Читать книгу HIPPIE TRAIL - Band 1 - Wolfgang Bendick - Страница 10

ON THE ROAD

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Bald stehe ich an der Straße und halte den Daumen raus. Neben mir mein Handgepäck. Ich hatte es am Zoll gewogen. 27 Kilo. Das ist das Gewicht der Freiheit! Ich stehe gerade ein paar Minuten, da hält ein schwarzer Mercedes. Wohl ein 600er. Es steht aber nichts dran. Die Scheiben sind dunkel getönt. Ein Seitenfenster geht auf. Dahinter sitzt ein junger Typ mit dicker Sonnenbrille. Am Lenkrad, ich traue meinen Augen nicht, ein richtiger Chauffeur mit Uniform. „Wohin?“ „Istanbul!“ „Ich fahre kurz nach Thessaloniki, was holen, dann nach Istanbul. Steig ein!“ Ich schaue auf seine beringten Finger, seine Armkette. Der Typ liegt mir nicht. Das ist bestimmt irgend so ein Dealer, vielleicht Diplomatensohn, der da mit Papas Auto kleine Geschäftle dreht. Ich denke, aussteigen kann ich immer noch, besser gut gefahren als schlecht gestanden. Ich schnappe meinen Rucksack und mache die Tür auf. „100 Mark!“, meint die Sonnenbrille. „Die Grenze ist zu. Mit meinem Diplomatenpass kommen wir aber durch.“ Ich werfe die Tür zu und setze mich wieder auf meinen Rucksack. „Also gut, 50 Mark!“ „Ich gehe lieber nach Athen!“, antworte ich. Er gibt dem Chauffeur ein Zeichen, das Fenster schließt sich, das Auto fährt weg.

Laut Wegweiser sind es 40 Kilometer nach Thessaloniki. Kurz vorher geht eine Straße nach Süden ab, in Richtung Athen. Mein Entschluss ist gefasst: Wenn die Grenze bei Edirne zu ist, fahre ich nach Athen und von dort aus irgendwie weiter. Ich bin nicht mehr an die Straße gebunden, ich kann auch über das Meer. Ich sehe zwei andere Tramper sich von der Grenzstation entfernen. Sie halten den Daumen raus. Das erste Auto hält und nimmt sie mit. „He, das ist mein Auto! Hinten anstellen!“, rufe ich ihnen zu. Sie fahren grinsend an mir vorbei. Machen eine resignierende Handbewegung. „Pech für dich!“

Doch bald hält auch mein Auto an. Der Fahrer will mich an der Abzweigung nach Athen rauslassen. Er selber fährt nach Thessaloniki. Die Fahrt dauert eine halbe Stunde. Unterwegs begegnen wir mehreren Motorrad-Dreirädern, Transportmaschinen, mit Pritsche hinten und Plane. Die sehen fast aus wie meine alte Zündapp, denke ich. Ich frage mich, ob das noch alte Kriegsmaschinen sind. Doch dann sehe ich links, unweit der Straße, riesige Fabrikhallen. In großen Buchstaben steht auf einer ZÜNDAPP. Hierher hatten die Deutschen also das Werk verkauft, als die Herstellung in Deutschland eingestellt worden war, weil alle nur noch Auto fahren wollten! 2000 Kilometer nach Osten, und es gibt wieder einen Absatzmarkt. Bis auch hier alle sich ein Auto leisten können. Dann verkauft man das Werk halt 4000 Kilometer weiter nach Süden! Hier hätte ich also Ersatzteile bekommen können. Aber, ehrlich gesagt, ich war froh, dass mein Motorrad(alp)traum ein Ende genommen hatte! Bald lag die Abzweigung vor mir, ein riesiger Kreisverkehr. Und wer stieg gerade aus einem Wagen aus? Die beiden „Autoklauer“ von der Grenze! „Das ist ja zügig gegangen!“, meinte der Eine. „Darf ich vorstellen: ich bin der Fürst und das ist mein Kumpel der Herzog!“ Ich denke, spinnen die oder was? Vorhin der zwielichtige Diplomat, jetzt der deutsche Adel. „Als Familienname?“, frage ich. Sie lachen: „als Spitzname!“ „Ich bin der Wolfi“, stelle ich mich vor.

