Читать книгу HIPPIE TRAIL - Band 1 - Wolfgang Bendick - Страница 9

SUPERGAU

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Eine Baustelle. Wenigstens tut sich was an der Straße! Ein Regenguss überrascht mich. Ich hatte zwar schon von weitem die schwarzen Wolken bemerkt und dachte, da komme ich noch locker vorbei. Und plötzlich bin ich mitten drin. Es bleibt mir nicht einmal die Zeit, die Regensachen überzuziehen. Durch die Brille sehe ich nichts mehr. Sie ist innen angelaufen. Ich schiebe sie hoch auf den Helm. Ich versuche, die Augen mit einer Hand abzuschirmen. Aber ich brauche beide zum Lenken. Ich drehe den Kopf etwas zur Seite, um nicht die Tropfen voll in die Augen zu bekommen. Sie tun weh, als wären es Sandkörner. Ich spüre, wie mir das Wasser die Ärmel hochsteigt, vom Nacken her den Rücken hinunterläuft. Meine Lederstiefel sind längst schon randvoll. Jedes entgegenkommende Fahrzeug bedeckt mich mit einer Drecklache. Die Schlaglöcher sind voll Wasser und unsichtbar. Dafür spüre ich sie umso mehr in den Armen. Anhalten? Auf dem aufgeweichten Böschungsrand? Da würde ich von jedem vorbeifahrenden Auto einen Wasserschwall abbekommen, wenn sie mir nicht sogar darauf fahren würden! Vielleicht finde ich ja bald eine günstige Stelle! Aber Anhalten ist schnell gemacht. Nur Wegkommen ist etwas schwieriger. Denn mit all dem Wasser rundherum war ich überzeugt, dass es auch schon in Zündung und Lichtmaschine war. Ich dachte, solange der Motor läuft und noch heiß ist, werde ich nicht anhalten. Das könnte er in jedem Augenblick schon von selber machen. Und nass bis unter die Haut war ich ja sowieso schon. Das Unangenehme war nur, dass das Wasser jetzt den Weg über meinen Rücken gefunden hatte und zwischen die Arschbacken sickerte. Bald würde mir das Arschwasser kochen… So steuerte ich denn mein U-Boot weiter durch Schlamm und Gischt, durch die unsichtbaren Schlaglöcher in alle Richtungen gerissen. Die Augen brannten mir. Mein Trost war: Ich kam vorwärts. Als ich mich fast an diese Unterwasserwelt gewöhnt hatte, brach das Unwetter so plötzlich ab, wie es begonnen hatte. Grell brach die Sonne hervor und jagte die schwarzen Wolken nach Norden.

Ich zog es vor, noch eine Weile auf der dampfenden Straße weiter zu fahren, damit der Motor von außen und vor allem innen gut trocknen konnte. Braungelb schoss das Wasser in den Mulden zu Tal, auf seinem eiligen Weg Rinnen und Gräben ausspülend. Bildete ich es mir ein, oder fing es wirklich überall an zu grünen? Auf einem Hügelrücken zweigte ein Feldweg rechts ab in ein kleines Tal hinein. Ich nahm das Gas weg, bog ab und folgte ihm ein paar hundert Meter. Der Weg war mit Steinchen bedeckt und trug das Gespann. Nach einer Kurve tauchte eine Baumgruppe auf, sogar eine kleine Wiese grünte inmitten des ockerfarbenen Gerölls. Das war mein Platz! Nur noch das Motorrad in Abfahrtrichtung gedreht, aus, runter! Das war schneller gedacht als getan. Ich merkte plötzlich, dass mein ganzer Körper so klamm war, dass ich nur mit größter Mühe aus dem Sattel kam. Meine Finger fanden nicht den Reißverschluss der Jacke. Ich war wie gelähmt. Alles Gefühl war gewichen. Ich versuchte staksig ein paar Schritte. Ich kam mir vor wie ein Ritter in seiner Rüstung. Ich versuchte zu hüpfen. Schlug mit den Armen um mich wie eine Windmühle. Es dauerte wohl 10 Minuten, bis ich es schaffte, meine Stiefel auszuziehen. Ich klemmte den Absatz irgendwo zwischen Rahmen und Seitenwagen und zog. Sie waren wie festgesaugt. Als ich das geschafft hatte, waren meine Hände wieder so beweglich, dass ich den Reißverschluss fassen konnte und runterziehen. Die Hose klebte an den Beinen. Vom Hemd rissen ein paar Knöpfe ab. Ich fühlte sie nicht mit meinen tauben Fingern. Endlich hatte ich alles vom Körper.

Ich öffnete den Seitenwagen. Selbst hier stand Wasser. Meine Sachen im Seesack waren alle feucht. Mit einem halbtrockenen Handtuch rubbelte ich mich ab. Nicht um trocken zu werden, nein, um die Haut zu massieren, die wie aufgedunsen war. Als ich an mir hinunterschaute, fühlte ich mich wie ein Eunuch. Mein wichtigstes Teil war so geschrumpft, wie nach einem Bad in eisigem Wasser! Die Sonne schien. Plötzlich wachten meine Sinne wieder auf. Ich fühlte eine wohlige Wärme auf meiner Haut, ein paar Vögel zwitscherten und es roch nach feuchter Erde und Wachstum. Leise knisternd kühlte der Motor ab. Ich legte den Bundeswehr-Poncho auf die Wiese, darauf meinen leicht feuchten Schlafsack und ließ mich erschöpft darauf sinken. Nackt. Alles in mir bewegte sich noch von der Fahrt.

