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„Kommen Sie aus dem Westen?“

Einleitung

„Kommen Sie aus dem Westen?“ – werde ich bei Vorträgen, die ich in den neuen Bundesländern halte, häufig und leicht vorwurfsvoll gefragt. „Nein!“, pflege ich meist trotzig zu antworten, „ich komme aus dem Norden“. Das stimmt zwar, denn meine Heimatstadt Bremerhaven liegt nun mal in Norddeutschland, doch es hilft mir nichts. Ich werde als „Wessi“ wahrgenommen, von „Ossis“, die aber gar nicht aus dem historischen „Ost“-, sondern aus „Mitteldeutschland“ kommen, das geographisch nicht irgendwo „im Osten“, sondern mitten in Europa liegt.1

Selbstverständlich trifft das auch auf Berlin zu, wo ich seit langer Zeit wohne. Seine Bewohner werden immer noch fein säuberlich in Ost- und Westberliner unterschieden. Mit diesen Bezeichnungen, die es so in keiner anderen deutschen Stadt gibt, ist aber keineswegs der Wohnort in einem östlichen oder westlichen Stadtteil gemeint, sondern die Zugehörigkeit zur früheren „Hauptstadt der DDR“ oder einer Stadt, die im Osten „Westberlin“, im Westen dagegen „Berlin (West)“ genannt wurde.

In diesem früheren West-Berlin liegt auch ‚meine‘, die Freie Universität. Sie verstand sich seit ihrer Gründung in der Hochphase des Ost-West-Konflikts als „Bollwerk des Westens gegen den Osten“.2 Diese Bollwerkfunktion kann man sehr gut an ihrem Hauptgebäude, dem Henry-Ford-Bau, ablesen. Das nach dem Sohn des amerikanischen Autokönigs und Antisemiten Henry Ford (II) genannte Gebäude soll sich nach dem Willen seiner Erbauer gegen den Osten wenden und gen Westen öffnen. Weist doch seine, durch große Fenster und Türen offen und einladend gestaltete Eingangsfront nach Westen, seine Ostfront dagegen hat keine Türen, nur kleine, Schießscharten ähnliche Fenster und macht mit seiner kalten Natursteinwand einen mehr als abweisenden Eindruck.

All das bemerkt man nur, wenn man die Geschichte der FU und die Baugeschichte des Henry-Ford-Baus kennt. Denn tatsächlich wendet sich der Henry-Ford-Bau nur gegen die im Osten aufgehende Sonne (weshalb die in seinem Ostflügel befindlichen Vorlesungsräume künstlich beleuchtet werden müssen); und tatsächlich lag der „unfreie“ Teil Berlins und Deutschlands, gegen den sich die Freie Universität politisch wandte, gar nicht im Osten. Jedenfalls nicht in geographischer Hinsicht.

Diese scheinbar banalen und oberflächlichen Betrachtungen machen Folgendes deutlich: „Osten“ ist nicht gleich „Osten“. Neben der Himmelsrichtung Osten gibt es noch den ,politischen Osten‘, der mit dem ,historischen‘ und ,geographischen Osten‘ keineswegs identisch ist und sein muss. Doch das ist nicht alles. Es gibt noch zwei weitere Osten. Verdeutlichen möchte ich das wiederum an einem Gebäude aus meinem räumlichen Umfeld: Der St. Annenkirche in Berlin-Dahlem. Diese Dahlemer Dorfkirche wendet sich (wie alle anderen Kirchen auch) nicht nach Westen, sondern nach Osten. Dies zudem in keiner abweisenden, sondern einladenden Weise, was durch die schönen Glasfenster im Altarraum unterstrichen wird. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass man aus dem Osten das durch Jesus Christus repräsentierte und gebrachte „Heil“ erwartet. Kommen wird es nach christlicher Auffassung aus dem Heiligen Land. Denn dort ist Jesus geboren, gestorben und „am dritten Tage auferstanden von den Toten“. Von dort wird er auch „am jüngsten Tage“ wieder kommen. Dieses „Heilige“ befindet sich bekanntlich im „Morgenland“ aus dem die „Heiligen drei Könige“ gekommen sind und wo der als Symbol des christlichen Glaubens besungene „Morgenstern“ aufgeht.3

Geographisch liegen das „Heilige“ und das ebenfalls religiös konnotierte „Morgenland“ bzw. der „Orient“ aber nicht im Osten, sondern weit im Süd-Osten. Jedenfalls aus Berliner Perspektive. Denn die deutsche Hauptstadt befindet sich ungefähr auf dem 52. Breitengrad; die Hauptstadt des Heiligen Landes, Jerusalem, liegt dagegen auf dem 31. Breitengrad. Breitengradmäßig ist Berlin osteuropäischen Städten wie Warschau (ebenfalls 52. Breitengrad) und selbst Moskau (55. Breitengrad) näher als Jerusalem, das im „Orient“ bzw. im „Nahen Osten“ lokalisiert wird.