„Willst du mit uns Brotzeit machen?“ fragte der Fürst. „Wir laden dich ein! Wir haben etwas echt Schwarzgeräuchertes dabei.“ Wir schauen uns um. Keine Sitzgelegenheit vorhanden. Doch da, auf der Insel des Kreisverkehrs liegen ein paar dicke Steine! Wir gehen hinüber und machen es uns bequem. Sie kommen aus dem Niederbayrischen und wollen in die Türkei und vielleicht noch weiter nach Indien. „Ich auch“, sage ich. Ich bin überrascht, dass ich nicht mehr der Einzige bin, der dieses Ziel hat. Eine Tante vom Fürsten hatte diesem eine ganze Seite Speck zugesteckt, als sie ihren ersten Schreck über dessen geplante Reise überwunden hatte. Damit sie in Indien nicht verhungern! An dieser nagten sie schon, seit sie den Ort ihrer Ritterspiele verlassen hatten. Zudem hatten sie im Grenzladen zwei Flaschen Retsina, eine griechische Weinspezialität, von der sie schon so viel gehört hatten, erstanden. Der Herzog wickelt das Geselchte aus dem Tuch und beginnt mit dem Taschenmesser dünne Scheiben von diesem abzuschneiden. Da hören wir ein paar dicke Motorräder sich nähern. Bullen. Griechische Bullen, auf zwei glänzenden Zündapp KS 601! Mit Windschutzscheibe wie die meine. Diese haben uns erspäht. Sie umfahren den Kreis zwei Mal, wohl um sich von uns ein dreidimensionales Bild zu machen. Wir werden im wahrsten Sinne des Wortes eingekreist. „Scheiße, Bullen“, kommt es gleichzeitig aus drei Mündern. Die Bullen nehmen das Gas weg und parken ihre Untersätze neben unserer Insel, ohne sich daran zu stören, dass ihre Böcke den Verkehr behindern. „Kali mera!“, oder so ähnlich sagen sie und nehmen ihre dicke Sonnenbrille ab. Wir grinsen sie zur Begrüßung an und warten ab. „Deutsch?“, fragt einer. Muss uns wohl auf der Stirn geschrieben stehen. „Nai“, sage ich. Muss ja meine Griechischkenntnisse anbringen. Der Fürst, aus Dreistigkeit oder Verlegenheit, bietet ihnen vom dünn geschnittenen Schwarzgeräucherten an. „Spezialität“! Das muss wohl international verständlich sein. Die Polizisten ziehen ihre Handschuhe aus, ziehen die Hosenbeine an den Knien etwas in die Höhe und gehen in die Hocke. Etwas sehen sie aus wie Karikaturen ihrer amerikanischen Kollegen. Wir brechen das Brot mit ihnen, reichen ihnen die Flasche Wein (einen Kelch haben wir leider nicht), und das Geräucherte. „Gar nicht so übel, die griechische Polizei“, bemerke ich. Sind sie die Ausnahme, die die Regel bestätigt, oder umgekehrt? Jedenfalls ist die Verständigung so einfach. Völkerfreundschaft geht scheint’s durch den Magen. „Was hat dein Kumpel gesagt?“, will einer wissen. „Tolle Maschinen!“, übersetze ich frei. Sie werden uns doch nicht zu einer Spritztour auffordern? „Ich auch Zündapp!“, sage ich. Stimmt ja fast, wenn es auch nur noch ein Motor und zwei Getriebe sind, die im Keller meiner Eltern liegen. „Wo?“ Will er wissen. Nur nicht zu genau werden, denke ich. „Zu Hause, Alemania“. Sie schauen ungläubig. „Zündapp griechisches Motorrad!“, behauptet er. Nur nicht widersprechen, sage ich mir. Das verträgt kein Bulle. Nirgendwo auf der Welt. Sie können nicht glauben, dass so ein Hippie, und dafür halten sie uns bestimmt, auch so eine heilige Kuh besitzen könnte. Als die Flaschen leer sind, und sie schwarze, fettige Finger von dem Speck haben, fangen sie doch glatt an, sich mit uns anzulegen. Mutig, zwei nur mit Pistole bewaffnete Bullen gegen eine Meute von drei pazifistischen Hippies! „Papiere!“ Wir denken, das ist ein Witz und lachen. Doch haben Griechen wohl einen anderen Humor, wie die Engländer ja auch. Und vielleicht haben Polizisten überhaupt keinen, haben ihn durch Sarkasmus ersetzt. Sie werden sauer. Wir holen unsere Pässe heraus. Sie blättern umständlich darin mit ihren fettigen Fingern. Warum müssen Polizisten immer so umständlich tun? Ist das eine Art von Wichtigtuerei?, frage ich mich, oder ist das, um sich länger an der Angst ihrer Opfer zu weiden? „Was ist in den Rucksäcken? Drogen?“ Wir lachen lieber nicht (zumindest nicht laut) und machen auf. „Klamotten!“, sagen wir. Hoffentlich finden die nicht meine Knarre, schießt es mir in den Sinn! Dieselbe Angst wird an jeder weiteren Grenze erneut auftauchen. Sie wühlen etwas in den Säcken herum und schmeißen ein paar Sachen auf den Boden. Sie geben uns unsere Pässe zurück. „Verschwindet!“ Wir denken, wir haben falsch verstanden, das soll wohl eher „Willkommen in Griechenland!“ heißen und sammeln extra langsam unsere herumliegenden Sachen zusammen. Und räumen minutiös unsere Rucksäcke wieder ein. Sie werden ungeduldig. Dann halten sie den wenigen Verkehr an und leiten uns über die Fahrbahn an den Straßenrand. „Weitergehen! Nix Autostopp! Verboten! Laufen!“, und zeigen auf den Wegweiser ATHINAI. Sie geben uns zu versehen, wenn wir in einer Stunde noch im Ort wären, würden sie uns einsperren. Langsam wird es dämmerig. „Diese Arschlöcher müssen doch irgendwann mal Feierabend machen!“, meint der Fürst. Dann schwingen sie sich in den Sattel und rauschen ab in Richtung Thessaloniki.