Langsam saugte die Sonne die Nässe aus meiner Haut. Diese straffte sich nach und nach wieder. Die Wärme drang immer tiefer in meinen jetzt schmerzenden Körper ein und füllte ihn mit neuer Kraft, wie eine Batterie am Ladegerät. Als es mir zu warm wurde, spannte ich ein Seil zwischen die Bäume und hängte meine ganze nasse Wäsche daran auf. Dann die weniger nasse. Das Seil war zu kurz. Also noch das Abschleppseil dazu und den Rest der Kleider darauf. Die Stiefel stülpte ich über die Spiegel, den Schlafsack legte ich auf ein paar Äste in die Bäume. Mit ein paar löcherigen Socken saugte ich das Wasser aus dem Seitenwagen. Jetzt spürte ich, wie hungrig und durstig ich war. Ich schmiss den Kocher an und kochte erst mal einen großen Pott Tee. Dann setzte ich die gleiche Menge Suppe auf. Währenddessen hatte ich schon mit meinem Finnenmesser eine Dose Kupplungsscheiben, Vollkornbrot aus Bundeswehrbeständen, geöffnet und eine Dose mit Cornedbeef, meine Notreserve. Dann aß ich beidhändig, so hungrig war ich, in einer Hand das Brot, in der anderen das Beef. Tat das gut! Als ich genug gegessen und getrunken hatte, legte ich mich erst mal hin. Diesmal aber in den Schatten. Und ich zog mir die Badehose an. Nicht, dass ein umherirrender Pan mich für Daphnis hielt und im Schlaf vernaschte! Schließlich befand ich mich ja in Mazedonien…

Um mich herum tanzten mit durchsichtigen Schleiern bekleidetet Nymphen. Die Anführerin der Bande ist blond. Sie macht mir aufmunternde Gebärden. Kenne ich schon, denke ich. Am Ende nur Schnaps! Ihre Schleier streifen mich wie ein Windhauch. „Komm, Prinz der Landstraße, fang uns! Diejenige, die du fängst, ist dein!“ Ich will die Anführerin, wenn schon! Ich will aufspringen, ihr nachrennen, doch die hat mich wohl verzaubert. Ich fühle mich wie gelähmt. „Bis in eineinhalb Jahren!“ ruft sie und entschwindet. Um mich herum bewegen sich die Äste, die Blätter rauschen. Ich wechsle langsam von meinem Traum in die Wirklichkeit. Es ist stockduster. Mich fröstelt. So langsam bringe ich das Geschehen wieder auf die Reihe. Ende gut - alles gut, könnte man sagen. Meine Augen suchten das Dunkel zu durchdringen. Irgendwo müssten diese Nymphen doch noch sein! Ich kroch in den Schlafsack und bemerkte jetzt erst den prächtigen Sternenhimmel über mir. Und ich bin da irgendwo mitten drin!, dachte ich. Eine Sternschnuppe zog ihre lange Bahn quer durch den Himmel. Ich hatte einen Wunsch frei. „Eine Nymphe!“, rief ich und schlief ein.

Am nächsten Morgen war alles Routine. Um 10 Uhr war die taufeuchte Wäsche wieder trocken. Ich verstaute alles und sah nach den Nymphen, um mich für den schönen Platz zu bedanken. Aber sie trieben ihre Späße wohl gerade anderswo. Ich fand, dass der Kickstarter zu viel Spiel hatte. Also drückte ich ihn ungefähr ¼ langsam durch, bis ich auf Widerstand stieß, dann zurück und anschließend volle Pulle durchgetreten. Und bald zeigte sich das Ergebnis!

Und weiter ging‘s in Richtung sonniger Süden! Hier und da war die Straße von Schlamm oder Kies überdeckt, die Gräben verstopft. Skopje liegt ganz nahe. Vor ein paar Jahren war diese Stadt von einem mörderischen Erdbeben größtenteils zerstört worden. Sie ist wieder aufgebaut, höher und größer als vorher. Auf einem Hügel erhebt sie sich stolz. Ihre Fassaden glänzen im Sonnenlicht. Alexander der Große kam aus dieser Ecke, und Mutter Theresa, die Heilige von Kalkutta. Auf einem der Hügel erhebt sich drohend eine Festung mit eckigen Türmen. Minarette und Kirchtürme überragen die alte Stadt. Zum Glück schlingt sich eine breite Umgehungsstraße um die Ortschaft. Sie steigt leicht bergauf. Ich folge ihr und habe einen weiten Blick auf die Umgebung. Unter mir in der Ebene durchschneidet der Fluss Vardar saftige Wiesen und grüne Felder. Weiter oben die Flanken der Hügel sind eher trocken und nur von Wanderherden genutzt. Durch den Regen von Gestern hat sich das Land verwandelt. Ein grüner Schleier liegt über allem und es riecht nach Wachstum. Oben angekommen, geht mein Blick noch weiter nach Süden. Da hinten liegt Griechenland, ob ich es heute noch bis dahin schaffe? Jedenfalls wäre es besser, etwas vor oder hinter der Grenze zu übernachten. Nicht an der Grenze selber. Grenzen sind grau. Die Leute in den Grenzdörfern sind ebenso grau wie ihre Häuser. Und jeder ist nur auf Business aus und andere krumme Sachen!

