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Er erlebte den Sieg der Revolution.

Die Häuser in den Städten zogen rote Fahnen an und die Frauen rote Kopftücher. Wie lebendiger Mohn gingen sie herum. Über dem Elend der Bettler und der Obdachlosen, über den verwüsteten Straßen, den zerschossenen Häusern, dem Schutt auf den freien Plätzen, den Trümmern, die nach Brand rochen, den Zimmern, in denen Kranke lagen, den Friedhöfen, die unaufhörlich ihre Gräber öffneten und schlossen, den seufzenden Bürgern, die den Schnee schaufeln und die Bürgersteige reinigen mußten, lag die unbekannte Röte. In den Wäldern verhallten mit weichem Echo die letzten Schüsse. Letzter Feuerschein huschte über nächtliche Horizonte. Die schweren und schnellen Glocken der Kirchen hörten nicht auf zu läuten. Die Setz- und Druckmaschinen begannen ihre Räder zu drehen, sie waren die Mühlen der Revolution. Auf tausend Plätzen sprachen die Redner zum Volk. Die Rotgardisten marschierten in zerrissenen Kleidern und in zerrissenen Stiefeln und sangen. Die Trümmer sangen. Freudig stiegen die Neugeborenen aus den Schößen der Mütter.

Tunda kam nach Moskau. Es wäre ihm gelungen, in jenen Tagen, in denen es Ämter regnete, einen Schreibtisch und einen Stuhl zu bekommen. Er hätte sich nur melden müssen. Er tat es nicht. Er hörte alle Reden, ging in alle Klubs, sprach mit allen Menschen, ging in alle Museen und las alle Bücher, die er bekommen konnte. Er lebte damals von Artikeln für Zeitungen und Zeitschriften. Es gab ein Klischee für Proteste und Aufrufe, ein zweites für Skizzen und Erinnerungen, ein drittes für Empörung und Anklage. Seine Gesinnung war revolutionärer als diese fertige Sprache. Er übernahm nur das Handwerkszeug. Schriftsteller erleben alles durch das Mittel der Sprache, sie haben kein Erlebnis ohne Formulierung. Tunda aber suchte nach bestehenden, oft erprobten und zuverlässigen Formulierungen, um nicht im Erlebnis unterzugehen. Er griff, wie ein Ertrinkender, mit ausgestreckten Armen nach der nächsten Klippe. Tunda, der im Jahre 1914 ausgezogen war, um nach einigen Monaten über die Ringstraße von Wien zu marschieren, zu den Klängen des Radetzkymarsches, taumelte in der zerrissenen und zufälligen Kleidung eines Rotarmisten durch die Straßen von Moskau und fand für seine Ergriffenheit keinen anderen Ausdruck als den abgewandelten Text der Internationale. Nun gibt es Augenblicke im Leben der Völker, der Klassen, der Menschen, Augenblicke, in denen die Billigkeit einer Hymne gleichgültig ist gegenüber der Feierlichkeit, mit der sie gesungen wird. Dem Sieg der russischen Revolution waren selbst die beruflichen Schriftsteller nicht gewachsen. Alle machten billige Anleihen und schrieben abgegriffene Worte in die Zeit. Tunda wußte gar nichts von der Billigkeit dieser Worte, sie erschienen ihm ebenso großartig wie die Zeit, in der er lebte, wie der Sieg, den er erfochten hatte.

Mit Natascha traf er nur des Nachts zusammen.