„Uff! Endlich!“, atmet der Fürst auf. „Abwarten!“, sage ich. Wir sind noch nicht halb durch den Ort durch, da hören wir die Maschinen in der Ferne knattern. Unsere uniformierte Rockerbande ist wieder da! Neben uns werden sie langsamer. „Laufen! Laufen!“, rufen sie und zeigen in Richtung Athen. Hämisch lachend drehen sie auf und zischen ab. Für ein paar Minuten haben wir Ruhe. Der Herzog zeigt auf eine Böschung oder Damm, der sich hinter den letzten Häusern erhebt. Wir klettern hoch, rutschen hinten wieder runter. Einer bleibt hinter der Kuppe und steht Schmiere. Prompt kommen sie nach fünf Minuten wieder zurück. Im Standgas, und halten überall nach uns Ausschau. „Fahrts hoam, ihr Arschlöcher, Feierobnd ists!“, rufen wir ihnen nach. Aber erst, als sie weit genug weg sind…

Für die Nacht bleiben wir am besten hier. Es ist zu gefährlich mit der herumstreunenden Polizei. Ich breite meinen Poncho aus, darauf unsere Schlafsäcke und wir machen es uns bequem. Die beiden Niederbayern hatten an der Grenze ein paar Drachmen gewechselt, was ich in meiner Motorrad-Action vollkommen vergessen hatte. Herzog schleicht sich bald darauf im Dunkeln weg, in Richtung Ortschaft. „Nettes, kleines Dorf!“, sagt er, als er 15 Minuten später zurückkommt, mit einem Brot und zwei Flaschen Retsina beladen, „aber es ist besser, wir bleiben im Versteck.“

Bald geht die Mondsichel auf und beleuchte das Land. Wir liegen auf den Schlafsäcken und sprechen von unseren Erlebnissen. Wir haben noch einen kleinen Hunger und packen den Proviant aus. Meine Kumpel finden den Korkenzieher nicht. Der muss wohl noch auf dem Kreisel liegen, wenn ihn nicht die Bullen geklaut haben. War irgend so ein besonderes Ding, meint der Fürst. „Macht nichts!“, sage ich und ziehe mein Finnenmesser aus der Scheide. Ich nehme die Flasche in die linke Hand und fahre leicht einmal mit der Klinge über den Hals, gleich unter dem Korken. Dies hatte ich mal in einem Film gesehen. Nur hatten die einen Säbel und in der Flasche war Champagner. Dann ein schneller Schlag mit dem Messer. Es macht ein ganz helles „Pling!“, die Flasche zerspringt in hundert Splitter, ich halte nur noch den Boden der Flasche in der Hand. Der Wein läuft mir über den Arm auf die Jeans. In der rechten Hand bleibt mir nur der Holzgriff mit zwei Zentimetern Klinge. Sie ist in drei Teile zerbrochen!