Vor mir breitet sich wie ein offenes Bilderbuch Mazedonien aus. Hier befand sich damals eine der höchsten Kulturen, deren Denkweise die Basis zu unserer Demokratie war. Von hier aus erstreckte sich das größte Reich der Welt. Alleine diese Gegend wäre eine Reise wert. Aber mein Ziel ist Asien. Ich will erst mal etwas Entfernung zwischen mich und meine Heimat bringen. Wie eine Rakete, die zuerst einmal die Erdanziehung überwinden muss, damit sie dann von selbst weiterfliegen kann…

In solchen Gedanken schwelge ich. Da, plötzlich ein Ruck, das Hinterrad blockiert, kommt wieder frei, der Motor gibt ein mahlendes Geräusch von sich, das sich in ein lautes Schlagen verwandelt. Schnell ziehe ich die Kupplung, tu den Gang raus, und lasse das Gespann möglichst weit von der Straße weg auf die Böschung rollen, wo es von selber zum Stehen kommt. Ich ziehe schnell den Zündschlüssel ab. Doch der Motor steht eh schon. Hinter mir schwebt eine Ölwolke in der Luft und verbreitet einen nichts Gutes verheißenden Geruch. In mir kommt leichte Panik auf. Das schaut nach größerem Schaden aus. Ende der Reise? Nie! Und wenn ich zu Fuß weitergehen muss! Reparieren? Das entscheide ich morgen. Ich stopfe mit zitternden Händen eine Pfeife und zünde sie an. Da sitze ich nun auf meinem leblosen Mammut und blase Rauch und Trübsal. Ich lasse meinen Blick in die Runde schweifen. Zum Glück hat mein Mammut auf einem Hügelrücken den Geist aufgegeben. So gut hatte ich es schon dressiert. Etwas unterhalb erkenne ich ein paar Wohnwagen, Zelte und Autos und in der Nähe ein Natursteinhaus. Das muss ein Campingplatz sein! Ich schiebe leicht an, springe auf und lass rollen. Bald darauf biege ich ab in den Zufahrtsweg und komme nach ein paar Minuten auf dem Platz zum Stehen. UFF!

Ehe ich absteigen kann, bin ich schon von einer Schar Kinder umringt. Diese werden für die nächsten Monate das erste Empfangskomitee sein, wo auch immer ich ankomme. Dann kommen auch die ersten Erwachsenen aus dem Schatten. Alle sind von dunkler Hautfarbe, an den Fingern glitzern dicke Ringe, manche stellen ihre Goldzähne zur Schau. Das Schicksal hat mich in ein Zigeunerlager geführt! Eigentlich logisch, denn ich gehöre gewissermaßen auch zum „Fahrenden Volk“. Fragen schwirren durch die Luft. „Ich nix verstehen! Deutsch!“, sage ich. Mit einer Handbewegung ruft der Chef einen wohl 18-jährigen Burschen heran. Dieser kann etwas Deutsch. Januz oder so ähnlich heißt er, „Hans auf Deutsch, nenne mich Hans!“ sagt er. Ich erkläre ihm meine Lage. Ob ich hier ein paar Tage bleiben kann, die Zeit, die Panne zu reparieren? Natürlich gegen Bezahlung… Er dreht sich zu den anderen um und erklärt stolz und mit viel Gebärden mein Problem. Die Kinder umringen jetzt ihn und lauschen seinem Bericht. Folgt eine kurze Beratung der Männer. Die Frauen stehen im Hintergrund. Oft reden sie hinter vorgehaltener Hand. Vielleicht, dass ich ihre Worte nicht vom Mund ablesen kann, oder nicht ihre schlechten Zähne sehe. Aber die sind unter Gold versteckt.

Ein etwas stoppelbärtiger, imposanter Mann tritt vor, gibt mir die Hand, schlägt mir auf die Schulter, zeigt sein goldenes Gebiss. „Okay!“ sagt er, und will mich etwas zur Seite ziehen. Ich will aber die Maschine nicht alleine lassen, sie ist schon von den Kindern umringt, die alles anfassen. Ich habe Angst, dass da was verschwinden könnte. Bin ich doch in einem Land groß geworden, wo die Zigeuner mit allen Schandtaten bedacht werden. Auch stehlen sie Kinder, um sie zu verkaufen… „Wo kann ich mein Zelt hinstellen?“ frage ich, und der Junge übersetzt. Er zeigt mir eine flache Stelle, etwas abseits ihres Lagers. Ich glaube, auch sie sind etwas misstrauisch mir gegenüber. Ich steige auf das Gespann und wieder sind es Kinder, die es laut johlend vorwärtsbewegen. Ich steige ab, lege Steine vor und hinter die Räder. Um mich der enge Kreis der Kinder, die mir kaum Platz zum Bewegen lassen. Die Erwachsenen betrachten mich aus dem Hintergrund. Ich frage Hans, ob die Kinder nicht etwas weiter weggehen könnten. Ich habe ja keinen Platz um auszuräumen und das Zelt aufzustellen. Ein Wort von Chef, vor allem eine Handbewegung, und die Kinder verschwinden wie ein Blitz. Ich muss vorsichtig sein. Nur niemanden aus Versehen beleidigen. Sie haben andere Regeln als wir, das merke ich langsam. Nur die Erwachsenen bleiben in der Nähe und schauen. Doch bis ich ausgeladen habe und das Zelt steht, haben auch sie sich wieder in den Schatten gesetzt und betrachten mich von Ferne. Sie haben wohl gesehen, dass ich harmlos bin. Nur Hans hängt mir wie eine Klette an, will alles sehen was ich habe. Will er, dass ich ihm etwas schenke? Der Boss brüllt etwas herüber. „Du kannst heute Abend mit uns essen“ sagt er. Ich will ablehnen, will denen nicht zu sehr auf den Keks rücken. „Nein, du musst kommen. Sonst Familie beleidigt!“ Also nehme ich an. Das erspart mir auch das Kochen.

