich beinahe schon zum Pissen tragen lassen. Die Zofe war eine einfache aber resolute Frau. Sie nahm die Aufgabe, sich um das Wohl des kranken Thronfolgers zu kümmern, ernst ohne vor der Verantwortung zurückzuschrecken. Es hatte nicht lange gedauert, bis man ihr die Obhut über Benjamin vorbehaltlos überlassen hatte. Sie sorgte dafür, dass er so viel aß, wie eben möglich war, kümmerte sich um seine Sauberkeit und ließ ihm Bewegung zukommen, soweit sein Zustand das zuließ. Auf der anderen Seite achtete sie darauf, dass er sich nicht überanstrengte und ihm kein Unbefugter zu nahe kam. Außer der Familie und dem alten Erzbischof ließ sie ohne vorherige Ankündigung niemanden in diese Räume.

Im Rahmen dieser Aufgabe hatte sie ihre absolute Unerschrockenheit bereits unter Beweis gestellt. Als der Bischof einmal verhindert war, und einen Priester als Vertretung geschickt hatte, war der Geistliche nach einigem Gezänk unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Laut schimpfend und mit hochrotem Kopf kehrte er später mit einer schriftlichen Erlaubnis der Königin zurück. Es kam nicht oft vor, dass einem Diener Gottes von einer Kammerzofe die Tür versperrt wurde. Man munkelte, dass der Mann sogar mit körperlicher Gewalt gedroht habe, woraufhin die kleine aber kräftige Frau ihn nur auslachte. Eine Dienerin hatte den Streit offenbar belauscht. Ihr zufolge hatte die alte Zofe den Priester eingeladen sie anzufassen, damit sie ihm, so wörtlich, den Kopf in den Arsch stecken könne. Diese ebenso freche wie unflätige Unerschrockenheit war ein Wesenszug, den Ginevra bewunderte. Griselda war für gewöhnlich so höflich, dass man ihr den niederen Stand kaum anmerkte, aber sie hatte einen starken Hang zur Respektlosigkeit, mit dem sie ständig zu ringen schien.

Als sich ihre Blicke nun trafen, blitzen die verwaschenen grauen Augen der Alten fröhlich auf. Sie waren groß und wohlgeformt, wirkten alterslos und stets irgendwie verträumt. Sie sind das einzig Schöne an ihr, dachte Ginevra unwillkürlich.

»Ein kleiner Frühbesuch, bevor das Prinzesschen mit ihren Pferden herumtollen geht?«, wollte die Zofe mit einem schelmischen Grinsen wissen.

Sie hatte nicht laut gesprochen, damit niemand außerhalb ihrer Räume die flapsige Anrede hören konnte. Wie immer war ihre Stimme rau, schien beinahe belegt zu sein, und von so dunklem Klang, das sie unweigerlich sinnlich war. An dieser kleinen und hässlichen Frau wirkte diese Schlafzimmerstimme irgendwie obszön, wie ein normalgroßer Penis an einem Zwerg.

Ginevra konnte nicht anders, als das Grinsen zu erwidern. Es fühlte sich unglaublich gut an, weil sie es fast nie tat, doch wie leicht sie diese Frau um den Finger wickelte, erweckte auch immer ein gewisses Unbehagen in ihr. Hätte irgendjemand sonst in diesem Ton mit ihr gesprochen, ob Diener oder die Königin selbst, so hätte er sie sofort an den Rand eines Wutanfalls gebracht.

»Wie geht es ihm?«, wollte sie wissen, »ist er wach?«

»Aye, er ist mehr oder weniger wach. Wie das bei ihm halt so ist«, antwortete Griselda und ihr Lächeln erblasste, verschwand aber nicht völlig. »Geht wie immer. War schon besser, war schon schlechter. Der Kirchenmann soll heute Nachmittag wiederkommen. Manchmal geht es ihm danach für zwei oder drei Tage etwas besser, manchmal bringt es überhaupt nichts.«

Die grobschlächtige Frau zuckte mit den knochigen Schultern, wand sich um und ging wieder in den großen Raum im Westen. Ginevra folgte ihr ein Stück und sah, dass sie einen bauchigen Topf mit Getreidebrei von der Feuerstelle nahm, während sie den Inhalt umrührte.

