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Kapitel 3

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"Mitten im Winter habe ich schließlich gelernt,

dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt."

Albert Camus

Albert packte seinen Koffer, denn er wollte allein sein. Als die anderen aufgestanden waren, um in den Seminarraum zu gehen, holte er sich einen Kaffee und ein Brötchen vom Buffet. Er saß im Wintergarten, der zum Frühstücksraum gehörte und schaute in die Wintersonne, die von einem blauen Himmel strahlte. In der Nacht hatte es weiter geschneit und über den Wiesen lag eine dicke Schicht weißen Schnees. An einen Baum gelehnt schien er den Jungen aus dem Traum zu erkennen. Natürlich war es nur eine Täuschung. Aber was für ein seltsam surrealistischer Traum war das gewesen, der ihn bis hierhin in sein Bewusstsein verfolgte. Das Gefühl, welches er bei den Tempeln von Karnak gehabt hatte, war frei von jeder Angst gewesen. Es war, als könne ihm nichts etwas anhaben, nicht einmal die Giftschlange am Boden. Es war, als hätte der Junge - oder war es der Skarabäus – eine große Zauberkraft, die ihn vor allen Gefahren bewahren konnte.

Nachdem er den Kaffee getrunken und das Brötchen gegessen hatte, zahlte er an der Rezeption sein Zimmer und ging zum Auto. Die junge Frau am Empfang hatte ihn erstaunt angesehen, als er die Rechnung verlangte, aber nichts gefragt. Das war gut so, auch wenn er sich, bereits in Gedanken, so als müsse er sich rechtfertigen, eine Begründung für seine vorzeitige Abreise ausgedacht hatte. Erleichtert, aber nicht überzeugt, das Richtige zu tun, trat er ins Freie.

Albert wusste, dass er noch nicht nach Hause fahren wollte. Er hatte hin und her überlegt und schließlich einen Entschluss gefasst. Nicht weit von hier lag der Bodensee und erfand, dass es eine gute Idee wäre, dort in das Neue Jahr hinüber zu feiern. Nicht ohne Wehmut steuerte er sein Auto vom Parkplatz. „Schade", sagte er laut. „Schade", wiederholte er und dachte an die Frau und an all die anderen Menschen, die jetzt in dem Raum bei weißen Kerzen und schöner Musik zusammensaßen und darauf warteten, was der Seminarleiter heute für sie bereithielt. „Noch kann ich zurück", schoss es ihm durch den Kopf, während sein Fuß auf das Gaspedal trat und das Auto auf der schneeglatten Fahrbahn ins Schleudern brachte. „Konzentriere dich und fahr los", sagte er sich. Hinter ihm verlor sich das große Haus im wieder einsetzenden Schneegestöber.

Immer dichter fielen die Flocken und behinderten die Sicht. Sie rasten auf sein Gesichtsfeld zu und erzeugten eine Art Trancezustand, aus dem er sich mehrfach wecken musste. Die Scheibenwischer leisteten Schwerstarbeit und nur langsam kam er seinem Ziel näher. Er war vor Jahren einmal in Lindau gewesen und das Städtchen auf der Halbinsel im Bodensee hatte ihm gut gefallen. Daher hatte er, einer Eingebung folgend, beschlossen, dort den Jahreswechsel zu verbringen. Nach doppelter Fahrtzeit erreichte er schließlich einen Vorort von Lindau. Ein Schild mit der Aufschrift „Grandhotel Georg" wies in Richtung Seeufer. Er folgte der Ausschilderung, ohne nachzudenken. Sie lenkte ihn eine kleine Allee entlang, die zu einem sonderbaren Gebäude führte. Wie ein Märchenschloss mit Erkern und einem Spitzturm lag da das „Grandhotel Georg". Sein Blick am Haus vorbei erkannte die graue Wasserfläche des Bodensees. Es sah romantisch und verwunschen aus. Der Schnee bedeckte wie Zuckerguss das Dach des Türmchens. Vier Autos standen vor dem Eingang und Albert überschlug kurz in Gedanken die mögliche Anzahl von Zimmern und seine Chance, dass eines für ihn frei war. Zu seiner Überraschung wurde ihm auf sein Fragen hin mitgeteilt, dass er ein Zimmer haben könne. Es hatte Seeblick und dadurch bedingt einen Aufpreis. Ein Gast hatte kurzfristig abgesagt. Albert hatte nicht erwartet, so einfach und schnell ein Zimmer zu finden, zumal solch ein schönes. Zwar hatte er nicht daran gezweifelt, aber er hatte auch nicht damit gerechnet. Eigentlich hatte er gar nichts erwartet. Er war einfach gefahren und hatte sich auf Silvester am See gefreut. Von außen betrachtet war das naiv und für Albert unüblich gewesen. Aber das war jetzt gleichgültig.