Nach und nach kommen Autos ins Camp gefahren. Erstaunt blicken alle Insassen auf mich Neuankömmling. Hans ist stolz. Heute ist er die Hauptfigur. Er erklärt seinen Onkeln und Tanten von welchem Planeten ich komme, und warum ich hier gelandet bin. Das gibt mir etwas Luft und ich kann einige Dinge, wie Radio und Kameras, von denen ich nicht will, dass sie die sehen, unbemerkt im Zelt verstecken. Doch schon ist er wieder bei mir, und erklärt, dass seine Onkel und Tanten von der Arbeit zurückgekommen sind. Sie reparieren alle möglichen Maschinen und handeln mit allem. Aus den Kofferräumen holen sie Gemüse, Brot und Flaschen. All das, was man für einen Haushalt braucht. Einer hat ein paar Säcke darin. Sie bewegen sich, als er sie auf die Erde legt. Eine der Frauen öffnet sie und holt eines nach dem anderen einige empört gackernde Hühner heraus. Ein paar entkommen und rennen zickzack durch das Lager, verfolgt von der kreischenden Schar der Kinder, die sie unter einem Gestöber von Federn einfangen. Zwei entkommen trotzdem und rennen aus dem Lager raus. Darauf haben die Hunde schon gewartet. Doch bevor diese sie ganz niedermachen, nimmt eine Frau sie ihnen ab und jagt sie, mit einem Tritt als Belohnung, davon. Doch die sind das wohl gewohnt; außerdem scheinen sie zu wissen, dass auch für sie etwas abfallen wird. Dann geht es dem Federvieh im wahrsten Sinn des Wortes an den Kragen.

Vor lauter Trubel im Camp kann ich kaum einen Gedanken zu Ende denken. Doch so wie ich die Lage sehe, ist vorerst mal Pause. Irgendwie muss man bei jeder Reise ein solches Ende nicht gerade voraussehen, aber in Erwägung ziehen. Es hätte genauso gut noch schlimmer kommen können, wie letztens, als da in einer völlig unübersichtlichen Kurve ein LKW mir plötzlich auf meiner Seite entgegenkam, der dabei war, einen anderen zu überholen. Ich weiß nicht mal, wie es mir gelungen war, den Schlenker auszuführen, der mich zwar vor dem Zusammenknallen gerettet, dafür aber fast die Böschung hinunter geführt hatte, und nach ein paar Sekunden Schleudern im Kies dann doch wieder auf das Asphaltband zurückbrachte. Auf so einer Reise muss man sich bald damit abfinden, dass eigentlich sehr wenig vom täglichen Geschehen in der eigenen Hand liegt. Sonst sollte man lieber zu Hause im Bett bleiben. Dann aber vor allem nicht daran denken, dass die meisten Menschen im Bett sterben… Zumindest von denen, die eines haben. Und wenn ich zurückkäme, und die Kumpels fragen, „na, wie war’s?“, sollte ich dann sagen „super, alles glatt gegangen!“? Das wäre das Schlimmste, was mir passieren könnte! Das Abenteuer fängt erst dann an, wenn etwas schiefgeht! Diese Gedanken brachten mich wieder auf die Höhe. Das mit der Maschine würde ich morgen entscheiden. Heute gibt es erst einmal ein Festessen mit den Zigeunern!

Es wurde dunkel. Ich hatte mein Zelt eingerichtet. Es roch nach Frühlingszwiebeln. Lachen drang von der anderen Seite des Lagers, wo die Frauen und Mädchen sich ans Kochen gemacht hatten, zu mir herüber. Ich bin sicher, dass sie auch über mich reden. Vielleicht hat man mich schon als Mann für eine Schüchterne, die noch niemanden gefunden hat, auserkoren. Das Lager liegt in einer kleinen Mulde. In der Mitte befindet sich der kreisförmige Mauerring eines Brunnens. Dieser war wohl ausgetrocknet und wurde mehr als Abfalltonne benutzt. Doch in dem Haus aus Naturstein befand sich ein Wasserhahn. War dieses einmal bewohnt, oder immer ungenutzt gewesen, ich fand es nicht heraus. Hier wusch man sich, holte Wasser. Den Rest machte man im umliegenden Gebüsch. „Vorsicht Schlangen“! warnte mich Hans. Die Wohnwagen und Zelte befanden sich in gutem Zustand. Sie bildeten eine Art Kreis, aber an jedem Wohnwagen war auch ein Bereich, der für dessen Bewohner vorgesehen war. Dort standen auch die Autos der Bewohner. Ich glaube, dass große Essen, an denen alle zusammen teilnahmen, die Ausnahme waren. Die Autos waren in gutem Zustand, auch trugen die Männer meist Anzüge. Die Frauen waren eher traditionell gekleidet, viel buntes Tuch um Kopf und Schultern. Die Kinder stellten die wenigsten Ansprüche, vor allem was Schuhe betrifft. Nicht weit vom Brunnen loderte schon seit Anbruch der Dämmerung ein Feuer. Alte Paletten und Holzkisten schufen bald genügend Glut, so dass ein paar große Töpfe mit den vorbereiteten Speisen auf Steinen zum Kochen an den Rand gestellt werden konnten. Man rief nach mir. Ich hatte schon gemerkt, dass hier eine feste Hierarchie herrschte. Vor allem, wenn einer der Älteren etwas rief, wurde sofort reagiert. Sonst artete das Rufen in Brüllen und Beschimpfungen aus.

Die Frauen beschäftigten sich mit den Essensvorbereitungen. Die kleineren Kinder waren in deren Nähe und gierten nach ein paar Leckerbissen, bekamen aber meist kleine Aufgaben zugewiesen. Die Größeren drängten sich in der Nähe der Erwachsenen, um ein Bisschen von deren Unterhaltung mitzubekommen. Oft wurden sie durch einen Ruf oder eine Handbewegung wieder in den Hintergrund verwiesen. Das System kam mir sehr geregelt vor. War der Großvater von Hans der Chef? Dieser beteiligte sich wenig am Ablauf des Ganzen, schien aber die höchste Respektperson zu sein. Es war wohl sein Sohn, der mir zu Anfang erlaubt hatte, mein Zelt aufzubauen. Der regelte offensichtlich alles. War er der Vater von Hans oder sein Onkel? Ich erfuhr es nie genau. Denn verwandt waren sie alle. Ich erfuhr, dass manche in den Clan eingeheiratet hatten. Das spielte in der Rollenverteilung eine große Rolle. Hans hatte viele Geschwister. Ältere, die auch schon Kinder hatten, und jüngere, noch Kinder. Er zeigte auf jemanden: ein Onkel, eine Cousine. Ich konnte mir das alles nicht merken. Es waren zu viele. Vierzig oder fünfzig? Irgendwer war immer unterwegs, andere kamen hinzu, andere gingen. „Viel Arbeit in der Gegend!“, erklärte mein Übersetzer.