»Ist mir bei dem Geschwätz doch beinahe die Lumpenmatsche angebrannt«, murmelte sie kopfschüttelnd.

Die Prinzessin biss sich auf die Zunge, um nicht zu kichern. Die Zofe befleißigte sich ohnehin eines drollig klingenden Dialektes, den sie nicht einzuordnen vermochte. Es war eine Art Kauderwelsch aus der gebräuchlichen Hochsprache und der Mundart der Ostmark, enthielt aber auch Brocken von anderen Kulturen, wie das norselunder »aye« und »nay« zum Bejahen und Verneinen. Alles in allem war es einfach amüsant ihr zuzuhören, weil ihr Mund außerdem lustige Dinge mit den Vokalen anstellte. Es war fast, als singe sie manche Worte. Eigenwillige Bezeichnungen, wie Lumpenmatsche für Haferbrei oder rückwärts Frühstücken, wenn der Prinz sich ab und an erbrach, setzten der blumigen Ausdrucksweise die Krone auf.

»Geh ruhig einen Moment zu ihm, kann nicht schaden, wenn er ein bisschen wach und abgelenkt ist. Werd gleich, wenn es abgekühlt ist, wieder versuchen, soviel wie möglich von dem Zeug hier in ihn reinzustopfen und hoffen, dass es drin bleibt. Immer eine echte Freude, mit dem Prinzen zu frühstücken«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.

Mit zuckenden Mundwinkeln ging Ginevra hinaus, öffnete die andere Tür und schlüpfte in das halbdunkle Gemach ihres Bruders. Griselda war heute eindeutig in ihrer ganz speziellen Stimmung, einer Art grimmiger Ausgelassenheit, die sie ab und an befiel. Als ihr Blick den auf dem Bett liegenden Körper des Prinzen traf, verwehte Ginevras Anflug von guter Laune wie Nebel im Wind.

Benjamin war angekleidet, er trug Hose, Hemd und Schuhe aus dunkelblau gefärbtem Leinen. Er lag auf den sauber gefalteten Laken, die Hände über dem kaum vorhandenen Bauch zusammengelegt. Sein Kopf lag auf der Seite, das Gesicht der Tür und damit der noch unerkannten Besucherin zugewandt. Das braune Haar, einst von so strahlendem Kastanienbraun wie das ihre, war sehr kurz geschnitten worden und erschien auf seltsame Weise dünn und farblos. Seine Haut spannte sich blass und fleckig über das Gesicht und wirkte beinahe durchscheinend. Von dem etwas feisten Jungen, der gerne aß und zu Übergewicht neigte, war nichts mehr zu sehen.

Über sein Gewicht braucht sich Vater keine Sorgen mehr zu machen, dachte sie bitter. Ein dicker, kleiner Thronfolger, diese Schande wird ihm erspart bleiben.

Sie schritt leichtfüßig und lautlos über den dichten Wollteppich zum Bett hinüber. Für einen Moment schaute sie in das blasse, erschöpfte Gesicht ihres Bruders. Er würde im Oktober zwölf Jahre alt werden, sie selbst im kommenden Januar fünfzehn. Wie sie so auf ihn herabschaute, stieg die unweigerlich die klamme Frage in ihr auf, ob er diesen Geburtstag noch feiern würde. Doch natürlich sah er so schon seit vielen Wochen aus. Im Grunde schon seit den ersten Tagen, nachdem ihn die missgebildete Katze gebissen und mit irgendetwas Schrecklichem angesteckt hatte.

