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Kapitel 2

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Als einige Wochen später die Zahlungserinnerung eines Seminarveranstalters in seiner Mailbox auftauchte, wusste er zunächst gar nichts damit anzufangen. Das musste ja wohl ein Versehen sein oder ein Betrugsversuch. Man hörte ja überall davon, Pishing oder wie das da hieß. Er schaute genauer hin, wer denn der Absender war und langsam kam in ihm die Erinnerung zurück, die ihn mit seiner Wahnsinnsidee konfrontierte, die darin bestanden hatte, sich in einem Zustand der Unzurechnungsfähigkeit zu einem „spirituellen" Seminar angemeldet zu haben. Was für ein Blödsinn war das? So was würde er auf keinen Fall machen. Wie besoffen musste er da gewesen sein, als er sich dafür angemeldet hatte? Oder hatte ihn seine Verzweiflung dazu getrieben, in der Hoffnung, dass einer ihm eine Lösung aus seinem Dilemma verschaffen könnte? Auf keinen Fall war er bei klarem Verstand gewesen, so wie jetzt, als ihm das Vorhaben aberwitzig erschien. Wie würde er dastehen, wenn jemand seiner Kollegen davon Wind bekäme. Das waren allesamt gestandene Männer und Frauen mit Realitätssinn. Für die zählten Fakten, so wie auch für ihn, keine spirituellen Spinnereien. Begleichen musste er die Sache, denn der Zeitraum für eine Stornierung war bereits überschritten. In diesen sauren Apfel musste er beißen. Was sollte er tun? Bezahlen für nichts oder doch hinfahren und mutig sich der neuen Erfahrung stellen? Die Vorstellung, seine gewohnten Bahnen zu verlassen, bescherte ihm ein kribbelndes Unwohlsein. So saß er vor seinem Laptop und beobachtete seine rechte Hand. Wie von außen nahm er wahr, wie er mit der Mouse den Zeiger auf den Zugang zu seiner Online-Bank zu richtete? Wie sein rechter Zeigefinger den Cursor auf o.k. führte und die linke Taste mit einem Klick die Transaktion vollendete. Das war's, das Geld war weg. Und nun? Hatte er sich schon entschieden, damals, als er sich angemeldet hatte? War sein kritisches Bewusstsein so hilflos, dass es sich nicht gegen diesen Entschluss durchsetzen konnte, oder wollte es nur nicht zeigen, dass es die Schnauze voll hatte von seiner aktuellen Art zu leben, ohne dies offen zuzugeben? Er wusste es nicht und schaute sich einfach noch einmal die Beschreibung des Seminars an. Aber das half ihm auch nicht weiter, denn da stand nichts anderes, als er es beim ersten Mal dort vorgefunden hatte. Am besten, er trank erst einmal ein Bier und wandte sich anderen Dingen zu, die wichtiger waren.

Der Tag, an dem er sich zu dem Seminar auf den Weg machte, kam viel schneller, als erwartet. Der Wetterbericht für Süddeutschland war Unheil verkündend und Albert konnte sich auf eine von Eisglätte und Schneetreiben begleitete Fahrt einstellen. Doch das machte ihm als geübtem Autofahrer wenig aus. Es war das Ziel seiner Reise, welches ihm Magenschmerzen bereitete, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Er hatte Krämpfe und sein Darm befand sich auf höchster Aktivitätsstufe. Noch nie hatte er eine solche Veranstaltung mitgemacht. Im Gegenteil, er hatte sich bisher immer abfällig über diese armen Menschen geäußert, die so was nötig hatten. Nicht, dass er sie verachtet hätte. Er war ja tolerant. Da war z.B. die sehr attraktive junge Kollegin gewesen, die regelmäßig zum Familienstellen fuhr oder der alte Bauzeichner, der nach einem Herzinfarkt zu meditieren angefangen hatte. Aber die waren inzwischen nicht mehr in der Firma. Nein, er verachtete sie nicht. Er empfand es nur als Schwäche und war stolz darauf, dass er so etwas nicht nötig hatte. Er erbrachte stets seine Leistung, hatte beruflichen Erfolg und die Unzufriedenheit trank er sich aus dem Kopf. So funktionierte sein Leben seit vielen Jahren, ohne dass er gewahr wurde, dass irgendetwas dabei war, aus dem Ruder zu laufen. „Das Glückssaufen", wie er es nannte, wenn er mit einem Zug eine Flasche Bier leerte und die betäubende Wirkung in sich aufsteigen spürte, funktionierte immer seltener, während die Gefühle von Angst und Traurigkeit immer häufiger und länger bei ihm verweilten. „Noch habe ich aber alles im Griff", sagte er mit zweifelhafter Überzeugung. „Also warum diese Fahrt durch den Schnee?"