Dann saßen wir alle um das Feuer. Mehr oder weniger in Grüppchen. Jemand hatte Campingstühle herbeigeschafft. Andere saßen auf hölzernen Stühlen, deren Geflecht kaputt war. Manche hatten Stühle mit ganz neuem Geflecht. Daraus schloss ich, dass sie auch Stühle reparierten. Das Essen war großartig. Klar, dass der Chef und die Älteren als Erste bedient wurden. Es roch so gut, dass ich richtig Appetit bekam, wenn ich auch den Vorbereitungen etwas kritisch zugesehen hatte. Wurde doch das meiste auf dem Boden und mit einfachsten Mitteln vorbereitet. Dann reichte man mir einen übervollen Teller. Ich stellte ihn auf meine Knie und machte es wie die anderen: ich aß mit den Händen. „Gut?“, rief der Chef zu mir herüber, und seine zwei Reihen Goldzähne blitzten im Schein des Feuers. „Super gut!“, rief ich zurück, und um sicher zu sein, dass er mich auch verstanden hatte, machte ich mit der freien Hand das Zeichen der Taucher, wenn alles in Ordnung ist. Ich bin sicher, er verstand auch Deutsch. Er grölte vor Lachen und reichte mir die Hühnerkeule rüber, an der er gerade nagte. Ich will ablehnen, doch Hans, der neben mir sitzt, stößt mich mit dem Fuß. „Iss! Sonst ist es eine Beleidigung“. Und so nehme ich dankend an und mache mich ans Abnagen. Dabei kommt mir ein Witz in den Sinn: Ein Mädchen fragt seine Freundin: „Was gibt’s heute bei Euch zu essen?“ Antwortet diese: „Rinderzunge!“ Sagt die Andere: „igitt! Mag ich nicht!“ „Und warum?“ „Ich esse doch nicht, was andere schon mal im Mund gehabt haben!“

Überhaupt Hans: Hätte ich ihn nicht immer an meiner Seite gehabt, wäre mein Aufenthalt nicht so angenehm gewesen und wohl auch problematischer. War er zu meinem Bewacher abbestellt worden, weil die Zigeuner anderen Menschen mit ebenso viel Argwohn begegnen, wie wir ihnen, oder tat er das weil er Deutsch sprach und somit eine wichtige Rolle ausübte? Wir tranken Bier und Wein. Später dann spielten zwei Männer Gitarre, man sang und tanzte. „Tanze nicht, selbst wenn ein Mädchen dich dazu auffordert!“, raunte mir Hans zu, „das gibt Ärger. Für dich. Für sie!“ Das brauchte er mir nicht zweimal zu sagen. War ich doch kein guter Tanzbär. Und meine Hand tastete nach dem Lederbändel an meinem Hals: Marion… meine Nymphe…

Ich wachte spät auf. Auch die anderen. Viele der Autos waren aber weg. Also gab es doch Frühaufsteher im Lager. Die Hunde hatten alle Reste des Festessens und der Hühner beseitigt. Konnte also kommen, wer wolle… Kam ein Hund jemandem zu nahe, wurde er mit einem Tritt auf Abstand gebracht. Bei den Kindern reicht meist ein lautes Wort oder eine Handbewegung. Hans sagt, er sei nie geschlagen worden. Das kann ich ihm nicht glauben.

Durch den vorangegangenen Abend und die kurze Nacht hatte ich ganz vergessen, über das Motorrad nachzudenken. Und was soll ich da groß nachdenken? Schnelle Entscheidung spart Zeit: Ich gebe meinem Mammut eine letzte Chance! Und mache mich gleich ans Wegbauen des linken Zylinders. Zu Hans sage ich, dass ich ihn erst mal nicht brauche. Er versteht. „Wenn du mich brauchst, rufe mich, ich bin nicht weit!“ Ein paar Kinder, die in der Nähe sitzen, will er mit einer Handbewegung wegschicken. „Lass sie! Solange sie an nichts drangehen…“

Zuerst mal einen großen Lappen unter den Zylinder. Damit nichts verloren geht, was runterfällt. Auspuff los, Vergaser weg, Kerze raus: voller Öl und Späne. Zylinderkopf weg, nur das Pleuel starrt mir entgegen, quer darin der Kolbenbolzen mit einem kleinen Kolbenrest. Der Kolben liegt in kleinen Stückchen und als Mehl in der Ölwanne, wenn er nicht im Schalldämpfer steckt. Die Ventile verbogen, eins war abgebrochen. Und die Ölwanne: Aluminiummüsli! Mit einem Pinsel und Benzin versuche ich, alles auszuwaschen. „Was kann nur die Ursache sein?“, geht es mir durch den Kopf. Ventil gebrochen und reingefallen? Kolbenringbruch und dadurch der ganze Rest? Kolben zerbrochen? Ist schier unmöglich! Schlechte Schmierung? Oder ist der Zylinder oder der Kopf mal abgefräst worden und deshalb stieß der Kolben oben an? Deshalb auch das undefinierbare Geräusch? Oder eine zu lange Kerze? Aber auf der anderen Seite steckt genau dieselbe! Eine andere Möglichkeit wäre, dass die Kurbelwelle einen leichten Schlag hatte. Mit einer Handluftpumpe, die ich voll Benzin sauge wasche ich alles spänerein. Ich prüfe das Pleuelspiel zur Kurbelwelle, zum Kolbenbolzen. Wider Erwarten ist alles normal. Trotzdem beschließe ich, den Pleuel zu wechseln. Die Kinder bringen mir einen Teller mit Resten vom Abendessen. Muss Mittag sein. Hans schaut mir über die Schultern. Zerlegte Motoren schienen kein Rätsel für ihn zu sein, obwohl ich ihn mir nicht mit ölverschmierten Händen vorstellen konnte. In den paar Tagen meines Aufenthaltes trug er immer einen geschniegelten Anzug und glänzende Lederschuhe. Wie oft am Tag putzte er sie in diesem staubigen Camp?