Van Dahlenbrugge, der Erzbischof von Sigholm, den Griselda nur den alten Kirchenmann nannte, hatte ihr erklärt, dass Benjamin nicht in akuter Gefahr sei. Stabil, und so der Herr wollte, auf dem steinigen und langen Weg der Besserung, wie er sich ausgedrückt hatte. Ginevras Meinung nach war das nichts als dummes Geschwätz. Wenn der alte Mann, dessen Können ihr wohl bekannt war, wirklich etwas über das, was mit ihrem Bruder vorging, gewusst hätte, so wäre die Sache längst vorbei gewesen. Überhaupt sah Benjamin gar nicht mehr aus wie ein Kind oder Heranwachsender. Er sah aus wie ein sehr kleiner, sehr alter Mann, obwohl seine Haut keine Falten hatte. Sein Haar war so dünn, dass es schütter zu werden schien, die Haut blass und graufleckig. Er war fast einen Kopf kleiner als sie und mochte vielleicht noch siebzig Pfund wiegen. Und selbst dieses Gewicht verdankte er nur der rigorosen Fütterung durch Griselda.

Ich stopfe soviel davon in ihn rein wie möglich, hatte die Zofe gesagt, und die Prinzessin konnte sich diesen Vorgang nur zu gut vorstellen. Benjamin hatte überhaupt keinen Appetit mehr und musste sich zu jedem Bissen zwingen. Dabei spielte es keine Rolle, um welche Art von Nahrung es sich handelte, ob um Haferbrei oder um Braten. Daher wählte man das, was für den Magen am bekömmlichsten war.

Vorsichtig nahm Ginevra auf der Bettkante Platz. Wie zerbrechlich er wirkte. Die Brust war eingefallen, die Arme und Beine zeichneten sich wie dünne Stöcke unter dem Stoff der Kleidung ab. Sie legte sanft eine Hand auf seine Stirn und fragte sich, nicht zum ersten Mal in den vergangenen Wochen, ob es nicht besser für ihn gewesen wäre, wenn man den Bischof später gerufen hätte. Ob es nicht eine Gnade dargestellt hätte, wenn er einfach in den ersten Tagen gestorben wäre.

Die Haut unter ihrer Handfläche war merkwürdig rau, aber kalt und frei von Schweiß. Kein Fieber, kein Schwitzen, im Grunde fühlte es sich so an, wie sie sich das Gefühl vorstellte, wenn man einen Leichnam berührte. Dann schlug Benjamin langsam die Augen auf. Es waren große Augen von haselnussbrauner Farbe, die früher ein weites Spektrum von Emotionen auszudrücken vermocht hatten. Oft hatte es sich dabei um Wut, Enttäuschung oder Verwirrung gehandelt, wie Ginevra in diesem Moment bewusst wurde. Doch ebenso oft war es Freude, Liebe und Dankbarkeit gewesen. Nun war sein Blick verschleiert und die Augen bewegten sich nur langsam, irrten im Halbdunkel umher, bis sie schließlich auf ihr zur Ruhe kamen. Ein schwaches Lächeln überzog das kleine, weiße Gesicht und erreichte tatsächlich auch die müden, jungen Greisenaugen.

»Guten morgen, große Schwester«, sagte er mit einer Stimme, die zu hoch war, und dazu brüchig klang wie Papier. Auch dieser Klang passte eher zu einem sehr alten Mann, als zu einem Kind. »Es ist lieb von dir, dass du mich trotzdem noch besuchen kommst.«

Sie runzelte die Stirn und nahm seine kraftlosen Hände in die ihren. Er erwiderte den Druck, aber schwach, so schrecklich schwach.

»Was meinst Du mit trotzdem, Benny, hast du etwas angestellt, vom dem Griselda mir nichts erzählt hat? Habe ich etwas verpasst?«

Sein Lächeln wurde nicht breiter, aber es verblasste auch nicht sofort wieder, wie es sonst der Fall war. Oft hatte man den Eindruck, dass Lächeln und Sprechen zugleich ihn zu sehr anstrengten.

