Читать книгу Die kleine Elfe Samra - Yasmin Azgal - Страница 8

Nächtliche Bekanntschaften

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Die kleine Elfe flog nun höher und höher bis sie nur mehr die Lichter der Stadt inmitten der Dunkelheit sehen konnte. Als sie wieder hinab sank, fand sie sich zwischen ringförmig angeordneten Gebäuden wieder: in einem großen Hof. Es war ruhig, nur ein paar Menschen durchquerten ihn, um anscheinend nach Hause oder durch den Hof hindurch zu gehen. Darunter war auch eine Frau, die so unglaublich hager war, dass ihre schmale Bekleidung schlapp an ihrem spindeldürren Körper hing. Mit langsamen Schritten und einem traurigen Gesicht ging sie auf eine Tür zu und verschwand in einem der Gebäude. Ab und zu vernahm Samra die Geräusche von klirrendem Geschirr oder Kinderstimmen hinter einem der beleuchteten Fenster.

Als sie mit müden Augen die Pflanzen und Bäume betrachtete, die genau an den dafür vorgesehenen Plätzen wuchsen, fiel ihr eine Person auf, die zusammengekauert auf einem der für die Sträucher gemauerten Begrenzungsränder saß. Es war eine Frau mittleren Alters mit kurzen schwarzen, zusammen­gebundenen Haaren und einer großen, flachen, weiß glänzenden Tasche in einer Hand. Ihr Kopf war gesenkt und sie schien zu schlafen.

„Hallo?“ sagte die kleine Elfe.

Die Frau blickte langsam auf, sah Samra und grüßte. „Ja?“

„Geht es dir gut?“

„Nein, mir geht es nicht gut.“

Erst jetzt bemerkte Samra den streng riechenden Atem der Frau und ihre lallende Aussprache. „Was ist denn passiert?“

„Ich wollte nach Hause. War beim Arzt, hab die Röntgenaufnahmen abgeholt.“ Die Frau zeigte auf die weiße Tasche. „Meine Hüfte, wissen Sie, ich bin gefallen, das ist schon einmal passiert. Jedenfalls ist sie gebrochen. Ich hab Schmerzen beim Gehen und Stehen. Also hab ich mich hier hingesetzt.“

Samras Blick wanderte nun über die beiden Krücken, die die Frau neben sich abgelegt hatte. „Oh, das tut mir leid. Wie kann ich dir helfen?“

„Ich war beim Arzt und dann war ich noch was trinken. Aber dann war es spät und ich wollte nach Hause. Ich weiß, dass das hier in der Nähe ist. Nur weiß ich es jetzt gerade nicht. Der Taxifahrer wollte mich nicht fahren, der gemeine Mensch! Hat gesagt, das lohnt sich nicht, für 5 Euro fährt er keine Betrunkene nach Hause.“

„Also hier in der Nähe sagst du. Warte, ich helfe dir auf.“

„Aaaau, aaau, das tut weh! Der Arzt hat gesagt, das dauert Monate, bis die Hüfte verheilt ist!“

„So lange! Das tut mir leid für dich!“

„Vielen Dank, Sie sind sehr nett, dass Sie sich überhaupt mit mir abgeben! Wie heißen Sie?“

„Ich heiße Samra und wie heißt du?“

„Ich heiße Trude.“

„Freut mich sehr, Trude. Wir gehen einfach mal so hinaus und dann siehst du bestimmt, wo du wohnst.“

„Ich gehe immer so, nur wenn ich besoffen bin, dann weiß ich es nicht, selbst wenn ich es vor Augen habe!“, brabbelte die Frau, während sie mit Samras Hilfe langsam Richtung Hofausgang humpelte.

„Sie sind so lieb, Sie erinnern mich an mein Kind.“

„Ihr Kind?“

„Ja, mein Sohn, er ist erst achtzehn Jahre alt und schon so erwachsen! Er sagt immer: ‚Mama, hör auf mit dem Alkohol, der tut dir nicht gut!’ Und er ist streng mit mir, wie es sich gehört! Wenn ich bei ihm auf Besuch bin, bekomme ich kein Getränk, nur Wasser oder Saft! Trinken Sie?“

Die kleine Elfe blickte Trude an und schüttelte zögerlich den Kopf.