Das mulmige Gefühl quälte noch seinen Bauch, als er seinen Wagen auf den Parkplatz des Tagungshotels steuerte, welches in einer ehemaligen Kurklinik untergebracht war. Die Fahrt hatte ihn durch dichtes Schneetreiben geführt, was seine höchste Aufmerksamkeit erfordert hatte, so dass er kaum an das Seminar zu denken brauchte. Doch jetzt, als sein Wagen zum Stillstand kam, fühlte er sich wie ein verängstigtes Kind. Da er sich solch eine Angst nicht zugestehen konnte, deutete er das als Widerstand gegen das Seminar und die Menschen dort. Er schaute zum Eingang und überlegte, doch noch umzudrehen. Irgendwo ein Hotel suchen, an der Bar etwas trinken, schlafen und am nächsten Tag zurück fahren, das wäre die erleichternde Alternative. Hinter ihm fuhr ein weiteres Fahrzeug auf den verschneiten Parkplatz. Eine Frau und ein Mann stiegen lachend aus dem Wagen. Wie alberne Kinder bewarfen sie sich mit Schnee, bevor sie den Kofferraum öffneten und zwei Koffer herausholten. Er beobachtete die beiden und fand sie übertrieben fröhlich. „Mach, dass du hier wegkommst," sagte eine Stimme in ihm. „Wenn die hier alle so drauf sind, weißt du ja schon, was das für ein Mist wird.“ Also aufbrechen, umkehren und fliehen? „Welch ein Unsinn, jetzt wieder zu fahren,“ machte er sich Mut und versuchte, sich alle schwierigen Situationen ins Gedächtnis zu rufen, die er bisher bestanden hatte. Da gab es viele, aber jetzt wollten ihm keine einfallen. Noch ein Wagen rollte auf den Parkplatz und hielt neben dem seinen. Es war ein kleiner Fiesta, aus dem schon bald eine Frau mit roter Pudelmütze und langen lockigen Haaren ausstieg. Sie sah ihn im Auto sitzen und lächelte kurz. Ihre Augen strahlten, als sie zu ihm hineinschaute. Sie griff über die Rückenlehne des Beifahrersitzes und holte eine kleine Reisetasche von der Rückbank. „Wahrscheinlich tut es die Kofferraumtüre bei der alten Kiste nicht mehr,“ dachte er und schaute der Frau hinterher, wie sie, die Tasche in der Hand, durch den Schnee in Richtung des Tagungshauses stapfte. Ohne das warme Gefühl in seiner Brust bewusst wahrzunehmen, sagte sich Albert: „Also los. So schlimm wird es schon nicht werden", und stieg aus dem inzwischen kalten Auto aus. Er musste sich anstrengen, seine Reisetasche aus dem Kofferraum zu hiefen, denn die zwei Sixpacks Altbier, die er vorsorglich dort verstaut hatte, verliehen dem Gepäck zusammen mit den übrigen Sachen ein ordentliches Gewicht.