Baff sitzen wir da. „Wie die Posaunen von Jericho!“, meint der Fürst nach einer Weile. „Schade um den Wein!“ „Schade um mein Brotzeitmesser!“, sage ich. Um nicht zu verdursten, drücken wir den Korken der anderen Flasche mit einem Stock in den Flaschenhals hinein. Im Mai sind die Nächte schon lang und wir haben uns viel zu erzählen. Unsere Kehlen fühlen sich so trocken an. Also schleicht diesmal der Fürst los, mischt sich unter die flanierenden Menschen und ersteht zwei weitere Flaschen. „Schmeckt irgendwie übel, das Zeug“, meine ich, „ein bisschen so wie die Würfel in den Pissbecken.“ „Wieso, hast du schon mal solche gegessen?“ Ich muss lachen, „die riechen halt ähnlich. Ehrlich gesagt, richtiger Wein schmeckt mir besser!“ „Kulturbanause“, meint der Fürst, „in jedem Land soll man sich so ernähren wie das Volk. Nur so kann man eine Kultur kennenlernen!“ „Ja, aber warum schmeckt der Retsina denn so komisch?“ „Das liegt schon eine Weile zurück. In dieser Gegend waren dauernd nur Kriege. Als das Land von den Türken besetzt war, hatten diese den ganzen Wein der Bauern konfisziert und sich daran gütlich getan. Offiziell verbietet der Koran den Alkohol. Aber Allah ist großherzig. Und da außer Wein nicht viel wächst in dieser Gegend und das Wasser auch nicht so gut war, zogen die Türken den Wein vor.“ Er nahm einen Schluck aus der Pulle und reichte sie mir. „Ich kann mir nicht vorstellen, was die Türken an diesem Wein gefunden haben!“, warf ich nach einem Schluck ein. „Das ist ja genau das! Die Griechen sagten sich, wenn wir den Wein schlecht im Geschmack machen, dann werden die Ottomanen ihn nicht mehr trinken. Und sie mischten etwas Kiefernharz in den Wein. Als die Türken den neuen Jahrgang probierten, fanden sie ihn so abscheulich, dass sie lieber wieder ihren Kaffee tranken. Vorsichtshalber blieben die Mazedonier bei diesem Rezept, weil man ja nie sicher ist, ob die politische Lage sich nicht wieder ändert!“

Am nächsten Morgen liefen wir dann eine Weile am Rand der Straße in Richtung Süden, um aus dem Einzugsbereich der Bullen zu kommen. Wir hielten 300 Meter Abstand zwischen uns, um bessere Chancen bei Trampen zu haben. Entweder ist Griechenland das Tramper-Land schlechthin, oder Tyche, die Glücksgöttin, hatte ein Auge auf mich geworfen. Nach ein paar Minuten schon hielt ein dermaßen zerbeultes Auto, dass es unmöglich war, die Marke zu erkennen. Hinter der gesprungenen Windschutzscheibe sah ich ein rundes Gesicht mit zwei Brillengläsern, dick wie Einmachgläserdeckel an Stelle der Augen. Der Fahrer brachte das Auto 20 Meter hinter mir zum Stehen. Mit dem schweren Sack auf einer Schulter hastete ich zu ihm hin. „Athinai?“, fragte ich. „Nai“. Umständlich bedient er Kupplung und Gas und Schalthebel. Ruckend kommen wir in Bewegung. Ich frage mich, ob er überhaupt einen Führerschein hat, ob man in Griechenland überhaupt einen braucht… Zum Glück kann er besser Englisch als Auto fahren. Mit maximalen 70 Stundenkilometern kriechen wir am rechten Straßenrand gen Süden. Manchmal gelingt es ihm, ein Pferdefuhrwerk zu überholen, ansonsten sind wir die Überholten. Mit lautem Gehupe fährt jeder an uns vorbei, selbst die LKWs.

