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Die Überlieferung – Ein literarischer Kampf um Alexander

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Wer die Geschichte Alexanders verstehen will, muss die Geschichte ihrer Quellen kennen. Sie reicht bis in die Zeit Philipps II., als der Vater Alexanders griechische Historiker, Künstler und Wissenschaftler an seinem Hof in Pella versammelte. Als Alexander zu seinem Ostfeldzug aufbrach, war er sich sicher, Taten zu vollbringen, die bei der Nachwelt nicht in Vergessenheit geraten durften. In seinem Stab befand sich daher auch ein Mann, der sich durch seine Werke bereits als angesehener Historiker ausgewiesen hatte, Kallisthenes aus Olynth, ein Neffe des Philosophen Aristoteles. Kallisthenes war mehr als ein Historiker, er war Berater Alexanders und beeinflusste die Selbstdarstellung des Königs, bevor dieser nach der Eroberung der iranischen Residenzstadt Persepolis ein neues Programm suchte. Bis etwa in das Jahr 330/329 v. Chr. reichte die verlorene Biographie des Kallisthenes, deren Bücher einzeln nach Griechenland gesandt wurden, um dort Alexanders Taten – Praxeis Alexandrou lautete auch der Titel – schon im Augenblick ihrer Entstehung in hellstes Licht zu setzen. Die Wirkung dieser Schrift war unermesslich. Es gab niemanden, der ähnlich vertraut war mit den Absichten und Plänen des Königs, die Praxeis spiegeln – jedenfalls bis zum Bruch zwischen dem Historiker und seinem König – die Vorstellungen des Kallisthenes wie auch die Wünsche Alexanders. Die Zahl der erhaltenen Fragmente ist allerdings zu gering, um wirklich Genaueres über die frühen Absichten Alexanders erfahren zu können. Was aus Kallisthenes’ Werk in andere Alexanderwerke einging, durchlief zu viele Stadien der Überlieferung, um als genuines Zitat identifiziert werden zu können.1

Die verlorenen Historiker

Kallisthenes war die Ausnahme; die große Reihe der Alexandermonographien entstand erst im frühen Hellenismus, nach dem Tod des Königs, in den Jahren zwischen 320 und 280 v. Chr. Die Verfasser waren – vielleicht mit einer Ausnahme – alle Teilnehmer des Zuges. So verschieden wie ihre Funktion und ihre Aufgabe waren auch ihre Erinnerungen. Es galt neben dem König auch die eigene Person genügend herauszustellen. Die Autoren verließen sich auf ihr Gedächtnis, das jedem etwas anderes vorgaukelte, sie befragten andere Teilnehmer des Zuges, namentlich die Söldner, die sich nach dem Ende des Krieges zuhauf in Alexanders eigener Gründung, im ägyptischen Alexandria, sammelten; sie benutzten, sofern sie ihnen zugänglich waren, die Ephemeriden, die Tagebücher der königlichen Kanzlei, dazu die Korrespondenz, die in den Archiven aufbewahrt worden war, die Logbücher, welche in der Flotte des Königs geführt wurden, die Berichte der Bematisten, der Schrittzähler, die Entfernungen und Wegzeiten berechneten und die Beschaffenheit des Geländes erkundeten, schließlich die im Nachlass gefundenen angeblichen Pläne des Königs, die sogenannten Hypomnemata. Manche besaßen dazu auch eigene Aufzeichnungen. Sie alle waren keine „gelernten“ Historiker, aber auch ein Thukydides war dies ja nur im Nebenberuf. So schrieben sie voneinander ab, korrigierten sich gegenseitig, stillschweigend oder laut, um ihre Ansicht als die wahre zu beweisen. Aber ihre Darstellungen überlebten nicht, zerfielen in Bruchstücke, zerstoben in geplünderte Zitate und wurden schließlich von den Geschichtswerken der römischen Zeit aufgesogen.