Wir schauten uns die Sache gemeinsam an. Einmal offen, schien der Schaden gar nicht so groß zu sein. Ich öffnete auch den anderen Zylinder um alles sauber zu bekommen. Dann vermaßen wir mit primitiven Mitteln die Kurbelwelle, ob sie einen Schlag hatte. Ich konnte nichts feststellen. Ich hatte alle Ersatzteile dabei, außer einer Kurbelwelle. Die befand sich zu Hause in den zwei anderen Motorblöcken. Doch stand für mich außer Frage, wieder zurück zu fahren und mir das Teil zu holen. Und wie denn? Das erste Mal kam mir in den Sinn, dass die Reise bald ohne Motorrad weitergehen könnte. Ich wäre sicher eine große Sorge los…

Am Nachmittag kam Hans und sagte „mach mal Pause und fahr mit uns ins Schwimmbad!“ Da wollte ich nicht widersprechen und außerdem hatte ich die Schnauze voll vom dauernden Schrauben. Mit zwei Autos ging es los. In einem Frauen und Mädchen, bis auf den Fahrer, im anderen Männer und Buben. Wir waren so 8 bis 10 Personen im Auto. Im Schwimmbad gings rund. Erst mal nutzte jeder die Duschen um sich mal gründlich zu waschen, auch ich. Für mich war das ziemlich krass, nach dem langen Alleinsein der Fahrt plötzlich wieder unter so vielen lauten Menschen zu sein. Auf dem Rückweg, es war schon dunkel, schlenderten wir alle durch Skopje und aßen in einer Pizzeria zu Abend. Dies war auch hier gerade die große Mode. Ich brauchte nichts zu bezahlen.

Als ich das Zelt aufmachte, merkte ich, dass jemand drinnen gewesen war. Ich hatte kleine Zeichen gelassen, wie zum Beispiel die Stellung des Reißverschlusses, die Falte im Fliegennetz. Auch drinnen war alles durchsucht worden. Aber alles war wieder genauso hinterlassen worden, doch nicht ganz. Sogar der Schlafsack war aufgemacht worden. Nichts fehlte, oder jedenfalls bemerkte ich es nicht. Meine Kameras waren noch da. Das Geld, das ich nicht im Gürtel trug, hatte ich draußen von hinten unter den Zeltboden geschoben. Sollte ich es Hans sagen? Ich verwarf den Gedanken. Ich war sicher, dass er es wusste. Vielleicht auch deshalb die Einladung ins Schwimmbad! Und außerdem würde derjenige, der das gemacht hatte, schon allein wegen schlechter Arbeit einen Anschiss bekommen. Ich zog es vor, den Unwissenden zu spielen.

Am nächsten Morgen ließ mich eine Explosion mitsamt Schlafsack in die Höhe springen. Ich stürze aus dem Zelt. Eine Rauchwolke steigt aus dem Brunnen auf. Alle kommen angerannt und schauen in den Brunnen. Hans sagt, sein Onkel hätte eine giftige Schlange darin gesehen und deshalb eine Handgranate da hineingeworfen. Was die im Lager alles auf Lager hatten, dachte ich und machte mich an das Reinigen des offenen Motors. Mittels eines auf eine Fußballpumpe gesteckten Schlauches und Benzin. Mit Pressluft wäre besser gewesen. Aber die hatten sie im Lager nicht. Es gab ja auch keinen Strom. Außerdem waren das nur Alu Späne, und nicht Stahl. Beim nächsten Ölwechsel würden die schon endgültig rausgehen… Anschließend mit der Luftpumpe und dem Schlauch alles ausblasen. Dann ging es ans Zusammenbauen. Pleuel mit Lager, Kolben komplett mit dem entsprechenden Zylinder, dazu ein vollständig neuer Zylinderkopf aus meiner Schrottsammlung im Seitenwagen. Hans stand daneben, die Hände in den Taschen. Manchmal reichte er mir einen Schlüssel oder hielt die Stößelhülsen, während ich den Zylinderkopf aufsetzte. Darüber verging der Nachmittag. Noch die Auspuffkrümmer und die Vergaser, die ich bei der Gelegenheit noch mal gründlich reinigte. Die Einstellungen hob ich mir für den nächsten Tag auf.