Für eine Weile geht es die Küste entlang. Wunderbar blaues Meer, im Kontrast mit dem kargen, steinigen Land. Antike Ruinen neben der Straße, eigentlich überall wohin man schaut. Griechenland, wie man es sich vorstellt! Ein paar Boote mit Lateiner-Segel auf dem Wasser, ein Dampfer pflügt die See. Sonne, Zedern, Pinien. Ich fühle mich das erste Mal richtig unbeschwert, seitdem ich unterwegs bin. Doch nicht sehr lange. Denn bald merke ich, dass es mit seinen Fahrkünsten wirklich nicht weit her ist. Bis Athen griff ich ihm ein Dutzend Mal ins Lenkrad, um Schlimmstes zu verhindern. Langsam werden wir besser miteinander bekannt. Er arbeitet am Theater in Thessaloniki. Als was, sagt er mir nicht. Seine Frau ist Krankenschwester. Ein nützlicher Beruf bei dem Fahrstil ihres Mannes! Weil er schon so viele Unfälle hatte, musste er ihr schwören, nicht mehr als 70 Stundenkilometer zu fahren. Und Anhalter mitzunehmen, denn vier Augen sehen mehr als zwei!

Rechts von uns ragt der Olymp fast 3000 Meter in den Himmel. Unten bewaldet, dann Felsen und Geröll. Darüber eine Schneekappe. Von dort oben haben also die Götter damals das Schicksal der Menschheit gelenkt! Sie müssen es ziemlich kalt gehabt haben, denke ich, und sich gelangweilt haben. Sie hatten sich damit vergnügt, Kriege anzuzetteln und den Menschen beim gegenseitigen Abschlachten zuzuschauen, wenn sie nicht gerade mal wieder in irgendwelche Bettgeschichten verwickelt waren. Heute gibt´s die Götter nicht mehr, doch die Kriege dauern an!

Bald weicht das Meer zurück und die Straße führt durch die Berge. Irgendwo machen wir eine Pause und streifen durch die Ruinen. Zum ersten Mal berühre ich Steine, die vor 3000 Jahren von einem Steinmetz behauen und von Bauarbeitern zusammengefügt wurden. Ich lasse meine Hand über die glatte Fläche gleiten, schließe die Augen und sehe schwitzende, von Staub bedeckte Männer, die einfachste Werkzeuge mit unendlicher Geduld handhaben. Was wiegt so ein Klotz? Wie wurden sie fortbewegt, mit welchen Techniken übereinander geschichtet? Vielleicht haben sie sich damals auch schon die Frage gestellt, warum sie das machen. Ob es nicht ein besseres Leben gäbe, wenn nicht immer diese megalomanischen Bauwerke zu verwirklichen wären, und nicht dauernd diese Kriege alles wieder zerstörten und die Menschen in tiefstes Unglück stürzten! Zweifelten sie damals schon an den Göttern?

Der Boden ist felsig. Sehr wenig Humus, meist nur fleckenweise. Die Wurzeln der Zypressen und Kiefern suchen sich oft oberirdisch eine Spalte, in die sie eindringen können, um Halt und Nahrung zu finden. Es duftet nach Harz. Die Stämme sind klebrig, als ich ihre raue Rinde anfasse. Ich puhle einen trockenen Harztropfen aus einer Rindenspalte und stecke ihn in den Mund und kaue. Retsina-Geschmack. Irgendwo klebt sich ein Bröckchen in einer Zahnhöhlung fest. Noch nach Stunden habe ich den erfrischenden Geschmack im Mund. Meinem Führer rinnen die Schweißtropfen über die Wangen, sein Hemd zeigt Schweißflecken. Laufen ist nicht seine Stärke. Autofahren auch nicht.