Sie bewohnten ein Bett in einem von drei Familien benutzten Zimmer und nährten sich mit Hilfe eines Spirituskochers, der mit Petroleum geheizt wurde. Ein Vorhang, aus drei blauweiß gestreiften Schürzen zusammengenäht, spielte die Rolle einer Wand, einer Tür und eines Fensters. Tunda, wie alle Männer ein Sklave der Gewohnheit, die man Liebe nennt, verstieß doppelt gegen die Gesetze, die Natascha aufgestellt hatte, indem er eifersüchtig wurde. Er machte Natascha laute Vorwürfe, mit der Harmlosigkeit naiver Männer, die glauben, es genüge, unsichtbar zu sein, um auch nicht gehört zu werden. Übrigens kümmerten sich die Nachbarn, die ihre Neugier allmählich in dieser Enge verloren hatten, ungefähr wie lebenslänglich Eingekerkerte das Augenlicht verlieren, gar nicht um den Inhalt der eifersüchtigen Mahnungen und Klagen Tundas, sondern nur um die Störung, die sie bedeuteten.

Tunda wollte wissen, was Natascha den Tag über bis Mitternacht tat. Sie hätte, selbst wenn es ihre Grundsätze gestattet hätten, nicht erzählen können, denn es war viel. Sie organisierte Frauenheime, lehrte Wöchnerinnen Hygiene, beaufsichtigte obdachlose Kinder, hielt Vorträge in Fabriken, in denen die Arbeit unterbrochen wurde, damit sie den Marxismus ungestört erläutern könne, arrangierte revolutionäre Theatervorstellungen, führte Bäuerinnen, in Museen, versenkte sich in die Kulturpropaganda, ohne die breiten Reiterhosen, in denen sie gekämpft hatte, gegen einen Rock zu vertauschen. Sie blieb gewissermaßen eine Frontkämpferin.

Den Vorwürfen Tundas begegnete sie, ja, sie kam ihnen zuvor, mit anderen, die im Zusammenhang mit der Größe der Zeit wichtiger waren.

»Weshalb arbeitest du nicht?«, rügte sie, »du ruhst auf deinen Lorbeeren aus. Wir haben noch nicht den Sieg, es ist noch Krieg, er beginnt jeden Tag aufs neue. Die Zeit des Bürgerkriegs ist vorbei, der viel wichtigere Krieg gegen das Analphabetentum beginnt. Wir führen heute einen heiligen Krieg um die Aufklärung unserer Massen, um die Elektrifizierung des Landes, gegen die Verwahrlosung der Kinder, für die Hygiene der arbeitenden Klasse. Für die Revolution ist uns kein Opfer zu teuer«, sagte Natascha, die im Felde immer origineller gesprochen hatte, aber seit ihrer gesteigerten öffentlichen Tätigkeit nicht anders mehr reden konnte.

»Da hast du was von Opfern gesagt«, erwiderte der naive Tunda, der sich von Zeit zu Zeit seine eigenen Gedanken über die historischen Ereignisse zu machen pflegte, »ich wollte dich schon oft fragen, ob du nicht auch dieser Meinung bist: ich stelle mir die Zeit des Kapitalismus so vor, daß er die Zeit der Opfer war. Seit den ersten Anfängen der Geschichte opferten die Menschen. Zuerst Kinder und Rinder für den Sieg, dann opferten sie die Tochter, um den Ruin des Vaters zu verhindern, den Sohn, um seiner Mutter ein angenehmes Alter zu bereiten, die Frommen opferten Kerzen für das Seelenheil der Toten, die Soldaten opferten ihr Leben für den Kaiser. Sollen wir nun auch für die Revolution opfern? Mir scheint, jetzt beginnt endlich die Zeit, in der man nicht opfert. Wir haben nichts, wir haben ja das Eigentum abgeschafft, nicht wahr? Auch unser Leben gehört uns nicht mehr. Wir sind frei. Was wir haben, gehört allen. Alle nehmen von uns, was ihnen gerade notwendig erscheint. Wir sind keine Opfer, und wir bringen keine Opfer für die Revolution. Wir sind selbst die Revolution.«

»Eine bürgerliche Ideologie«, sagte Natascha. »Welchen Arbeiter lockst du damit hinter seinem Ofen hervor? Du redest verstiegenes Zeug, ich wundere mich, woher du es hast. Du redest, als hättest du mindestens sechs Semester Philosophie. Ein Glück, daß deine Artikel nicht so geschrieben sind. Ein paar sind ganz gut.«

Für die Liebe bezeugte Natascha immer weniger Interesse. Die Liebe gehörte ja zu den Gebräuchen des Bürgerkrieges, zu den Sitten im Felde, der friedlichen Kulturpropaganda konnte sie abträglich sein. Natascha kam um Mitternacht nach Hause, bis zwei Uhr dauerten ihre Diskussionen, um sieben Uhr früh mußte sie aufstehen. Die Liebe hätte zur Folge gehabt, daß sie eine Stunde später ihr Tagewerk begonnen hätte.