„Das ist gut, fangen Sie bloß nicht an! Sie sind gut. Nicht wie ich, ich war gut, aber jetzt, sehen Sie, jetzt...“

„Warum hast du begonnen?“

„Damals, da war ich jung, da war noch alles anders, jung und dumm. Die Liebe war's! So bin ich in diese Stadt gekommen. Ich hätte sie fertig machen sollen, die Lehre, aber ich war jung und dumm!“

Nach einer kurzen Gedankenpause fuhr sie fort: „Fünf Krüge pro Hand hab ich getragen, am Oktoberfest habe ich gearbeitet! Wissen Sie, wie schwer die sind? Das war harte Arbeit, schwer verdientes Geld! Dann kam die Liebe und ich habe die Lehre, die ich damals begonnen hatte, abgebrochen. Ich kam hierher mit meiner großen Liebe und bekam unseren Sohn. Wissen Sie was? Mein Sohn, er ist das einzige in meinem Leben, das ich je richtig gemacht habe. Das konnte ich nie bereuen! Er ist ein Engel. Wie Sie, Sie sind auch ein Engel! Haben Sie Kinder?“

Die kleine Elfe schüttelte wieder den Kopf.

„Ja und dann, dann war ich arbeitslos und der Mann, der war weg. Und ich konnte meine Miete nicht mehr bezahlen. Aber mein Sohn, der ist jetzt schon so groß. Er ist ein Engel sag ich Ihnen, und so selbstständig! Mama, sagt er immer, von mir bekommst du nie ein Getränk, nur Wasser oder Saft! Und er bügelt sich seine Wäsche selbst! Mein Sohn ist ein Gottesgeschenk!“

„Wohnt er mit dir zusammen?“

„Nein! Das hab ich doch gesagt! Er ist so selbstständig, er wohnt alleine! Wo sind wir hier eigentlich? Wo bringen Sie mich denn hin? Hier wohne ich ja gar nicht!“

„Ich dachte, wir gehen mal außen um den Ring herum, in dem du gesessen hast. Vielleicht siehst du ja dann, wo du wohnst.“

„Aaaauweh, aaau, ich kann nicht mehr, das tut weh, ich hab Schmerzen! Ich muss mich hinsetzen!“

Die beiden setzten sich auf den Gehsteig und Trude erzählte weiter.

„Es ist alles dahin, ich hab' kein Geld und nur mein Sohn ist mir geblieben. Nicht einmal eine Wohnung kann ich mir leisten!“

„Aber du meintest doch, du wohnst hier in der Nähe?“ sagte Samra verwirrt.

„Ja.“

„Und wartet dort jemand auf dich oder bist du allein?“

„Ja, da wartet jemand.“

„Und wer?“

„Na was wohl, ein Rindvieh!“

Samra blickte verwirrt.

„Na ein Mann, wer sonst? Die Männer sind furchtbar. Ihm gehört die Wohnung und jeden Tag erinnert er mich daran. Ich soll ausziehen, wenn ich will, ich soll gefälligst nicht glauben, dass das meine Wohnung ist. Nicht einmal suchen tut er mich, fragt sich gar nicht, wo ich bin um diese Zeit! Ich bin ihm wurscht!“

„Das ist traurig. Warum gehst du nicht weg von ihm? Gibt es keine andere Möglichkeit?“

Trude schüttelte gedankenverloren den Kopf. „Wo sind wir hier eigentlich? Ich will wieder aufstehen.“

Als sich die beiden wieder in Bewegung gesetzt hatten, sagte die kleine Elfe: „Was immer schief gelaufen ist, wie schlimm alles jetzt für dich scheint, alles wird gut werden. Daran musst du glauben!“

„Sie sind ein Engel, dass Sie sich überhaupt mit mir abgeben! So jemand wie Sie gibt es selten! Glauben Sie mir, außer Ihnen hätte mir keiner geholfen! Warum haben Sie mir geholfen?“

„Ich sah dich da sitzen und war mir nicht sicher, ob du Hilfe brauchst, also habe ich gefragt.“

„Sie sind wirklich ein Engel! Da wohne ich, ja da!“ Trude zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite. „Da haben Sie mich ja ganz weit weggeführt! Einen Riesenumweg haben wir da gemacht!“