Eine genaue Reihenfolge der Abfassung lässt sich nicht mehr feststellen. Vielleicht stehen am Anfang Onesikritos und Chares, denen Nearchos und Kleitarch folgten, während Aristobul und Ptolemaios in den ersten beiden Jahrzehnten des 3. Jahrhunderts den Abschluss bildeten. Die Autoren waren ausnahmslos Verehrer des Königs, auch wenn sie ihn in verschiedenen Rollen zeigten: als kühnen Eroberer, der die Grenzen des Bekannten sprengte und das Ende der bewohnten Erde erkundete, als Philosoph auf dem Königsthron und idealen Herrscher, als genialen Militär und Logistiker, als Entdecker einer neuen Welt. Das ist Panegyrik (Lobrede). Bekannt ist aus der Zeit der Anfänge nur eine einzige alexanderfeindliche Schrift. Geschrieben hat sie ein Mann namens Ephippos, wie Kallisthenes aus Olynth stammend. Sie befasste sich jedoch nur mit den letzten beiden Jahren Alexanders und hatte, das zeigt die geringe Zahl erhaltener Fragmente, kaum Nachwirkung. Wie die Alexanderkritik in die Darstellungen aus römischer Zeit einfloss, ist nicht leicht zu sagen. Immerhin bot Kleitarch bei allem Lob einen Ansatz, denn er hatte alles, was Effekte versprach: einerlei ob Massaker, Trinkgelage oder Hofintrigen. Mit seinem farbigen Alexanderbild beherrschte er die Überlieferung. Er selbst hatte wohl gar nicht am Zug teilgenommen und den König erst 324/323 v. Chr. in Babylon getroffen und bezog seine Informationen daher vor allem von den Söldnern, die teils für Alexander, teils auch für den Perserkönig in den Krieg gezogen waren. Kleitarchs Fassung der Ereignisse beeindruckte die Leser am stärksten, sie war die meistverbreitete in hellenistischer Zeit, und in Rom wurde nur noch sie gelesen. Drei der fünf erhaltenen Darstellungen (Iustin, Diodor und Curtius) beruhen direkt oder durch Zwischenquellen vermittelt auf ihr. In Details und Schwerpunktsetzung durchaus unterschiedlich, folgten sie doch einer einzigen (eben auf Kleitarch beruhenden) Tradition und werden daher unter dem modernen Namen Vulgata (die allgemein Verbreitete) zusammengefasst.

Die verlorenen Historiker

KALLISTHENES, Die Taten Alexanders, entstanden von 334–327, FGrHist 124.

ONESIKRITOS, Wie Alexander erzogen wurde, geschrieben zwischen 323 und 315, FGrHist 134.

CHARES, Geschichten um Alexander, geschrieben nach Onesikritos FGrHist 125.

NEARCHOS, Vorbeifahrt an Indien, verfasst vor 310, FGrHist 134.

KLEITARCH, Alexandergeschichte, zwischen 310 und 300, FGrHist 137.

PTOLEMAIOS, Alexandergeschichte, verfasst zwischen 300 und 285, FGrHist 138.

ARISTOBUL, Alexandergeschichte, verfasst nach 300, FGrHist 139.

Vulgata: Die allgemein verbreitete Geschichte Alexanders. Sie geht wohl auf Kleitarch zurück und ist bei Diodor, Curtius, Iustin und teilweise Plutarch noch fassbar.

Die erhaltenen Werke

Nach der ersten Welle der Alexanderbiographien ließ das Interesse an weiteren Darstellungen nach. Sie setzen wieder in der Zeit der späten Republik bzw. des Augustus ein. Es sind die ältesten erhaltenen Geschichtsabrisse über Alexander, allerdings keine Biographien. Alexanders Leben ist in dieser Zeit nur Teil von Universalgeschichten wie der 40-bändigen Bibliothek des Sizilianers Diodor in Caesarianischer Zeit. Nur wenig später schrieb Pompeius Trogus, römischer Historiker aus dem südlichen Gallien, eine lateinische Geschichte des Mittelmeerraumes in 44 Büchern, die er nach Alexanders Vater Philippicae historiae nannte. Zwar ging sie verloren, doch erstellte vermutlich im 3. Jahrhundert n. Chr. ein sonst unbekannter Mann namens Iustin einen umfassenden Auszug (Epitome) aus ihr.