„Heute Abend gehen wir ins Kino!“, meinte Hans. Ich hatte keinen großen Bock darauf, war ich doch ziemlich groggy vom Zusammenbauen. Doch hier im Lager war ein Vorschlag zugleich eine Anordnung. Also ging es bald mit mehreren ebenso vollen Autos wie am Tage zuvor los. Das Kino war ein riesiger Saal. Die Sitzreihen waren weit auseinander. Das war weniger für den Komfort der Zuschauer, als vielmehr, wie ich bald merkte, um den Verkäufern mit Bauchläden zu ermöglichen, ihre Produkte an den Mann und vor allem an die Kinder zu bringen. Es gab Eis, Kuchen, Bonbons, Getränke in Dosen, sogar Zeitungen. Das, was am meisten gekauft wurde, vielleicht auch, weil es am wenigsten kostete, waren geröstete und gesalzene Kerne von allem Möglichen: Erdnüsse, die ich kannte, aber vor allem Kürbis-, Melonen- und Sonnenblumenkerne, kurz Vogelfutter, meist in einer selbstgedrehten Tüte aus Zeitungspapier. Bald war das ganze Kino am Knabbern und Spucken. Anfangs hielt ich meine leeren Schalen noch in der Hand, aber als ich dann sah, wie es die anderen machten, leerte ich meine Hand auf den Boden. Zwischen dem Vorfilm und dem Hauptfilm war eine 10-minütige Pause, die die kleineren Kinder dazu nutzten, Fangen zu spielen oder Verstecken, die Erwachsenen und die größeren Kinder rauchten eine Zigarette. Dann kam der Hauptfilm. Irgend so ein Western, wie es sie überall auf der Welt gibt. Wenn sich ein Indianer an einen Cowboy anschlich, wurde dieser durch Zurufe vor der Gefahr gewarnt, kam es zu einer Kussszene, hallten Ah- und Oh-Rufe durch das Dunkel oder der ganze Saal fing an zu klatschen. Die Luft war dick vom Zigarettenqualm, der Projektorschein erreichte kaum mehr die Leinwand und schwebte als bunter Kegel im Raum. Gegen Mitternacht war der Zauber vorbei. Wir hatten uns dermaßen mit Kernen vollgestopft, dass niemand mehr ans Abendessen dachte. Der Kinosaal sah aus wie eine Mülldeponie. Aber schon war das Reinigungspersonal an der Arbeit. Anscheinend gab es noch eine Spätvorstellung. Wir schlenderten noch eine Weile durch das nächtliche Skopje. Die Kinder spielten Verstecken hinter parkenden Autos und Bäumen. Wir rauchten Zigaretten und schauten Schaufenster an. Vor allem die mit Damenunterwäsche, die zogen Frauen und Männer gleichermaßen an. Niemand dachte ans Heimfahren. Überall in den Straßen liefen noch andere Kinder herum. Polizeistunde ist wohl nur etwas für Westeuropa.

Am nächsten Tag beendigte ich die Montage und füllte Öl ein. Dann stellte ich die Zündung ein. Mit so vielen Helfern ging das Hin- und Herschieben einfach. Dann kickte Hans ohne die Kerzen drinnen, und ich versuchte zu hören oder zu fühlen, ob etwas irgendwo anstieß oder Spiel hatte. Alles lief rund. Und wenn Spiel, dann war es zumindest nicht wahrnehmbar. Also Benzin in den Tank und Kick, Kick, Kick. Das ganze Camp stand herum. Plötzlich ein Knall, die Kinder sprangen erschreckt zurück. Noch mal kicken, und der Motor erwachte zu neuem Leben. Alle klatschten. Ich fuhr eine kleine Runde, die Kinder rannten hinterher. Als der Motor warm war, Öl ablassen. Es sah sauber aus. Neues hinein und erneute Probefahrt, diesmal eine halbe Stunde lang, mit Hans im Seitenwagen. Die Kinder rannten hinterher, bis das Gespann beschleunigte. Wir fuhren bis Skopje. Dort tranken wir ein Bier, das ich bezahlte. Bisher hatten immer meine Gastgeber gezahlt. Hans meinte, dass das, was ich vorhatte, sehr gefährlich sei. Sie waren schon mehrmals in der Türkei gewesen, kein gutes Land. Ob ich überhaupt eine Waffe hätte, falls ich mal bedroht oder angegriffen würde. Ich verneinte und versuchte ihm zu erklären, dass die Parole meiner Generation „Love and Peace“ sei. Keine Waffe - kein Krieg! Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Du brauchst mindestens eine Pistole!“, sagte er, „ich besorge dir eine!“ Ich kaufte noch ein paar Flaschen Wein und drei Kisten Bier, Nüsse und Sonnenblumenkerne. Alles kam in den Seitenwagen. Mit Hans auf dem Rücksitz ging es zurück ins Lager. Ich wollte am Abend einen ausgeben. Morgen sollte es weitergehen.

Abends kam Hans zu mir ans Zelt. Er brachte einen kleinen Trommelrevolver mit Kleinkaliber Patronen. Er war schon etwas älter. War es eine aufgebohrte Schreckschusspistole? Er wollte sie gleich ausprobieren. Ich hielt ihn davon ab. Jetzt am Abend noch eine Ballerei… Ich war unschlüssig. Doch er bestand darauf, dass ich sie nehme. 50 Mark.

Den nächsten Vormittag verbrachte ich mit Packen. Ich sortierte etwas durch. Ein paar Kleidungsstücke, eine neue Bluejeans, etwas Werkzeug, zwei verzogene Felgen. Damit könnten sie eine Karre bauen. Ich gab das alles Hans. Am Mittag drängte er mich, mit seiner Familie zu essen. Nachher suchte ich den Chef auf und bedankte mich für die Aufnahme. Ich wollte bezahlen. Er schlug mir auf den Rücken, dass meine Rippen krachten. „Wir hatten dich eingeladen. Du bist wie ein entfernter Verwandter, ein Cousin. Und in der Familie bezahlt man nicht!“ Ich verabschiedete mich von allen im Lager. Für die Kinder hatte ich noch eine große Tüte Gummibärchen gefunden. Meine Mutter hatte wirklich an alles gedacht! Dann ein paar Kicks, winken, rufen. Die Hunde waren für die nächsten 500 Meter meine Begleitung. Oben, von der Hauptstraße, hupte ich ihnen nochmals zu und winkte.