Es war fantastisch. Von seinem Zimmer aus hatte er einen Ausblick direkt auf den größten See Deutschlands, der von dicken weißen Schneeflocken berieselt wurde. Das Hotel war im viktorianischen Stil erbaut. Die Inneneinrichtung hatten die Besitzer, ein schwules Paar, welches aus München hierher gefunden hatte, stilistisch geschmackvoll dem Äußeren nachempfunden. Einer der beiden, Georg, hatte dem Hotel seinen Namen gegeben. Alles war harmonisch aufeinander abgestimmt. Es war wirklich ein Raum zum Wohlfühlen.

Der einzige Supermarkt in dem Vorort hatte glücklicherweise noch geöffnet. Albert kaufte Wein und Bier und Knabberzeug und für die Silvesternacht eine Flasche Sekt. Mit diesen Dingen beladen kehrte er in das Hotel zurück. Einer der Besitzer, ein schlanker, groß gewachsener Mann mit sehr gepflegtem Äußeren, empfing ihn mit einem freundlichen Lächeln. „Wollen Sie eine Party auf Ihrem Zimmer veranstalten", fragte er mit einer weichen, melodiösen Stimme und lächelte fast verlegen. Dabei zog er die Schultern ein wenig an und neigte den Kopf zur Seite, so als wisse er nicht, ob er so was fragen dürfe. In seinen Augen wiederum meinte Albert zu lesen: „Was soll das?" Albert war die Sache peinlich und er fühlte sich ertappt. Wie immer in solchen Situationen wurde sein Gesicht rot. „Nein, nur mit mir selber ein wenig feiern", antwortete er. Eine Stimme in seinem Inneren fügte hinzu: „Und mit meinem inneren Kind", was ihm ein unbeabsichtigtes Lächeln ins Gesicht spülte. Der Mann schien das Lächeln als Freundlichkeit zu deuten, denn er ließ wieder seine feine, singende Stimme ertönen und sagte augenzwinkernd. „Wenn Sie Silvester noch nichts vorhaben, lade ich Sie ein, hier im Hotel mit den anderen Gästen zu feiern. Im Foyer gibt es einen Umtrunk, sicherlich wird auch getanzt. Und um zwölf gehen immer alle runter zum See. Man sieht von dort aus das Feuerwerk in Lindau und bei klarer Sicht auch das auf der österreichischen Seite."

Albert verunsicherte, wie der Mann zu ihm sprach, und wusste nicht, ob der Hauch von Erotik, welcher in dieser Stimme lag, Einbildung war, oder ob er ihn anmachen wollte. Brav bedankte er sich für die Einladung und fragte noch, ob er sich für die Party anmelden müsse. Der Mann lächelte und sagte: „Wenn Sie da sind, sind Sie da."