An der Rezeption angekommen, hatte die Frau bereits eingecheckt. Er sah die rote Pudelmütze um eine Ecke verschwinden und blickte ihr nach, bis das Räuspern des Portiers ihn in die Wirklichkeit zurückrief. Hinter ihm warteten schon zwei weitere Teilnehmer. Albert sagte, dass er ein Zimmer reserviert hätte, wobei er viel zu leise sprach, so dass der Portier nachfragen musste. Als er schließlich seinen Zimmerschlüssel in der Hand hielt, bewegte er sich wie im Traum zum Speisesaal, so dass der Portier ihm hinterherrufen musste, dass er in die andere Richtung gehen und den Aufzug zur zweiten Etage nehmen sollte, wo sein Zimmer lag. Albert war das ungemein peinlich. Alle konnten sehen, wie durcheinander er war. Fehler zu machen, und das ganz öffentlich, war für ihn immer eine schmerzhafte Blamage. Er fürchtete, alle würden ihn anstarren, lachen oder abwerten. Am liebsten wäre er im Boden versunken oder einfach wieder nach draußen gegangen, ins Auto gestiegen und losgefahren. Dabei bemerkte er gar nicht, dass niemand auf ihn achtete. Stattdessen stand er vor der Aufzugtüre und wartete mit einem Mann zusammen, bis sich der Aufzug durch quietschende Geräusche bemerkbar machte. Der Mann lächelte ihm zu. Er mochte in Alberts Alter sein und sah auch nicht so ganz glücklich aus, wie Albert fand. Er lächelte unsicher zurück und sie bestiegen gemeinsam den Aufzug. „Auch zum ersten Mal hier?", fragte der Mann. Albert nickte und brummte ein „ja". „Meine Frau hat mir das Seminar zu Weihnachten geschenkt. Sie meint, es würde mir gut tun", sagte der Mann mit einem leichten Zweifel in der Stimme, und Albert fand das beruhigend. „Ich heiße übrigens Helmut. Bei solchen Seminaren duzt man sich ja wohl,“ setzte er unsicher hinzu, als er Alberts Gesichtsausdruck sah. Der andere war also auch nicht aus Überzeugung hier. „Tut man wohl,“ erwiderte Albert. „Ich heiße Albert. Mal sehen, was das hier bringt." So verabschiedete er sich und lächelte dem anderen zu. Nachdem beide die Nummern Ihrer Schlüsselanhänger studiert hatten, bewegten sie sich in unterschiedliche Richtungen auf dem langen Gang. „Bis morgen", rief der andere und winkte. Auch er schien froh, einen Gleichgesinnten gefunden zu haben. Albert nickte noch einmal und suchte seine Zimmernummer.

Der Raum war klein, gemütlich und mit hellen freundlichen Möbeln ausgestattet. Das war schon mal in Ordnung. Seine innere Anspannung löste sich langsam. Mit einem Bier, welches er dem einen Sixpack entnahm, half er seinen guten Gefühlen nach. Die Bilder an der Wand zeigten Darstellungen von Lichtwesen und weißen Wasserfällen, was er als eher kitschig oder vielmehr lächerlich empfand. „Kinderkram", dachte er. Immerhin waren die Bilder schöner als die schwarzhaarigen, leicht bekleideten Carmens oder die in grellen Farben dahingepinselten Landschaften, die man an den Wänden vieler Hotelzimmer vorfand.

Albert war am Abend vor dem Seminar angereist, um sich ein Bild zu machen. Wovon wusste er nicht, aber er fühlte sich sicherer, wenn er sich in Ruhe auf alles einstellen konnte. Er machte sich gerne vorher ein Bild. „Warum mache ich das", fragte er sich? „Vielleicht, weil ich so die Möglichkeit habe, doch noch abzuhauen, ohne dass es auffällt. Wenn das Seminar schon begonnen hat, wäre es peinlich." „Nur nicht negativ auffallen", dachte er bitter. Wie viel Stress hatte es ihm schon bereitet, zu leben, ohne Stellung zu beziehen und aufzufallen? „Mein Leben besteht aus Absicherungen", dachte er und fühlte Brechreiz aufsteigen, bis sich die Spucke in seinem Mund zusammenzog. War er deshalb hier? „Ich bin halt so", sagte er wie zu seiner Entschuldigung. Aber vor wem entschuldigte er sich? Wieder fühlte er den Brechreiz, doch diesmal meinte er, darin eine gehörige Portion Wut zu erkennen.