Irgendwann sehen wir das ägäische Meer wieder tief unter uns liegen. „Malerisch“, kommt mir in den Sinn. Ein abgedroschenes Wort. Doch anders kann ich diese Pracht kaum beschreiben. Kritische Situationen reihen sich aneinander. Mir scheint, als hätte der Fahrer mich als Schutzengel angestellt. Oft muss ich schnell seinen Kurs korrigieren. Doch ganz will er mir das Lenkrad nicht anvertrauen. Er zeigt oft nach rechts, nach links, nennt Namen von Schlachten oder heiligen Stätten. Dabei verliert er schnell die Orientierung und verwechselt die Straßenseiten. Ganz Griechenland scheint ein Museum zu sein. Nicht weit vom Meer halten wir an. Neben einem mauerähnlichen Denkmal, auf dem ein mit Schild und Lanze bewaffneter Krieger Wache steht: die Thermopylen. Hier boten die griechischen Verbündeten unter der Führung Leonidas‘ dem zahlenmäßig weit überlegenen persischen Eindringling unter Xerxes, dem Perserkönig, die Stirn. Und wurden vernichtet. Hier verkündet eine im Boden eingelassene Tafel uns entfernten Nachfahren: „Wanderer, kommst du nach Sparta, so verkünde dort, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl!“ Selbst ich, der Kriegsdienstverweigerer, stelle mir hier die Frage nach einem gerechten Krieg. Wenn es um die Freiheit geht, ist der Mensch zu allem fähig…

Am Nachmittag setzen wir unsere Füße auf den Ort, wo die Griechen im Jahr 490 vor unserer Zeit dann endlich über die Perser siegten: Marathon. Von hier sind es noch 42 Kilometer nach Athen. Sollte ich eigentlich zu Fuß machen. Aber mit 27 Kilo auf dem Buckel? Das ist mehr, als die volle Kriegsausrüstung eines Hopliten! Und derjenige, der die Siegesnachrichtung nach Athen gebracht hatte, war bestimmt einer der Gymneten gewesen. Diese sparten noch an der Kleidung ein, denn sie kämpften nackt.

Schmuddelige Vororte erscheinen neben der Straße. Telefon- und Stromleitungen bilden ein Spinnennetz zwischen den Häusern. Mein Chauffeur wirkt wie verloren im Straßengewühl. Zum Glück kommen wir bald in seinem Viertel an, und er lässt mich hinaus. Erst zu Fuß, dann mit dem Bus wühle ich mich zum antiken Zentrum durch. Die Luft, von Abgasen übersättigt, liegt wie ein grauer Wattebausch über der riesigen Stadt. Doch strahlend weiß, im Sonnenlicht, schwebt darüber der Parthenon-Tempel der Akropolis.

Ich dränge mich durch die dichte Menge aus Einheimischen und Touristen in den engen Gassen. Souvenirläden mit aufdringlichen Verkäufern und Restaurants, aus denen es verlockend duftet, säumen auf beiden Seiten die engen Gassen. In einer kleinen Kneipe bestelle ich ein Bier und einen Imbiss mit unverständlichem Namen. Ich massiere mir die vom schweren Rucksack schmerzenden Schlüsselbeine. Der Wirt stellt ihn auf meine Bitte unter die Theke. Erleichtert erklimme ich eine der steilen Gassen, die zur Akropolis hinaufführen. Diese ist auf einem steilen Felsen erbaut und nur an wenigen Stellen erreichbar. Außerdem ist das ganze Tempelgelände eingezäunt, alleine schon, um die Besucher abkassieren zu können. Je höher ich steige, umso weniger Menschen begegne ich. Am Ende verwandelt sich die Gasse in einen Pfad, der sich durch trockenes Gestrüpp schlängelt und um schroffe Felsklötze. Ich entdecke einen kleinen flachen Vorsprung, ideal für die Nacht. Dann steige ich wieder ab in die Stadt und lasse mich vom Strom der Besucher zu den Sehenswürdigkeiten treiben. Es ist heiß in den Gassen. Ich suche Zuflucht in einer orthodoxen Kirche. Als die Tür zufällt, umhüllt mich plötzlich kühle Stille. Schwach glänzt das Gold der Ikonen in den wenigen Sonnenstrahlen, die durch die fehlenden Scheibchen der bunten, bleiverglasten Fenster hereinfallen. Ovale, leicht geneigte Gesichter von Jungfrauen und Heiligen schauen mich mit ihren Mandelaugen an, meist eine Hand mit symbolisch gespreizten Fingern erhoben. Es riecht schwach nach Weihrauch. In dieser Stille durchflutet mich plötzlich ein tiefes Gefühl von Glück. Ich bin unterwegs. Endlich! Wie viele Jahre hatte ich darauf gewartet? Jetzt bin ich wieder einer vom Bunde der Morgenlandfahrer…