Die Straße hatte mich wieder. Ich genoss den Fahrtwind, die Kurven, die Landschaft, das Blubbern des Motors. Nach einer Weile Glückseligkeit hörte ich genauer auf den Motor. Bei aller Freude über die Auferstehung meines Mammuts durfte ich meinen analytischen Verstand nicht länger unterdrücken. Und dieser sagte mir, da ist immer noch ein Geräusch! Und zwar ähnlich wie vorher. Hatte die Kurbelwelle doch einen leichten Knick? Oder was konnte das sein?

Bis zur Grenze waren es noch 200 Kilometer. Eine Nachmittagsetappe. Hinter der Grenze würde ich dann einen Lagerplatz suchen. Ein Schild kündigte an, dass mich nur noch 20 Kilometer von Griechenland trennten. Die Straße beschrieb eine weite Kurve. Ich glaubte, die Grenzstation schon mit bloßem Auge sehen zu können. Da - ein Ruck, und Pam, Pam, Pam – Schweigen! Mit gezogener Kupplung steuere ich die ausrollende Maschine noch 20 Meter weiter aus der gefährlichen Kurve heraus und komme am Straßenrand zum Stehen. Ich weiß: diesmal ist es das endgültige Ende, nach miesen 1650 Kilometern!

Ich spüre Verzweiflung. Ein paar Tränen steigen mir in die Augen. Doch bald verwandelt sich diese in Wut. Wut auf die, die mir diesen Schrotthaufen angedreht hatten. Denn die mussten gewusst haben, wie die Karre beieinander ist! Warum hatten die sonst die zwei anderen Motoren? Gauner, Lügner! Und dann ganz plötzlich ist all das verschwunden. Ich fühle nichts als eine große Erleichterung. Denn es steht fest: die Reise geht weiter, ohne Motorrad, ohne die täglichen Sorgen um die sich langsam auflösende Maschine. Ich spüre es ganz stark: Jetzt bin ich frei!

Schon hält ein Auto an. Ob er mir helfen kann? Er bietet mir an, mich bis zur Grenze zu schleppen. Ich krame mein Abschleppseil heraus, binde es rechts vom Motorrad an den Rahmen des Seitenwagens und an die Anhängerkupplung des Autos. Los geht’s. Diesmal leise wie der Wind. Das erste Mal, dass ich am Motor kein störendes Geräusch feststelle! An der Grenze schleppt er mich noch bis an den Rand des großen Parkplatzes, wo ein paar Autos und viele LKWs stehen, die auf ihre Papiere warten. Ich gebe dem Fahrer meinen hydraulischen Wagenheber und das Werkzeug. Er will es nicht annehmen. Ich mache ihm klar, dass ich ab jetzt nur mit Rucksack reise. Dann gehe ich zur Grenzstation und erkläre ihnen, dass ich das Fahrzeug wohl verschrotten werde und dass ich ein Formular bräuchte, damit jemand das Fahrzeug in Deutschland abmelden könnte. Kein Problem! Auch stört es nicht, wenn ich auf dem Parkplatz zelte. Er zeigt auf die LKWs. Manche sind schon seit fünf Tagen hier und warten auch auf Papiere. Im Wechselbüro gibt man mir Papier und erlaubt mir, eine Anzeige auszuhängen: „Verkaufe billig Seitenwagengespann und Ausrüstung.“

Ein paar Neugierige schauen vorbei. Ich verkaufe den Helm für fast nichts. Ein paar Klamotten, die Lederjacke. Ich verschenke alles halb. Nur das Motorrad interessiert niemanden. Oder doch: am nächsten Tag kommt ein jugoslawischer Zöllner vorbei und gibt mir die Adresse eines griechischen Kollegen, der daran interessiert ist. Ich gehe also durch das Niemandsland zur griechischen Zollstation. Der Mann ist gerade da. Mit Händen und Füßen und meinem bisschen Altgriechisch gelingt es uns, uns zu verständigen. Nur: kaufen will er es nicht. Doch wenn ich es verschenken täte, wurde er es gerne nehmen. Er weiß genau, in welcher Situation ich bin. Ich muss die Karre loswerden, ich will ja weiter. Ich verschiebe die Antwort auf den nächsten Tag, will nochmal darüber schlafen…

Inzwischen mache ich noch etwas den Ausverkauf und suche alles zusammen, was zu schade zum Verschleudern ist. Das stecke ich in meinen Seesack, morgen will ich es per Post zu meinen Eltern schicken. Von den Kleidungsstücken die ich anhabe, stecke ich ein Ersatzstück in meinen Rucksack und eine Umhängetasche, auch die Kameras und was mir auf den ersten Blick unentbehrlich erscheint. Das ist eine ganz schöne Menge… zwischen 25 und 30 Kilo. Den ganzen Rest biete ich für 50 Mark an. Ein Käufer findet sich bald. Aber er hat nur 20 Mark dabei. Den Rest verspricht er mir morgen zu bringen. „Soll ich das wirklich glauben?“, frage ich ihn. Klar, dass ich ihn nie wiedersah!

Am nächsten Morgen steht der Grieche vorm Zelt. Er hat vorausschauend schon die nötigen Papiere vorbereitet und abgestempelt. Diese lasse ich noch bei den Jugoslawen beglaubigen und stecke sie in den Seesack mit einem Brief an meine Mutter. Dann fährt mich der Grieche zum nächsten Postamt, wo ich den Seesack aufgebe. Am Nachmittag, als er Feierabend hat, schleppen wir das Gespann zu seiner Wohnung. Wir parken es vor einem Schuppen. Er macht die Tür auf. Darin steht eine KS 601, total verdetscht, kaum wiederzuerkennen. Er hatte damit einen Unfall gehabt. Nur der Motor ist noch heil. So war das also! Hoffentlich wird er mit meinem Rest glücklicher!



HIPPIE TRAIL - Band 1

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