Obwohl er kaum Hunger verspürte, überredete er sich, etwas essen zu gehen. Der Hunger würde sonst kommen, wenn es nichts mehr gab und hier war er auf dem Land. Wenngleich er lieber in der schützenden Hülle seines Zimmers geblieben wäre, machte er sich schließlich, nachdem er noch schnell eine weitere Dose Bier geleert hatte, auf den Weg ins nahe gelegene Dorf. Der Weg hatte ihn durch den kalten Dezemberabend an einem kleinen See entlang geführt. Friedlich spiegelten sich die Laternen des Uferweges in dem ruhigen Gewässer. Der Schnee steigerte den Zauber dieses Ortes. Glitzernde Kristalle und tiefschwarzes Wasser bildeten einen bizarren Kontrast. Albert atmete die eiskalte Luft und sah durch den ausströmenden Atemnebel die Welt um sich herum wie in einem Traum. „Wie romantisch", dachte er und wurde traurig. Warum stand er hier alleine. Niemand war da, mit dem er diese Schönheit teilen konnte. Warum war keine Frau da, die er im Arm halten konnte. In den den Filmen, die er so kitschig fand und die doch Tränen in seine Augen treten ließen, was ihm peinlich war, wenn andere dabei waren, stand in solchen romantischen Situationen immer der Mann mit einer Frau im Arm, die ihren Kopf an seine Schulter legte und die er verliebt auf die Stirn küsste. „An was für einen Schwachsinn denkst du da? Das ist doch nicht das Leben, das sind Fantasien, die es in der Realität nicht gibt. Davon träumt jeder, deshalb werden diese Filme doch gedreht. Es ist unter deiner Würde, dir solch einen Mist vorzustellen.“ Er wusste, dass er unrecht hatte, aber das war unwichtig. Denn die Sehnsucht in seinem Herzen bereitete nur Schmerzen und die galt es, fernzuhalten.

Im Gasthof bestellte er einen deftigen Braten und einen halben Liter Bier. Die meisten Gäste, die wie er in der Gaststube saßen, sahen nicht wie Einheimische aus. „Wie sehen Einheimische aus?", fragte er sich. Trugen sie Lederhosen und Dirndl? Er machte gerne diese Spiele, Vermutungen über Menschen in seiner Umgebung anzustellen, die er nicht kannte. Hier vermutete er, dass auch sie Teilnehmer des Seminars waren. Vor allem zwei Paare am Nachbartisch ordnete er dem Seminar zu. Sie entsprachen in ihrem Aussehen und der Art, wie sie miteinander sprachen, seiner Vorstellung von Menschen, die das Esoterische lieben und gerne zu solchen Seminaren reisen. Er nannte sie „Esos" oder „Ökos". Es war ungerecht, so über Menschen zu urteilen, die er nicht kannte. Das wusste er, aber so war er nun einmal und er fühlte sich nicht gut damit. „Das fängt ja gut an. Wie halte ich es drei Tage mit denen aus? Wenn's gar nicht geht, fahre ich halt wieder", dachte er und war erleichtert über den Notausgang, den er sich da anbot.

Entgegen seinen Befürchtungen war der folgende Tag gar nicht so schlimm. Die meisten Frauen und Männer, die er beim Frühstücksbuffet traf, waren äußerlich ganz normal. Er fragte sich, warum die wohl hier waren. „Na ja, ich bin ja auch da", dachte er. Aber es beruhigte ihn, dass es auch „Normale" hier gab, mit denen er „normal" reden konnte. Natürlich gab es auch einige dieser „Esos", aber sie waren nicht einmal in der Mehrzahl.

Er führte nette Gespräche mit den anderen an seinem Tisch, die, wie es sich herausstellte, auch zum ersten Mal bei einem solchen Seminar waren und neugierig auf das warteten, was sich ihnen bieten würde. Gemeinsam gingen sie nach dem Frühstück zu dem Saal, der als Seminarraum ausgewiesen war.