Als es zu dämmern anfing, holte ich meinen Rucksack aus der Bar. Ich hatte mir etwas Brot, Feta und eine Flasche ‚richtigen‘ Wein gekauft. Beim Hochsteigen halte ich öfters an. Einerseits wegen des schweren Rucksacks, aber vor allem, um mir nichts von dem Sonnenuntergang entgehen zu lassen. Für mich ist dies der schönste Augenblick des Tages. Ich esse. Dann ist es dunkel. Aber nur hier oben bei mir. Unten breitet sich das Lichtermeer der Millionenstadt aus wie eine irdische Milchstraße. Dort wo sie endet, muss Piräus sein, dann das Meer. Der Horizont hat seinen letzten roten Schein verloren. Gedämpft dringt der Lärm der Stadt zu mir. Der Boden unter mir ist hart und uneben. Ein schmales Felsenband, begrenzt durch ein paar knorrige, dicklaubige Büsche, die verhindern werden, dass ich hinunterfalle. Ich sitze in meinem Schlafsack, den Rücken gegen die Felswand gelehnt. Ich schaue hinunter auf die Wiege des Abendlandes. Hier wurde alles ausprobiert. Von der Anarchie über die Aristokratie zur Demokratie…

Ein leichtes Frösteln holt mich aus Orpheus Armen zurück auf die Erde. Gerade im richtigen Augenblick, denn Aphrodite erhebt sich aus dem Meer, mit all ihrer Pracht! Als sie mich aufgewärmt hat, bringe ich meinen Rucksack zur Gepäckaufbewahrung am Bahnhof und erkundige mich nach den Zug- und Schiffsverbindungen. Nach Piräus geht alle 10 Minuten ein Zug, nach der Insel Chios heute Abend ein Schiff. Es bleibt mir also der ganze Tag, um in die Fußstapfen der Philosophen zu treten…

Im Geschichtsunterricht hatte ich schon Bilder von den Tempeln gesehen. Doch übertraf die Realität alles. Diese Größe! Diese Mächtigkeit! Die ersten schon umherwimmelnden Touristen glichen Ameisen zu Füßen der Säulen. Da das ganze Areal eingezäunt war, und ich kein Loch im Zaun fand, schloss ich mich der Schlange der Touristen an, zahlte meinen Obolus und betrat endlich das Zentrum der antiken Welt. Gruppen von Besuchern, wohl autobusweise, folgten, Herden gleich, ihrem Führer, der meist ein Fähnchen mit den Landesfarben seiner Schäfchen in die Höhe hielt.

Ich streifte frei umher, um alles selber zu entdecken. Doch näherte ich mich manchmal einer Gruppe, wenn ich selber nicht die Bedeutung eines der Bauwerke kannte. Die Basis der Säulen des größten der Tempel misst über zwei Meter, die Höhe an die 15 Meter. Dieser Tempel, der Kriegsgöttin Athene geweiht, war von den Persern völlig zerstört, dann unter Perikles wieder aufgebaut worden. Ich stelle mir den Trümmerhaufen wie ein großes Puzzle vor. Und wie das alles wieder aufstellen? Am Osteck der Fassade steht ein Stahlgerüst mit einem Steinmetz darauf, der Ausbesserungsarbeiten vornimmt. Oder schlägt er nur Stücke des gerade Renovierten ab, um es alt erscheinen zu lassen? Im Minutentakt fallen die Hammerschläge. Er ist wohl dabei, die Langsamkeit zu erfinden. Er hat mich gesehen. „Du Deutsch?“ Wie die einen immer gleich erkennen?! Er war als Gastarbeiter in Aachen. Dort hat er das Arbeiten gelernt, hier die Zeit. Aber nicht nur die Perser hatten zerstört. Es gab später noch andere Kriege. Und den Zahn der Zeit. Die Engländer waren ganz schlau. Sie haben die Frauenfiguren der Koren-Halle durch Duplikate ersetzt und die originalen in ihr Britisch Museum gestellt. Andere Museen wollten nicht hintanstehen. Und die Privatsammler. Haufenweise liegen Steine rum, deren Standort und Funktion von Wissenschaftlern anhand alter Texte oder antiker Reisebeschreibungen erst noch bestimmt werden müssen.