In der frühen und mittleren Kaiserzeit wuchs noch einmal das Interesse am historischen Alexander, um dann endgültig zu versiegen und einer Märchenfigur Platz zu machen, welche das Bild der Spätantike und der Neuzeit beherrschte. Plutarch verglich in seinen Parallelbiographien Alexander mit Caesar. Er schuf bei aller Kritik, die er nicht unterdrückt, einen sozusagen pädagogisch wertvollen Alexander, einen verantwortungsbewussten Herrscher, wie es sich eben für seine, Plutarchs Gegenwart, die Zeit der Adoptivkaiser Trajan und Hadrian, gehörte. Es ist die Person Alexanders, der Mensch und der König, auf die es dem Biographen ankam. Nicht Geschichte wolle er schreiben, bekannte Plutarch im Vorwort, sondern Lebensbilder zeichnen:

Wie nun die Maler die Ähnlichkeiten dem Gesicht und den Zügen um die Augen entnehmen, in denen der Charakter zum Ausdruck kommt, und sich um die übrigen Körperteile sehr wenig kümmern, so muss man es mir gestatten, mich mehr auf die Merkmale des Seelischen einzulassen und nach ihnen das Lebensbild eines jeden zu entwerfen, die großen Dinge und die Kämpfe aber anderen zu überlassen.2

Curtius Rufus verfasste, noch vor Plutarch, die einzige lateinische Monographie. Im ersten Jahrhundert n. Chr. war die Kritik namentlich des um seine Bedeutung gebrachten Senatorenstandes an den Kaisern noch heftig. Sie blieb aus Furcht vor Repressalien meist heimlich, nur die an Alexander durfte sich – stellvertretend – offen zeigen. Ob diejenige des Curtius auch aus einer solchen Quelle gespeist wurde, ist nicht bekannt. Sie durchzieht jedoch das ganze Werk.

Curtius benutzte wie schon Diodor und Pompeius Trogus (Iustin) vor ihm offenkundig Kleitarch. Die fundamentale Kritik an Alexander stammt aber weder von diesem noch von Curtius selbst. Die Kritikpunkte haben topischen Charakter und waren zudem in römischer Zeit zu weitverbreitet – so finden sie sich zum Beispiel bei Lucan oder Seneca –, als dass sie eine originäre Prägung von Curtius sein könnten. Wer sie aufbrachte, ist eine spannende Frage, denn erst die in der Vulgata in unterschiedlicher Intensität vorhandene Kritik machte Alexander zu der umstrittenen Person, deren Beurteilung das antike Publikum und die modernen Historiker spaltete.

Kritik am König

Schon zu Lebzeiten besaß Alexander zahlreiche Feinde. Es gab eine innermakedonische Opposition, die ihn, den Bastard (die Mutter Olympias war keine Makedonin, sondern stammte aus Epirus), nicht als König anerkennen wollte. Unter den unterworfenen griechischen Poleis waren einige zur Zusammenarbeit bereit, die meisten warteten auf eine günstige Gelegenheit, das makedonische Joch abzuschütteln. In den persischen Satrapien (Provinzen) war Alexanders Herrschaft alles andere als gefestigt. Der materielle Widerstand gegen den König scheiterte, der geistige jedoch blieb virulent und verwandelte sich nach dem Tod Alexanders in eine heftige Schmähung seines Andenkens. Zu den alten Gegnern traten neue, auch Freunde, die ihm einst nahegestanden hatten, wurden Feinde. Nicht ganz klar ist die Rolle des Aristoteles, der zu den Erziehern des Prinzen gehört hatte. An einer zunehmenden Entfremdung ist nicht zu zweifeln, als Alexander sich im Laufe seines Zuges immer stärker orientalisierte. Im umfangreichen Werk des Aristoteles finden sich jedoch keinerlei Spuren. Auffällig ist nur das beharrliche Schweigen über Alexander. Der Philosoph überließ die Kritik anderen. Sie entzündete sich vor allem am Schicksal des Kallisthenes, den Alexander unter falschen Anschuldigungen hatte hinrichten lassen. Mit seinen panhellenischen Vorstellungen war er zum Hemmnis für eine neue Politik gegenüber den Persern geworden.

Der Peripatos, die Schule des Aristoteles, wurde zum Wegbereiter einer fundamentalen postumen Kritik an Alexander: Aus guten Anfängen habe er sich, geblendet und berauscht von seinen Erfolgen, zu einem Despoten entwickelt. Die Kyniker, die den Kosmopolitismus Alexanders durchaus begrüßten, die Rolle des Weltenherrschers aber lieber mit einem weisen Philosophen denn einem makedonischen Militär besetzt gesehen hätten, übernahmen die Vorwürfe, die sich dann später auch in der Stoa wiederfinden.