Auch langweilte sie Tunda, ein Mann ohne Energie, dessen Rückfälle in die bourgeoise Ideologie allein schon in seiner stärkeren Liebesbereitschaft deutlich wurden. Nikita Kolohin, ein ukrainischer Kommunist, der für die nationale Autonomie der Ukraine kämpfte und die Großrussen verachtete, weil sie nicht alle Worte des ukrainischen Dialekts verstanden, hatte in den letzten Tagen mit Natascha viele Stunden lang die Lage der ukrainischen Nation besprochen und bei dieser Gelegenheit bewiesen, wie hoch er über einem österreichischen Offizier stand. Natascha erinnerte sich, daß sie ja in Kiew zur Welt gekommen, also eigentlich Ukrainerin war, daß in Kiew ihr Posten war und nirgendwo sonst. Sie reiste mit Nikita nach Kiew – – was war da anderes zu machen?

Sie lernte ein paar kernige ukrainische Ausdrücke, fuhr durch die Dörfer, erinnerte die Bauern an ihre nationalen Pflichten und traf mit Nikita wieder in Charkow zusammen, das nunmehr Charkiw hieß und in dem ein kleines Zimmer für sie und Nikita bei Freunden vorbereitet war.

Leider vergaß Natascha, Tunda rechtzeitig von ihrem längeren Aufenthalt in der Ukraine zu verständigen. Daher kam es, daß Tunda zuerst eifersüchtig wurde und annahm, ein Mann oder mehrere würden Natascha verhindern, in der Nacht nach Hause zu kommen. Er suchte sie in allen Klubs, allen Heimen, allen Redaktionen, allen Büros. Dann wurde er wehmütig; es war der erste Schritt zur Erkenntnis. Er vergaß, Artikel zu schreiben, das nötige Geld für die nächsten Tage zu verdienen, er hungerte fast. Ein paar bekannten Genossen erzählte er von Nataschas Abwesenheit. Sie sahen ihn gleichgültig an. Jeder von ihnen hatte in diesen Monaten ähnliche Erfahrungen gemacht. Aber es stand ja fest, daß die Welt neu eingerichtet werden mußte und daß kleine private Schmerzen lächerlich waren.

Nur Iwan Alexejewitsch, Iwan der Grausame genannt, weil er im Bürgerkrieg den gefangenen Popen aus ihren langen Haaren Zöpfe geflochten, einige an den Zöpfen zusammengebunden und jeden dann in eine andere Richtung hatte laufen lassen, Iwan Alexejewitsch, der jetzt noch bei der Kavallerie diente, eigentlich gutmütig war und Grausamkeiten nur aus Überfluß an Phantasie beging, Iwan allein ließ sich in ein längeres Gespräch über die Liebe ein.