An die hundert Menschen fanden in dem großen Raum Platz. Einige saßen schon auf den blau gepolsterten Stühlen, andere standen an Tischen, die an der Wand aufgestellt waren und auf denen Bücher und CD's lagen. Viele Plätze waren noch nicht besetzt, so dass Albert noch die Qual der Wahl hatte, was ihn immer sehr forderte. Sollte er hinten bleiben oder einen Platz in den mittleren Reihen suchen. Auf gar keinen Fall würde er sich nach vorne setzen. Da würde jeder mitbekommen, wenn er eher ging und deshalb würde er bis zum Schluss sitzen bleiben müssen. Diesem Zwang würde er sich auf gar keinen Fall unterordnen. In einer der vorderen Reihen machte Albert die Frau mit der roten Mütze aus. Er erkannte sie auch ohne die rote Mütze an ihren lockigen Haaren und dem Lächeln, das sie ihm schenkte, als sie ihn erkannte. Sie sah wirklich gut aus. Leider waren fast alle Plätze in ihrer Nähe besetzt. Außerdem saß sie schon verdammt weit vorne. Von hinten winkte ihm ein Mann zu und Albert erkannte den Gast, den er gestern am Aufzug getroffen hatte. Er erinnerte sich, dass dieser sich als Helmut vorgestellt hatte. Er zeigte auf einen freien Stuhl neben sich. Erleichtert winkte Albert der Frau zurück und schlängelte sich durch die hinteren Reihen, bis er den Platz neben dem Mann erreichte. Freudig begrüßte ihn der andere. Er schien kein Kommunikationsheld zu sein und war offensichtlich froh, jemanden zu kennen. Auch Albert war froh, einen Ansprechpartner zu haben und nicht wie ein einsamer Mensch in diesem Saal zu erscheinen. Er setzte sich auf den angebotenen Stuhl und streckte bequem die Beine vor sich aus. Sie redeten ein wenig über dies und das, wobei der andere immer wieder von seiner Frau erzählte, die schon dreimal solch ein Seminar besucht hätte und sich so verändert hätte. Jetzt sei es an ihm etwas zu tun, sonst würden sich ihre Persönlichkeiten allzu weit in verschiedene Richtungen entwickeln. Er habe schon einige Bücher zu diesem Thema gelesen und auch der Seminarleiter hätte ja schon sehr gute Bücher verfasst, die er alle kenne. Schließlich wollte er vorher wissen, auf was er sich da einlässt, auch wenn es ein Geschenk seiner Frau sei, welches er ohnehin nicht hätte ablehnen können, ohne eine Trennung zu riskieren. Albert merkte, wie sehr ihn dieser Mann langweilte und er bereute, sich keinen Platz neben der Frau gesucht zu haben. Aber er blieb sitzen, nickte und dachte, „du armer Wicht, glaubst du das eigentlich selber, was du mir da erzählst. Wie sehr hat deine Alte dich unterm Absatz.“ Glücklicherweise wurde die Musik, die bisher im Hintergrund gelaufen war, lauter, so dass der Mann aufhörte, zu reden. Albert kam endlich dazu, sich in Ruhe umzublicken. Die dicken, weißen Kerzen, die an den Seiten neben einer kleinen Bühne standen, hatte er schon wahrgenommen, als er hereingekommen war. Jetzt sah er auch die Blumenarrangements aus weißen Rosen drum herum, die in ihm eine angenehme, fast sakrale Stimmung auslösten.

Das Adagio, gesungen von „Il Divo“, klang aus den großen Lautsprechern. Albert gefiel die Musik. Es gab Musik, die ihn in eine andere Welt versetzen konnte und diese gehörte dazu. Er fühlte Rührung und Sehnsucht und bemühte sich, so gelassen wie möglich zu wirken. Schließlich zeigte man nicht inmitten von Fremden seine Gefühle, da war er ein wahrer Meister des Verbergens.