Albert verabschiedete sich und eilte auf sein Zimmer. Dort drehte er den Schlüssel herum und vergewisserte sich noch, ob die Türe auch gewiss verschlossen war. Wieso war er auf einmal in diese Panik geraten, als wäre jemand hinter ihm her? Der Mann machte ihn nervös, ja, aber was machte ihm Angst? Er hatte noch nie Probleme mit Schwulen gehabt, in seinem Bekanntenkreis waren immer auch Homos gewesen. Darin hatte er nie etwas Besonderes gesehen. Also was beunruhigte ihn nun an diesem Mann? War das etwa die Wirkung der zwei Seminartage? Er konnte sich keinen Reim darauf machen und er tat das, was er immer tat, wenn er nicht wusste oder nicht wissen wollte, was mit ihm los war. Er öffnete eine Dose Bier und trank erstmal. Das tat gut, beruhigte und gab ihm das Gefühl altbekannter Geborgenheit. Er leerte die erste Büchse mit einem Zug, nahm eine zweite und setzte sich an das Fenster, dessen Öffnung einen weiten Blick über den winterlich grauen Bodensee freigab. Der Schneefall hatte nachgelassen und man konnte vereinzelt Lichter am anderen Ufer sehen. Mit jedem Schluck fühlte er sich freier und unabhängiger. Selbst der Gedanke an den Mann im Foyer gab ihm jetzt ein angenehmes Gefühl. „Nur nicht daran denken, wie es ist, wenn ich zurück in Düsseldorf bin", schoss ihm durch den Kopf. Gleich ließ die Euphorie nach und machte dem gewohnten Gefühl der Sinnlosigkeit Platz. Nach dem Bier ging er zu Wein über. Wieder spürte er den Alkohol in seinem Körper. Schon wurde es besser. Jetzt war er angekommen und er freute sich auf das, was hier noch kommen sollte.

Nach einer Weile verspürte er Lust, nach draußen an die frische Luft zu gehen. Es hatte aufgehört zu schneien. Albert packte die zwei verbliebenen Büchsen Bier in seine Manteltaschen, zog die hohen Winterschuhe an und verließ das Hotel. Erleichtert nahm er zur Kenntnis, dass die Rezeption unbesetzt war. Wahrscheinlich schaute der Mann Sportschau, denn von einem der hinteren Räume war die Stimme eines dieser Sportreporter zu hören, die viel zu viel redeten. Schnell schlich er zur Tür und verschwand mit einem Gefühl der Belustigung nach draußen. „Was für ein Idiot ich doch bin", sagte er sich.

Auf der schmalen Straße, die vom Hotel zum nahe gelegenen Park führte, hatte sich eine neue, dicke Schneedecke gebildet. Albert spürte die gleiche Freude, die ihn immer als Kind ergriffen hatte, wenn die Erde zum ersten Mal im Jahr vom weißen Schnee bedeckt wurde. Es hatte etwas Friedliches, Unberührtes, Sakrales. Er erreichte den Park, dessen Wege direkt am Seeufer entlang führten. An einer Stelle verbreiterte sich der Weg zu einem kleinen Platz. In der Mitte befand sich ein Gedenkstein, der sein Interesse erregte. Offensichtlich war es ein alter Grabstein, der in der Dunkelheit unlesbar in verwitterten Worten an den Verstorbenen erinnern sollte. Albert lehnte sich an den Stein und holte eine Dose Bier aus seiner Tasche. „Auf dich, wer immer du warst", sprach er und trank. Ein Dackel mit einem kleinen Mann im Schlepptau zog vorüber. Der Mann schaute misstrauisch zu ihm herüber, der Dackel beachtete ihn nicht. Dackelbesitzer waren ihm seit jeher suspekt, vor allem, wenn ihr Gang und ihre Körperhaltung dem Tier so ähnlich geworden waren wie bei diesem hier.

Er trank, was in dieser Kälte keinen wahren Genuss darstellte, bis die Dose leer war. Die Eiseskälte ließ seine Lippen an dem Aluminium kleben. Aber das störte ihn nicht. Das Blech der Dose war wie das erfühlte Symbol von Geborgenheit. Es war die Verkörperung einer nicht gekannten Mutterbrust, die Vertrauen ins Leben geben konnte.

Nach einigen Minuten kroch die Kälte so sehr unter seinen Mantel, dass er sich auf den Rückweg zum Hotel machte. Noch immer war niemand an der Rezeption, nur die Fußballgesänge im Hintergrund waren zu hören. „Spielen die am Tag vor Silvester noch Fußball?", überlegte er. Wahrscheinlich war es ein Jahresrückblick, dachte er weiter und bemerkte, dass es ihn eigentlich nicht interessierte.