»Die Liebe«, so sagte Iwan, »ist gar nicht abhängig von der Revolution. Im Krieg hast du mit Natascha geschlafen, sie war ein Soldat, du warst ein Soldat, ob Revolution oder nicht, ob Kapitalismus oder Sozialismus, die Liebe hält nur bei gleich und gleich einige Jahre. Jetzt ist Natascha kein Soldat mehr, sie ist eine Politikerin, und du bist – – das weiß ich nicht, was du bist. Früher einmal hat man die Frau geschlagen, wenn sie nicht nach Hause kam, aber wie willst du diese Frau schlagen, die wie zwanzig Männer gekämpft hat? Sie hat nicht nur gleiche Rechte, sie hat mehr Rechte als du. Deshalb bin ich gar nicht in mein Dorf zurück. Dort lebt meine Frau mit fünf Kindern (wenn sie nicht noch einige hat, aber die ersten fünf sind von mir). Bevor ich zur Roten Armee ging, habe ich alle geschlagen, alle fünf und die Frau, jetzt bin ich aufgeklärt, wenn ich nach Hause käme, müßte ich selbst sagen: mit dem Prügeln ist es aus. Aber es wäre gegen meine Natur, ich hätte doch fortwährend Lust, diesen und jenen in meiner Familie zu verprügeln, und ich dürfte es nicht. Daraus könnten sich dann Konflikte entwickeln, und ein anständiges Familienleben käme nicht zustande, wenn ich mich fortwährend beherrschen müßte.«

Nicht einmal die Rückkehr Nataschas tröstete Tunda. Sie kam nach einigen Wochen, mußte zu einem Arzt und dachte weder an Tunda mehr noch an die ukrainische Nation. Sie blieb acht Tage im Bett, Tunda bediente den Spirituskocher. Wer diese Tätigkeit kennt, wird wissen, daß keine andere wie sie geeignet ist, auch sentimentale Männer zur Kritik zu erziehen. In diesen acht Tagen wurde Tunda seiner Liebe, die sich in Kochen verwandelt hatte, einfach müde.

Mit Hilfe einiger alter Freunde aus der Zeit des Kriegskommunismus fand er einen Schreibtisch. Er saß in dem Büro eines neubegründeten Instituts, dessen Aufgabe es war, einige kleine Völker des Kaukasus mit einem neuen Alphabet, mit Fibeln, mit primitiven Zeitungen zu versehen, neue nationale Kulturen zu schaffen. Tunda bekam den Auftrag, mit Probezeitungen, Zeitschriften, Propagandamaterial nach dem Kaukasus zu reisen, an den Fluß Terek, an dessen Ufer ein Völkchen lebte, das nach alten Statistiken zwölftausend Seelen zählen sollte.

Er wohnte einige Wochen im Hause eines besser situierten Kumyken, der aus religiösen Gründen Gastfreundschaft übte und den unbequemen Fremden mit freundlicher Fürsorge behandelte.

Es blieb Tunda nicht viel zu tun übrig. Einige junge Leute hatten sich schon der Kultur bemächtigt, Klubs gegründet und Wandzeitungen verfaßt.

Es stellte sich heraus, daß die Leute nicht schnell genug lernten. Man mußte ihnen mit Filmen nachhelfen. Tunda wurde Leiter eines Kinos, das allerdings nur dreimal in der Woche spielen konnte.

Zu seinen ständigen Gästen gehörte ein Mädchen namens Alja, Tochter eines Grusiniers und einer Tattin.

Das Mädchen lebte bei ihrem Onkel, einem Töpfer, der seine Arbeit unter freiem Himmel verrichtete und dank einer bestimmten Veranlagung, aber auch infolge des eintönigen Lebens, ein bißchen stumpfsinnig geworden war. Er verstand keine Sprache, er verwendete, um sich zu verständigen, nur ein paar Brocken, die er langsam mit den Fingern aus seinem Hirn herauszuholen schien.

Das Mädchen war schön und still. Sie ging in der Stille herum wie in einem Schleier. Manche Tiere erzeugen so eine Stille, in der sie dann ihr Leben verbringen, als hätten sie ein Gelübde getan, einem geheimen und höheren Zweck zu dienen. Das Mädchen schwieg, ihre großen braunen Pupillen lagen in dunkelblauem Augenweiß, sie ging so aufrecht, als trüge sie einen Krug auf dem Kopf, ihre Hände lagen immer auf dem Schoß, wie unter einer Schürze.

Dieses Mädchen war Tundas zweite Liebe.

Die Flucht ohne Ende

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