»Ich bin inzwischen ein paar Stunden am Tag wach, auch wenn ich mich kaum bewegen kann. Zum Denken reicht es aber durchaus und mit meinem Kopf ist alles in Ordnung, obwohl ich immer so schrecklich müde bin.« Er räusperte sich kurz und schien gegen ein schmerzhaftes Husten anzukämpfen, bevor er weitersprach. »Ich könnte es verstehen, wenn du nicht mehr kommst. Oder noch seltener als jetzt. Ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte, dich so liegen zu sehen, Gin. Woche für Woche und Monat für Monat ohne eine Besserung.« Er suchte ihren Blick und hielt ihn gefangen. Die tiefe Resignation, die in seinen Augen lag gehörte zu einem Mann, der mindestens viermal so alt war wie er. Dass er in seiner Verzweiflung gleichzeitig eine Stärke ausstrahlte, die sie nie an ihm erlebt hatte, brach ihr fast das Herz.

»Das heißt natürlich nicht, dass ich mich nicht freue, dich zu sehen. Da es nicht besser zu werden scheint, sind deine Besuche und Griseldas Fürsorge das Einzige, über das ich mich noch freuen kann. Das heißt, wenn sie nicht gerade versucht, mir ihre Lumpenmatsche in den Hals zu schieben, bis ich beinahe kotze.«

Ginevra hatte sich gegen die Schwäche und das Leiden ihres Bruders gewappnet. Mit seiner Offenheit und dieser merkwürdigen, traurigen Reife hatte sie nicht gerechnet. Für gewöhnlich war er bei ihren Besuchen im Halbschlaf, oder schien es zumindest zu sein. Wenn sie ehrlich war, hatte sie nicht einmal gewusst, dass er so absolut klar bei Verstand war. Es war einerseits vermutlich ein gutes Zeichen, dass er nicht ständig im Fieber dahindämmerte. Andererseits erfüllte es sie mit Grauen zu erkennen, dass er sich seiner Situation so vollkommen bewusst war.

»Ich weiß«, fuhr er fort, als hätte er ihre Gedanken erraten, »dass du den frühen Tag draußen verbringst. Aber morgens bin ich meist noch schwach und irgendwie vernebelt. Deshalb habe ich oft kaum mitbekommen, dass du da warst. Gegen Nachmittag geht es mir seit ein paar Wochen für wenige Stunden etwas besser. Wenn man das so nennen kann. Schwach wie ein Baby, aber im Kopf ein bisschen ... weniger komisch.«

Er atmete tief und es war offensichtlich, wie sehr ihn das Reden anstrengte. Dennoch schwieg Ginevra und hielt nur weiter seine Hände, ohne ihn zum Schweigen aufzufordern. Zum einen wusste sie nicht, was sie auf seine Worte erwidern sollte, zum anderen spürte sie, wie wichtig es ihm war, mit ihr zu sprechen. Es verging eine ganze Weile, bis er leise weitersprach.

»Nachmittags fährt Griselda seit einiger Zeit für eine Stunde mit einem Zweispänner mit mir aus.«

Sie hob verwundert die Augenbrauen, aber er sprach schnell weiter.

»Nur langsam und nicht sehr weit. Mal bis zum Fluss, mal bis zum Waldrand im Norden. Dann stehen wir eine Weile dumm herum, damit ich etwas frische Luft bekomme und mal etwas anderes sehe als nur die Wände hier. Es war ihre Idee und es tut mir gut. Ich bin hinterher noch müder als sonst, aber ob ich nun hier vor mich hindämmere oder richtig schlafe, spielt wohl keine Rolle. Du glaubst gar nicht, wie wundervoll es sein kann, nach so langer Zeit wieder Bäume und Wiesen zu sehen.

Ich wollte Mutter fragen, ob du uns vielleicht ab und an begleiten könntest. Ich weiß ja, wie sehr du den ganzen Kram, den du nachmittags machen musst, verabscheust. Und, naja, ich dachte, meine Gesellschaft könnte weniger unerquicklich für dich sein, als das Stricken und das Tanzen. So wärst du ein bisschen mehr draußen und wir können noch etwas Zeit miteinander verbringen. Zeit, in der ich deine Nähe auch mitbekomme.