Er hätte klingeln können, aber warum? Wollte er etwas? Er wusste es nicht so genau und ging zögernd weiter. Auf dem Zimmer angekommen, fühlte er sich einsam. Das war die Kehrseite seines Lebens. Keine Beziehung hielt lange, so dass er immer wieder in seine sogenannte Unabhängigkeit eintauchen konnte. Auch die letzte Beziehung war vorbei. Diese hatte länger gehalten als üblich, einige Jahre, wenn er es genau betrachtete. Sie waren zusammengezogen, nicht ohne Zweifel, jedoch mit viel Hoffnung. Die Zeit mit ihr war wie eine Ozeanüberquerung gewesen, ruhige Zeiten wechselten mit heftigen Stürmen ab, die manchmal die Wellen bedrohlich hochschlagen ließen. Irgendwann fand Sie einen anderen, der zwar nicht besser zu ihr passte, wie Albert fand, ihr aber die Ruhe und Anerkennung schenkte, nach der sie sich immer bei ihm gesehnt hatte und die er ihr so gerne gegeben hätte. Aber wie sollte er wissen, wie man diese einem geliebten Menschen gab, wenn er sie sich selbst nicht zugestehen konnte?

Der Seminarleiter kam ihm wieder in den Sinn, der gesagt hatte, dass man andere nur lieben kann, wenn man sich selbst liebt. „Liebet euren Nächsten wie euch selbst", hatte er Jesus zitiert. Aber das war schwer, wenn die Vorbilder, die man in der Kindheit gehabt hatte, einem genau das Gegenteil vorgelebt hatten.

Er dachte auch an die Menschen, die ihm im Seminar begegnet waren. Einige fehlten ihm jetzt sogar. Die Frau mit der roten Mütze, oder Gerd, ein Schreiner aus Ulm, der begeistert von dem war, was er auf dem Seminar erleben durfte und mit dem er viel Spaß gehabt hatte. Oder die Frau, die gestern im Seminar neben ihm gesessen hatte. Eigentlich war sie zu alt für die Zöpfe, die sie sich geflochten hatte und er hatte sie daraufhin in die Schublade „Öko" oder „ESO" gesteckt. Aber ihr Lächeln war bezaubernd gewesen und er fand ihre Augen wunderschön. Auch ihr Körper hatte ihn angezogen und er hatte sich vorgestellt, wie er mit ihr im Bett lag, ihren Körper spürte und ihre Zöpfe entflocht. Aber das blieb, wie so oft, wenn er begann, sich für eine Frau zu interessieren, Fantasie und am nächsten Tag war er ja abgereist. Sogar Helmut fehlte ihm ein wenig, denn da war viel Gemeinsames gewesen, was er nicht hatte sehen wollen. Nun war er hier und ihm wurde bewusst, wie einsam er war. Ja, das war die Kehrseite seines unabhängigen Lebens. Aber wie hieß es so schön: „Du hast keine Chance, also nutze sie.“

Der Abend ging, die Nacht verlief nahezu traumlos. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, geträumt zu haben. Beim Frühstück unterhielt er sich mit seinem Tischnachbarn über belanglose Dinge. Es tat ihm gut, zu reden, und der Mann war irgendwie sympathisch unaufdringlich. Auch der Mann von der Rezeption verhielt sich absolut neutral, professionell zuvorkommend und distanziert. So war es für Albert das Beste, vor allem am Morgen, denn er gehörte zu den Menschen, die man allgemein in die Schublade Morgenmuffel einsortierte und dazu bekannte er sich auch ganz offen. „Achtung, ich bin ein Morgenmuffel, Vorsicht beim Näherkommen", stand in unsichtbaren Worten auf seiner Stirn geschrieben. So begann der Tag ganz nach seinen Vorstellungen und er fragte sich natürlich wieder zweifelnd, ob das so bleiben würde. Das war seine ganz normale Reaktion auf ein gutes Gefühl oder ein schönes Erlebnis. Diese Art zu denken gehörte zu ihm wie der Alkohol oder die Flucht. „Ich merke schon, dass dieser Tag richtig gut beginnt", dachte er belustigt über seine Grübeleien und schüttelte den Kopf. Sein Gegenüber schaute ihn an und erwartete nun offensichtlich, dass er etwas sagen würde. Doch er ließ es bei dem Kopfschütteln und sagte kein weiteres Wort. Auch der andere sprach nichts und so saßen sie schweigend, bis der Kaffee ausgetrunken war.

Der späte Besucher

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