Der Seminarleiter betrat den Raum. Es war ein kleiner Mann um die Fünfzig, mit Bauchansatz und rasiertem Schädel, bekleidet mit Jeans und einem dunkelroten Hemd. Obwohl er klein war und unspektakulär gekleidet, ging von diesem Mann eine ganz besondere Ausstrahlung aus. Das erkannte Albert sofort und war deshalb auf der Hut. Solchen Menschen begegnete er mit ausgesprochener Vorsicht, denn es bestand die Gefahr, dass ihr Einfluss auf ihn zu stark sein könnte. Und das fürchtet Albert wie den Teufel, dass irgendjemand ihn vereinnahmen, ihm seine Freiheit rauben und so zum Sklaven seiner Wertvorstellungen machen könnte.

Der Mann erzählte einige Geschichten und sprach von dem inneren Kind in jedem Menschen, von Vergebung, Anerkennung und Neuanfang. „Als Kinder glauben wir fast alles, was wir lernen, und so verlieren wir die Macht über unser eigenes Leben. Wenn wir unser Bewusstsein zurück erlangen, erkennen wir, dass wir irgendwann zugestimmt haben, all das zu glauben. Und so wie wir in all das Vergangene die Kraft unseres Glaubens investiert haben, sind wir auch die Einzigen, die sich diese Kraft wieder zurückholen können." Er sprach fröhlich und seine Stimme war warm. Albert hörte die Worte und wusste, dass der Mann recht hatte. Er sprach ihm aus dem Herzen oder wollte er nur in sein Herz eindringen? Albert blieb in kritischer Distanz, doch voller Hoffnung auf etwas, wovon er nicht wusste, was es war. Er hörte den Mann sagen, wie wichtig es sei, auch Vater und Mutter zu vergeben für das, was nicht gut gewesen war.

Zuerst verspürte Albert kurz eine hoffnungsvolle Rührung, die jedoch sofort von einem Schwall von Wut und Ärger verdrängt wurde. Alles sträubte sich gegen die Vorstellung, diesen Menschen zu vergeben. Waren es nicht sie gewesen, die ihn zu dem seelischen Wrack gemacht hatten, der er jetzt war. Der Vater, der nie da gewesen war, wenn er ihn brauchte. Die Mutter, die ihn mit ihrer übergroßen Fürsorge und Angst erdrückte, um ihn nicht zu verlieren. So hatte er gelernt, dass die einzige Chance, zu überleben war, sich wegzuducken, sich klein zu machen und in sich selbst zurückzuziehen. All das erfahrene Leid sollte er ihnen vergeben. Er hatte seinen Frieden mit ihnen gemacht. Das ja. Der Vater war inzwischen verstorben und in den letzten von Altersdemenz geprägten Tagen hatten sie sich angenähert. War es das, was der Mann da vorne meinte? Sicher nicht, aber vielleicht doch ein wenig? Und auch die Mutter, die in einem Altenheim lebte, besuchte er regelmäßig. War das nicht genug?

Eine Frau neben ihm begann zu weinen. Auch an anderen Stellen im Raum hörte er schluchzen. „Albern," dachte er und versuchte unbemerkt die Tränen, die aus seinen Augen zu kullern begannen, mit einer Hand wegzuwischen. Vorsichtig schaute er zu seinem Nachbarn und sah, dass es diesem ähnlich zu ergehen schien. „Wie peinlich das ist", dachte er. „Kollektives Heulen, das ist ansteckend wie eine Influenza." Die Schluchzgeräusche wurden noch stärker, als Leonard Cohen sein „Halleluja" über die sehr gute Anlage in den Raum schickte. Bei diesem Song musste er sogar heulen, wenn er ihn im Autoradio hörte. Die rauchige Stimme des Sängers drang aus den großen Boxen tief in den Raum und noch tiefer in sein Herz. Immer noch versuchte er vergeblich, gegen die Tränen anzukämpfen. Schließlich ließ er der Sache seinen Lauf und auch er begann zu schluchzen, geschüttelt von seinen ungeliebten Emotionen. Wenn die Dämme einmal gebrochen waren, gab es kein Halten und es war egal, was danach noch folgte.