Ich würde mich wirklich sehr freuen. Ich meine, du weißt schon, im Moment geht es ganz gut, aber es weiß ja niemand wie lange ...«, er zuckte mit den Schultern und lächelte sie müde an.

Sie schluckte schwer und musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um die Tränen niederzukämpfen, die in ihr aufstiegen. Eine abgrundtiefe Traurigkeit ergriff sie so plötzlich, dass sich ihr Magen zusammenkrampfe. Sie drückte seine Hände etwas fester und war überrascht, wie ruhig ihre Stimme klang.

»Natürlich begleite ich euch, wenn Mutter es erlaubt. Ich wusste ja gar nicht, dass du überhaupt hinauskannst.«

Und wenn Mutter es nicht erlaubt, dann zur selben Hölle mit ihr wie mit Vater, fügte sie in Gedanken stumm hinzu.

»Nein, wie auch, nachmittags quälen sie dich ja mit dem Lernen«, sagte Benjamin. »Und morgens bin ich für gewöhnlich noch nicht ganz da. Griselda hatte angeboten, dich zu fragen. Aber ich wollte es selbst tun. Es gibt so wenig Dinge, die ich noch selbst tun kann. Es ist schön, dass ich es jetzt endlich geschafft habe. Wenn es dir wirklich nichts ausmacht, würde ich mich ehrlich freuen. Es wäre schön, ein wenig von der Zeit, die mir noch bleibt, mit dir zu verbringen.«

»Nun hör aber auf«, sagte sie sanft und jetzt war ihre Stimme nicht mehr ganz so fest wie zuvor. »Dahlenbrugge sagt, dass es dir irgendwann wieder gut gehen wird. Und selbst wenn er das schon so lange sagt, dass es schwerfällt, ihm das zu glauben, sind sich alle sicher, dass du das Schlimmste hinter dir hast.«

Im müden Blick ihres Bruders blitze eine Spur von Spott auf.

»Schlimmer als das hier wird es nicht mehr, Gin. Ich mag ja immer der Faule von uns beiden gewesen sein, aber nach drei oder vier Schritten erst einmal ein paar Atemzüge ausruhen zu müssen, ist doch zu viel des Guten. Oder eher des Schlechten. Glaub mir Schwesterchen, schlimmer als das hier, kann nichts sein, nicht einmal der Tod.

Ich möchte wieder gesund werden, wirklich. Es gibt nichts, das ich mir mehr wünschen würde. Wenn ich wieder gesund werde, lerne ich alles, zu was ich vorher keine Lust hatte. Ich werde mit dir Reiten, wenn du möchtest, und Fechten trainieren. Scheiß auf das, was unsere Eltern davon halten, wir schleichen uns einfach für eine Weile fort. Ich habe nie gewusst, was für ein Geschenk es ist, wenn man laufen und springen kann.«

Sein Blick wurde glasig und er atmete dreimal tief ein und aus.

»Ich möchte das wirklich alles wieder können, aber wenn ich morgens einfach nicht mehr aufwache, ist das auch schon besser als das hier.«

Es folgte ein Schweigen, das sich unangenehm lange hinzog. Ginevra wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie traute sich auch nicht zu sprechen, weil sie die Tränen spürte, die sie nicht vergießen wollte. Nicht vergießen durfte, denn wenn die Dämme jetzt brachen, gab es vielleicht kein zurück mehr. Und Schwäche war etwas, dass man sich in diesen Mauern, in der Familie des Königs, nicht leisten konnte.

»Aber wie dem auch sei«, fuhr der sichtlich erschöpfte Prinz schließlich fort, »ich freue mich wirklich, dass du uns bei den Spazierfahrten begleiten magst. Ich werde Mutter fragen, oder vielleicht lasse ich das auch von Griselda machen, das ist nicht so wichtig. Sie kommt gut mit Mutter und Melina aus, besser als du oder ich wahrscheinlich. Vielleicht können wir dann nächste Woche schon das erste Mal zusammen raus.