Die Betrachtung der St. Annenkirche lehrt uns zweierlei. Einmal, dass es neben dem ,politischen‘ auch noch einen ,religiösen Osten‘ gibt. Zum anderen, dass der ,europäische‘ vom ,orientalischen Osten‘ zu unterscheiden ist. Insgesamt haben wir es also mit ,vier Osten‘ zu tun. Zum politischen und religiösen kommen der europäische und orientalische Osten. Alle vier Osten sind nicht einfach und von Anfang an da. Sie sind in einem langen und tief in die Geschichte zurückreichenden Prozess erfunden, stereotypisiert und zu dem gemacht worden, was ich Geostereotype nenne.4

Dieser Begriff ist neu, doch nicht die Sache. Die Forschung hat nämlich schon seit längerem erkannt, dass geographische Räume von Menschen „gemacht“ sind,5 wobei es zu einer allgemeinen „Ideologisierung der Windrose“6 und zu einer speziellen Stereotypisierung von Himmelsrichtungen wie dem „Norden“, Erdteilen wie „Europa“7, Regionen wie dem „Orient“8, „Osteuropa“9, dem „Balkan“10, dem (italienischen) „mezzogiorno“11 etc. gekommen ist. Es liegen auch einige ältere und neuere Studien über das „Bild“ vor, das sich die Deutschen vom „Osten“ gemacht haben. Allerdings vornehmlich im 20. Jahrhundert und vornehmlich vom europäischen Osten12 bzw. von Russland.13 Doch eine Darstellung der Entstehung, Genese und Funktion des bzw. der deutschen Geostereotype über den bzw. die Osten gibt es bisher nicht. Dies unternimmt der vorliegende Band.

Er basiert auf schriftlichen und bildnerischen Quellen sowie Karten14, die mit Hilfe von Methoden der historischen Ideologiekritik15 und Stereotypenforschung16 analysiert werden. Nicht herangezogen wurden die Methoden der „mental-map“- Forschung.17 Kann ich doch den Thesen von einigen dieser mental-map-Forscher nicht folgen, wonach räumliches Wissen im Kopf, ja genauer im (anatomischen) Gehirn gespeichert sei, was mit Methoden der kognitiven Psychologie herauszufinden sei, die mir als Historiker ziemlich fremd sind. Statt von den Gehirnen der Menschen bin ich von ihrer Geschichte ausgegangen. Genauer gesagt der Deutschen, die innerhalb ihrer Geschichte bestimmte Bilder vom und Geostereotype über den Osten entwickelt haben.

Begonnen wird mit den Bildern und Geostereotypen über den ,religiösen‘ und ,orientalischen Osten‘ von den Anfängen bis zur NS-Zeit. Ebenfalls von den Anfängen bis zur NS-Zeit werden dann in den nächsten drei Kapiteln die Geostereotype über den ,europäischen Osten‘ analysiert. Dieser Osten stellte für die meisten Deutschen ein Feindbild dar. Für einige war oder sollte er jedoch auch Traumland sein oder werden, das man nicht nur aus der Entfernung bewunderte, sondern in das man eindringen wollte, um hier Siedlungsland und Lebensraum zu gewinnen. Die Herkunft, Genese und Funktion der Ideologie vom „deutschen Drang nach Osten“ wird besonders intensiv untersucht. Dies vor allem deshalb, weil Hitler und die Nationalsozialisten an dieses Geostereotyp angeknüpft und mit ihm ihren beispiellosen Rassen- und Vernichtungskrieg im und um den Osten begründet haben.

Die letzten vier Kapitel behandeln in etwas kürzerer Form die Zeit nach 1945. Zunächst herrschte in Westdeutschland die Angst vor dem kommunistisch gewordenen und weit nach Westen vorgedrungenen ,politischen Osten‘ vor. Sie war jedoch auch mit Aggression gegenüber dem ,europäischen Osten‘ verbunden. Im Zuge der „neuen Ostpolitik“ ist es aber dann zu einer Überwindung beider Ost-Geostereotype gekommen. Dies hat sich nach und sogar wegen des Untergangs des Ostblocks nach der Wiedervereinigung geändert. Der „Osten“ wurde für einige wieder zum Traumland und für viele zum Feindbild. In der unmittelbaren Gegenwart deutet vieles darauf hin, dass selbst der vormals noch relativ positiv bewertete ,orientalische Osten‘ zu einem islamistischen oder ,neo-orientalistischen‘ Feindbild geworden ist.

Insgesamt handelt es sich um ein nicht nur weites, sondern auch schwieriges Feld. Dennoch, ja deshalb wird es bewusst auf knappem Raum und in einer eher essayistischen Form behandelt. Alles beruht aber auf einer langjährigen Beschäftigung mit dem Thema, das mich seit meiner Studentenzeit nicht los gelassen hat.18

Erste und bis heute nachwirkende Anregungen erhielt ich von meinem akademischen Lehrer Walter Schlesinger in Marburg, weitere Hinweise und Ratschläge dann von meinem Kollegen Wolfgang H. Fritze in Berlin. Dem Andenken dieser hoch verdienten Historiker ist dieses Buch gewidmet.

Die Deutschen und der Osten

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