Am Ende dieses Tages verzog sich Albert früh auf sein Zimmer. Er lag auf dem Bett, betrachtete das Bild vis à vis, welches ein Lichtwesen darstellte, das ihm die Hand zu reichen schien. Wie lächerlich, diese kindliche Darstellung von etwas, was man gar nicht darstellen kann, fand er. Das erinnerte ihn an die Bildchen, die sie als Kinder in der Kirche geschenkt bekamen, immer wenn sie zur Kommunion gegangen waren. Er dachte mit Hass an diese Kirche und den verlogenen Pfaffen, der den Kleinen Angst machte, indem er ihnen mit Teufel, Hölle und Fegefeuer drohte. Albert hatte es geglaubt damals und abends in großer Angst im Bett gelegen, wenn er am Tag Dinge getan hatte, die der Pfaffe zu den sündigen Taten zählte. Niemand war da gewesen, der den Kleinen beschützt hätte. Auch seine Eltern glaubten dem Mann der Kirche oder widersprachen ihm zumindest nicht. Und denen sollte er nun vergeben? Das ging doch gar nicht. Wut stieg in ihm auf, wenn er daran dachte. Er ergriff seine Jacke und ging in die dunkle Nacht hinaus. Der Himmel war sternenklar und die Luft eiskalt. Es tat gut. Schon bald fühlte sich sein Gesicht im schneidend kalten Wind an wie von Nadeln zerstochen. Er dachte nicht mehr an die Vergangenheit, sondern folgte den Sternen, bis die Eiseskälte ihn ins Haus zurücktrieb.

Die Nacht war voller seltsamer Träume, die sich in ihren Handlungen zu wiederholen schienen. Ein helles Wesen erschien aus der Dunkelheit. Es breitete die Arme aus und streckte sie ihm entgegen. Angezogen von der Gestalt wollte er deren Hände ergreifen, doch da lösten sich diese in Nichts auf und er stürzte in eine tiefe Dunkelheit. Während er fiel, hörte er ein Lachen. Es war ein böses Lachen. Wieder war da das Wesen, schien ihn auffangen zu wollen, aber er stürzte hindurch und wieder erscholl dieses Lachen. Mehrfach erwachte er, jedes Mal schweißnass, und immer wieder fiel er in diesen furchtbaren Traum. Irgendwann stand er plötzlich vor einer goldenen Tür. Das helle Wesen deutete auf die Tür und hoffnungsvoll öffnete er sie, ging hindurch und - war wieder im Nichts. Er spürte eisige Kälte und Einsamkeit. Er war allein. In der Ferne erklang das bekannte, schreckliche Lachen.

Ein gnädiger Wecker erlöste ihn von seinen Qualen. Duschen, Kaffee und Frühstück brachten ihn wieder in die reale Welt.

Auch an diesem Tag versprach der Seminarleiter, dass die Annahme des Kindes in ihnen und die Vergebung an die Ahnen die Befreiung von allem inneren Leid bringen würde. Albert war durch die vorangegangene Nacht in einem halb schläfrigen Zustand. Erstaunlicherweise drangen die Worte nun anders an ihn heran und er fühlte das eine oder andere Mal ein angenehm wohliges Gefühl, während er der Musik lauschte. Der Seminarleiter forderte sie auf, mit dem Kind in ihnen Kontakt aufzunehmen. Er begann innerlich, heimlich, mit seinem kleinen Albert zu sprechen. Es entstand ein schönes Gefühl durch diesen Kontakt, neu und doch altbekannt.