»Das fände ich wirklich schön«, erwiderte sie sofort und lächelte. Sie freute sich aufrichtig über diese Entwicklung, nicht nur, weil ihr dadurch unter Umständen die eine oder andere Stunde lästiger Pflicht erspart bleiben würde. Es war auch ein gutes Zeichen, dass Benjamin überhaupt wieder aufstehen konnte.

Und letztendlich hatte er völlig recht, ganz gleich, was der Erzbischof oder sonst jemand sagen mochte. Wer wusste schon, wie viel gemeinsame Zeit ihnen noch blieb? Ihr Bruder war der Einzige in der Familie, von dem sie aufrichtig behaupten konnte, dass sie ihn liebte. Sie hatten beide mehr von diesen Stunden, wenn er kräftig genug war, sich mit ihr zu unterhalten.

»Gut«, sagte er mit einem müden Lächeln, bei dem sich seine Augen halb schlossen. »Dann scher dich jetzt zu deinen Pferden und den bellenden Flohfängern. Ich muss noch lange genug wach bleiben, damit Griselda mich mit ihrer Lumpenmatsche vollstopfen kann. Das nennt sie Frühstück, weißt du? Und ich will dabei nicht einschlafen, ich habe Angst, dass sie mich dann mit einem Schlauch stopft wie eine Gans.«

Sie erwiderte sein Lächeln, nickte und erhob sich. Bevor sie ging, beugte sie sich behutsam über das Bett und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. Es war das erste Mal seit über drei Jahren, dass sie das tat. Als sie die Tür leise hinter sich anlehnte, hörte sie seinen tiefen, leicht rasselnden Atem.

Griselda stand in der offenen Tür zu dem anderen Raum und sah ihr erwartungsvoll entgegen.

»Hat er es endlich geschafft, dich zu fragen?«, wollte sie wissen. »Ich hätte es schon vor zwei Wochen getan, aber er wollte es nicht. Er wollte es unbedingt selbst tun. Ich erwarte, dass er in neun von zehn Fällen tut, was ich ihm sage, was er bei Gott auch tut. Da musste ich mich in dem Fall auch mal nach seinen Wünschen richten. Ich wusste ja, wie wichtig es ihm war.«

»Ja, das hat er«, bestätigte Ginevra, »und ich habe natürlich zugestimmt. Ich weiß nicht, ob er es Mutter selbst sagen möchte oder es dir überlässt, aber das wird er dir bald sagen, glaube ich.«

»Aye«, stimmte die Frau zu, »das wird er. Es freut mich, dass du uns begleiten willst. Es bedeutet ihm wirklich sehr viel. Wenn wir da draußen sind, ist er manchmal beinahe wieder wie ein richtiger kleiner Junge. Ich meine, er kann natürlich nicht herumrennen, aber trotzdem, vom Kopf her, meine ich.«

»Ich danke dir, dass du dich so gut um ihn kümmerst«, sagte die Prinzessin.

»Nay, sowas brauchste nich«, meinte die Zofe. »Ist meine Arbeit, und die habe ich immer gern gemacht. Und nun sieh zu, dass du zu deinen Tieren kommst, sonst frühstückst du gemeinsam mit deinem Bruder. Die alte Griselda hat genug Lumpenmatsche für beide hochherrschaftlichen Sprösslinge der königlichen Familie.«

»Ich bin schon weg«, erwiderte Ginevra grinsend und machte drei Schritte auf die Tür zu. Als sie fast angekommen war, drehte sie um, war im Nu bei Griselda und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf eine knochige Wange. Dann fuhr sie herum und huschte aus der Tür, bevor die Zofe reagieren konnte.

Während sie zu den Stallungen ging, anfangs ob ihres kindischen Verhaltens mit vor Scham gerötetem Gesicht, atmete sie tief und langsam, um sich wieder zu sammeln. Noch immer spürte sie, wie ob des Besuchs bei Benjamin die Tränen hinter ihren Augen lauerten.