Tryphé und Tỹphos, Hoffahrt, Hochmut, Dünkel und Luxus erschienen den Philosophen als die herausragenden Eigenschaften des späten Alexander. Die Erziehung durch Aristoteles war gescheitert, der ideale König zum Tyrannen verkommen. Die äußeren Erfolge, die nicht zu bestreiten waren, dankte er offenkundig weniger seiner Areté als der Tyćhe; nicht eigenes Verdienst war es, sondern Glück, das Alexander auf den Gipfel des Ruhmes brachte. Die Rhetorenschulen in Griechenland und Rom verbreiteten ein entsprechendes Bild, das sich dann auch in den römischen Biographien niederschlug und im Werk des Curtius in seiner reinsten Prägung vorliegt.3

Der letzte Biograph

In Arrian von Nikomedia, einem hohen kaiserlichen Beamten in Kleinasien, fand Alexander seinen letzten antiken Bewunderer. Arrian, der sich Mitte des 2. Jahrhunderts nach Athen zurückzog und vielleicht dort seine Alexandergeschichte schrieb, in Anlehnung an die berühmten Memoiren Xenophons Anabasis betitelt, verschmähte Kleitarch als Quelle und bevorzugte Aristobul und Ptolemaios. Er rettete damit eine Überlieferung, die von der Vulgata verdrängt worden war, auch wenn die Kriterien für Arrians Wahl ein wenig befremden können:

Indes scheinen mir Ptolemaios und Aristobul in ihren Darstellungen glaubwürdiger als die anderen, der eine, Aristobul, weil er an der Seite seines Königs Alexander den ganzen Feldzug mitmachte, der andere, Ptolemaios, weil es zusätzlich dazu, dass er Teilnehmer des Zuges war, für ihn als König größere Schande als für jeden anderen bedeuten musste, zu lügen.

Dazu kam für Arrian ein Kriterium, das allerdings nur für Kallisthenes nicht galt:

Überdies schrieben ja beide erst in der Zeit nach Alexanders Tod. So fielen für sie Zwang oder Vorteile fort, die sich daraus ergaben, die Dinge anders darzustellen, als sie sich wirklich zugetragen hatten.4

Es ehrt Arrian, wenn er glaubt, dass Herrscher weniger lügen, die weitere Begründung aber mutet zumindest heute etwas naiv an.

Ptolemaios, die bevorzugte Quelle, hatte als Mitglied der Leibgarde Zugang zu Alexander und vielen vertraulichen Informationen. Als späterer Satrap und dann auch König von Ägypten ist seine in hohem Alter geschriebene Alexanderbiographie aber auch Selbstdarstellung und Herrschaftslegitimation. Vielleicht nahm Arrian für ihn ein, dass er bewusst das bunte Gepränge eines Kleitarch mied und sich auf das Militärische konzentrierte. Kritik an Alexander war von Ptolemaios nicht zu erwarten. Negative Aspekte wurden allerdings eher ausgespart als beschönigt.

Aristobul gehörte zum technischen Personal; er sah mehr als nur Schlachten und taktische Manöver, sein Blick richtete sich auch auf Land und Leute. Durch seine ethnographischen und geographischen Exkurse bot er Arrian daher eine gute Ergänzung zu Ptolemaios. Dennoch zählt auch Aristobul zur panegyrischen Literatur, genauso wie Alexanders Admiral Nearchos, der dritte Autor, den Arrian über weite Teile ausschrieb, und zwar in einem eigenen, der Anabasis folgenden Buch namens Indike, das den Bericht des Nearchos über seine Fahrt vom Indus zum Persischen Golf zum Teil wörtlich wiedergibt.

Arrian verwendete noch weitere Quellen wie Onesikritos, einen Anhänger der kynischen Lehre, der unter dem Titel Wie Alexander erzogen wurde eine Art Fürstenspiegel schrieb, in dem der König sich zum bedürfnislosen Herrscher wandelt, einem Diogenes, dessen Tonne die ganze Welt war. Auch Chares, Alexanders Protokollchef (Eisangeleus), der über Interna des Hofes berichtete, kann Arrian benutzt haben, doch ist dies im Einzelnen nicht zu belegen.5 Arrian bemüht sich um eine rationale Sichtweise des Geschehens, sie findet jedoch ihre Grenzen in den Quellen und der offenen Bewunderung, die er für den König hegte.

Alexander der Große

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