In der Mittagspause hatte er nur kurz bei den anderen gesessen, ein wenig von dem opulenten Buffet genommen, um bald aufzustehen und zum See hinunter zu gehen. Er wollte alleine sein. Zwar fühlte er sich nicht mehr so unwohl bei den anderen, auch wenn Helmut versuchte, sich wie eine Klette an ihn zu heften. Ohne ihn vor den Kopf zu stoßen, gelang es Albert jedoch, ihn immer wieder loszuwerden. „Der muss das doch mal merken, dass er mich nervt“, dachte er sich. Doch der andere merkte es nicht, weil er in seinem Film war und Albert nur sein Protagonist. Jetzt stand er am Seeufer und hatte das Gefühl, ganz nah bei sich zu sein. Das war ungewohnt. Was konnte er jetzt tun? Lachen, weinen, sich den Kopf zerbrechen? Oder sollte er den Seminarleiter fragen? Ein heftiger Schneefall ließ seine Gedanken in die Gegenwart zurückkehren. Auch war es Zeit, zurückzugehen, denn die Nachmittagsveranstaltung begann in wenigen Minuten und er wollte vorher noch eine Tasse Kaffee trinken. Der Nachmittag verlief wie der Vormittag. Beim Abendessen gelang es Albert, einen Platz am Tisch der Frau zu finden, doch die hatte sich inzwischen mit anderen Teilnehmern angefreundet und schien ihn gar nicht zu beachten. „Wieder mal zu spät“, dachte Albert und bemerkte deshalb nicht ihre kurzen Blicke, die darauf warteten, dass er sich um sie bemühte. Doch Albert tat das, was er immer tat. Er zog sich zurück in sein Schneckenhaus, aß schweigend und stand mit einem höflichen Abschiedsnicken, der Allgemeinheit zugewandt, vom Tisch auf. Er verzichtete auf die Abendveranstaltung, zu der er auch gestern nicht gegangen war, von der aber alle, die dort gewesen waren, geschwärmt hatten. Den ganzen Tag und dann auch noch den Abend mit so vielen Menschen in Gemeinschaft zu erleben, das war zu viel für ihn.

Auch in dieser Nacht träumte Albert wieder intensiv. Diesmal stand er am Ufer des Nils. Hinter ihm lag der Weg, auf dem in den Zeiten der ägyptischen Pharaonen am Neujahrstag die Statuen der Götter Amun, Mut und Chon in einer heiligen Prozession auf tragbaren Barken zu dem Karnak-Tempel gebracht wurden. Von Ferne hörte er Singen und Stimmengemurmel, konnte jedoch nichts sehen. Die Stimmen verklangen langsam, während ein kleiner Junge in einem schmutzigen, ehemals weißen Burnus erschien. Der Junge lehnte an einer der Säulen des Tempels. Auf einmal war er ganz nah und schnitzte an einem Stück Holz. Er schien ihn nicht zu bemerken, war ganz versunken in sein Schnitzwerk. Albert stand vor dem Kleinen und schaute ihm zu. Er fühlte sich sehr vertraut in diesem Moment. Nach einer langen Zeit erhob sich der Junge und kam auf ihn zu. Langsam hob er die rechte Hand und streckte sie ihm entgegen. Zwischen seinem Daumen und Zeigefinger hielt er einen kleinen Skarabäus.

„It's for you", hörte er den Kleinen sagen. „I have no money", antwortete Albert, der, wie er jetzt bemerkte, nur ein weißes Hemd, welches ihm bis zu den Knien reichte, trug. „It's for you", wiederholte der Kleine nun eindringlicher und legte den Käfer auf einen Stein neben seinen rechten Fuß. Neben dem Stein bemerkte Albert eine Königskobra, die zusammengeringelt in der Sonne döste. Ohne die geringste Angst sah Albert die Schlange an und bemerkte, wie heiß es war. Als er seinen Blick von dem Reptil zu dem Ort lenkte, an dem der Kleine gestanden hatte, war dieser verschwunden. War er nur eine Fata Morgana gewesen? Doch der Skarabäus lag noch dort. Langsam beugte sich Albert nieder, ohne die schlafende Schlange zu stören und nahm das steinerne Insekt in seine Hand. Die Figur lag kühl und angenehm in seiner Hand. Während seine Finger über den glatten Rücken des Käfers strichen, wurde sein Blick in die Ferne gezogen. Dort sah er wieder den Jungen. Weit entfernt stand der Kleine neben der letzten Säule des Tempels, lächelnd und winkend. „For you", hörte Albert die Knabenstimme von weitem rufen und lachen. Dann verschwand der Junge endgültig in der Weite des grellen Lichtes.

Ob er noch mehr geträumt hatte, wusste Albert nicht. Er erwachte noch vor dem Läuten des Weckers. Erstaunt erwartete er, einen Skarabäus in seiner Hand zu finden. Doch die Hand war leer.

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