„Das tut mir leid. Wenigstens sind wir jetzt da.“

Die Frau ließ sich von der kleinen Elfe in einen anderen, dunklen und verlassenen Hof führen, sperrte die Haustür auf und bat Samra, ihr zu folgen. „Kommen Sie doch noch mit mir hinauf. Sie waren so lieb, ich möchte, dass sie noch hinaufkommen!“ Samra folgte Trude in den grell beleuchteten Aufzug. Sie fuhren einige Stockwerke hinauf, dann half Samra ihr bis zu einer braunen Tür mit leerem Namensschild. „So, da sind wir. Achtung, jetzt kommt gleich meine Löwin!“ Samra wartete neugierig, bis sich die Tür geöffnet hatte, um die Löwin zu sehen, von der Trude sprach. Ein kleines weißes Hündchen sprang den beiden kläffend entgegen, sichtlich erfreut über die Heimkehr seines Frauchens. „Komm, Sissi, komm! Sei lieb zu meiner Retterin! Gehen wir hinein, komm, Sissi!“ Samra folgte den beiden durch einen schmalen Gang und bog kurz darauf mit ihnen rechts in ein kleines Wohnzimmer. Das erste, was Samra auffiel, war ein riesiges schwarzes, flaches Gerät, das auf einer der Flächen stand. Der nächste Blick fiel auf eine mit unzähligen dunklen Flaschen gefüllte Regalwand, die sie an die lauten Bögen unter der Brücke erinnerten.

„Setz dich doch, ich möchte dir ein Getränk anbieten“, sagte Trude, als plötzlich ein Mann zu Samras Rechten das Zimmer betrat. Die kleine Elfe erschreckte sich ein wenig, grüßte aber freundlich. Der Mann, sichtlich ebenso überrascht, erwiderte den Gruß, jedoch mit grimmiger Miene. „Die Dame hat mich nach Hause gebracht, ich bin ihr sehr dankbar, biete ihr doch ein Getränk an“, sagte Trude, und zu Samra gewandt: „Setzen Sie sich doch, setzen Sie sich!“ Samra fühlte sich alles andere als willkommen, musste allerdings kein Wort sagen, denn der Mann hatte ihre Anwesenheit scheinbar bereits vergessen: „Nein, hier setzt sich jetzt niemand hin! Wenn du deine eigene Wohnung hast, kannst du in die Wohnung bringen, wen du willst, aber in meine Wohnung kommt mir kein Gesindel! Was glaubst du eigentlich, wer du bist, bringst mitten in der Nacht wildfremde Menschen hier herein!“ „Das sind keine wildfremden Menschen, das ist meine Retterin. Ich weiß nicht, was ich ohne sie gemacht hätte mit meiner gebrochenen Hüfte. Du hast dich nicht einmal gefragt, wo ich bin mitten in der Nacht!“ Doch der Mann schien gar nicht zu hören, was Trude sagte: „Ja, ja, das interessiert mich alles nicht. Du kannst dir gerne eine eigene Wohnung suchen und jeden Abend Gesindel hereinholen, aber in meiner Wohnung bestimme ich!“ „Wo warst du überhaupt um diese Zeit?“, fragte Trude. „Das geht dich einen feuchten Dreck an! Du hältst jetzt den Mund und lässt mich endlich in Ruhe!“ „Aber ich will meiner Retterin wenigstens ein Getränk anbieten!“, Trude setzte sich erschöpft an den Tisch in der Mitte des Raumes. Der Mann holte erneut zu einer seiner hasserfüllten Wortschwalle aus, als Samra das Ganze beendete indem sie sagte: „Nein Danke, vielen Dank, ich möchte kein Getränk, ich muss jetzt gehen, es ist spät.“ Und zu Trude gewandt: „Alles Gute!“ Mit schnellen Flügelschlägen, begleitet von Sissi, verließ Samra die Wohnung wieder, in der es ihr sehr unbehaglich geworden war. Doch Trude, das sagte sie zu sich selbst, wollte sie nie vergessen, und schickte ihr noch einmal in Gedanken all die Kraft, die sie sich für sie wünschte.

Die kleine Elfe Samra

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