Die Schüler der ganzen Welt sind nicht gerade gut auf die Griechen zu sprechen. Denn hier wurde die Geometrie erfunden. Die Lehrsätze eines Pythagoras sind vielleicht beim Bau oder der Planung eines Tempels entdeckt worden. Reden wir nicht von Euklid, Thales und anderen. Ebenso die Trigonometrie. Nicht zu vergessen die Berechnung des Kreises und der Wert PI. Auch die Algebra wurde hier weiterentwickelt. Das Wort Atom, ‚unteilbar‘, wurde von ihnen erdacht, obwohl es erst Jahrtausende später nachgewiesen werden konnte. Sie schufen die Basis unserer modernen Welt. Und die moderne Welt schaffte es, das Unteilbare zu spalten, und schuf so vielleicht ihren eigenen Untergang… Viele große Denker lehrten hier oben auf dem Areopag. Der bekannteste, Sokrates, wurde zum Tode verurteilt, durch Gift. Ein anderer, Diogenes, verzichtete auf alle Reichtümer und wohnte in einem Fass, wie Huckleberry Finn. Hier wurden alle Arten der Liebe ‚ausprobiert‘. Die Hippies übernahmen davon ein paar Ideen. Deren zusätzliche Erfindung war der Friedensgedanke, im Altertum unbekannt.

Unterhalb öffnet sich das Halbrund eines Amphitheaters. Steil fallen die halbkreisförmig angeordneten Sitzreihen zur Szene ab. Das schuf eine ideale Akustik. Hier entstand die Tragödie. Das ist nicht nur ein Theaterstück mit traurigem Ende. Nein, der Held befindet sich in einer Situation, in der er, indem er das Rechte tut, zugleich unrecht tut. Indem er die Gesetze befolgt, übertritt er zugleich andere. Etwas einfacher ausgedrückt: Ein Schüler, der sich verheiraten wollte, fragte Sokrates um Rat. „Tu was du willst, du wirst es bereuen!“ war dessen Antwort.

Mit dem Zug bin ich in ein paar Minuten in Piräus. Bevor ich den Hafen sehe, rieche ich ihn schon. Griechenland besteht aus über 3000 Inseln, die kleinsten mitgerechnet. Wenn auch nur knapp ein Zehntel davon bewohnt ist, bedarf es doch einer großen Flotte, um die Verbindung untereinander und mit dem Festland aufrecht zu halten. Das Schiff ersetzt hier die Eisenbahn. Auf einer Karte schaue ich mir die verschiedenen Verbindungen an. Innerhalb Griechenlands sind sie spottbillig. Aber zur Türkei kosten sie das Zehnfache. Die Insel Chios liegt knapp vor der türkischen Küste. Dort werde ich hinfahren. Von da sind es nur 20 Kilometer bis nach Cesme. Da wird es schon eine Verbindung geben…

Nur 6 Mark kostet das Ticket. Bloß die Überfahrt, keine Kabine. Bei einem ‚Fahrenden Händler‘ kaufe ich mir eine Brotzeit für die Fahrt. Und da läuft sie schon ein, die ‚Adonis‘, weiß glänzt sie in der Nachmittagssonne. Fast alle Fahrgäste stehen auf der Landseite an der Reling und beobachten das Anlegen des Schiffes oder suchen unter den Menschen am Kai nach bekannten Gesichtern. Gut 90 Meter lang, 15 breit, mit seitlichen Einfahrtstoren für Autos und LKWs. Ein kurzer Nebelhornton lässt die Leute zusammenfahren. Sie legt ohne Schlepperhilfe an, muss also mit Bugstrahlruder ausgerüstet sein. Dann ergießt sich ein fast endloser Strom von Menschen über Gangways und Stege an den Kai, aus dem Bauch quellen die Autos. Auf der Pier entsteht ein unübersichtliches Durcheinander, das sich erst nach geraumer Zeit auflöst. 2000 Menschen? Mindestens! Die öligen Wellen schlagen sanft an die Kaimauer, Treibgut schwimmt an der Oberfläche. Die Festmacherleinen knirschen leicht im Rhythmus der das Schiff bewegenden Dünung. Die Luft ist geschwängert aus einer Mischung aus Holzteer, Fisch und Dieselabgasen. Kurz: Hafen.




HIPPIE TRAIL - Band 1

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