Dein prinzessinnenhaftes Geflenne würde niemandem weiterhelfen, also steck es dir sonst wohin und reiß dich zusammen, du dumme kleine Memme, fauchte sie sich innerlich an. Es dauerte nur einen Moment, dann hatte sie die Trauer und das Mitleid für ihren Bruder wieder weggeschoben. Die frische Luft und die Arbeit mit den Pferden würden ihr gut tun, wie es immer der Fall war. Vielleicht konnten sie nächste Woche schon ihren ersten gemeinsamen Ausflug machen, und das war etwas, auf das sie sich freute. Solche erfreulichen Dinge waren in ihrem Leben kostbar und selten. Von all den spärlichen Möglichkeiten, die sich ihr hier boten, waren Griselda und ihr Bruder mit die angenehmste Gesellschaft, die sie sich vorstellen konnte.

Der Gedanke an menschliche Gesellschaft brachte sie zwangsläufig auf die bevorstehenden Festlichkeiten. Wieder keine schöne Sache, die da auf sie zukam. Als Kind hatte sie diese Feste immer interessant, spannend und komisch gefunden. Die vielen fremden Lords und Ladys waren stets eine willkommene Abwechslung gewesen. Mit zunehmendem Alter waren allerdings zunehmende Pflichten für sie einhergegangen und ihre Faszination hatte sich schnell zunächst in Widerwillen, dann in Abscheu verwandelt. Zu einem Besuch von Markt und Gauklern war sie kaum noch gekommen. Die Lords und Ladys, einst exotisch und geheimnisvoll, waren bald nicht mehr, als ein lästiges Ärgernis, mit dem sie sich fast zwei Wochen lang auf die eine oder andere Art herumschlagen musste.

Nein, dass sie für das höfische Leben in irgendeiner Form gemacht war, konnte man wahrlich nicht behaupten. Sie hatte sich mit ihrem Schicksal und ihren Pflichten mit Müh und Not arrangiert, mehr aber auch nicht. Mit Hilfe von Kalkül und einer Entschlossenheit, die ihrem Alter weit vorausgriff, hatte sie sich ihren Platz erkämpft, gegen alle Widerstände und vor allem ihrem unbarmherzigen Vater zum Trotz. Bislang hatte das funktioniert, doch sie fragte sich, wie lange das noch der Fall sein würde. Schon in diesem Jahr mochte es so weit sein, das sich die Dinge änderten. Dass ihre Rolle über die der gastgebenden Tochter hinausging.

Sie war sich wohl bewusst, dass ihre Eltern die bedeutenden Feierlichkeiten früher oder später als Brautschau für sie nutzen würden. Wenn Benjamin nicht in diesem furchtbaren Zustand wäre, vielleicht sogar schon für ihn. Sie konnte nichts tun als zu hoffen, dass der Kelch in diesem Jahr noch einmal an ihr vorüberging. Obgleich auch das natürlich nur ein kurzer Aufschub wäre.

Es ist noch eine Weile bis zu dem dummen Fest hin, schalt sie sich, also hör auf, dich damit verrückt zu machen. Verheiraten will dich heute auch noch niemand, also konzentriere dich auf diesen Morgen, deine Pferde warten.

Sie war auf dem Weg durch den letzten langen Flur, von dem aus sie nach draußen gelangen würde. Sie lenkte ihre Gedanken auf den Wallach und die beiden Stuten und auf die Hunde. Der große braune Bloodhound von Hanston hatte letzte Woche einen Wurf Junge zur Welt gebracht, die ganz bezaubernd waren. Unförmige, flauschige Knäule aus strohfarbenem Fell.

Sie wollte nicht an ihre Zukunft denken. Ebenso wenig wie an die ihres so schrecklich kranken Bruders. Schlimmer als das hier kann es nicht werden, hatte er gesagt. Sie stellte sich vor, wie sie irgendwann an der Seite eines adligen Speichelleckers ihres Vaters lebte. Schlimmer kann es nicht werden.

Als sie hinaus in den Morgen trat, wischte sie sich abwesend mit dem Handrücken über das Gesicht. Es schien etwas zu regnen. Sie war sich sicher, dass sich keine Träne aus ihren Augen geschlichen hatte. Ganz sicher.

Blutherbst

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