Читать книгу Verirrungen - Yupag Chinasky - Страница 6

Der Waldweg

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„Was soll der Scheiß“, brüllt er und will die Tür öffnen. Doch es geht nicht, sie rührt sich nicht, sie ist abgeschlossen, er ist eingeschlossen. Er geht zum Fenster und zieht einen der Vorhänge zur Seite. Das Fenster ist von außen mit dunkler Folie beklebt, es lässt sich nicht öffnen. Er trommelt an die Wand zur Fahrerkabine. Brüllt sich die Seele aus dem Leib. Als Antwort wird das rote Licht ausgeschaltet und es ist nun stockdunkel in dem Kabuff. Er versucht sich nochmals an der Tür, an dem Fenster. Beide sind sehr stabil. Der Wagen fährt, erst langsam, dann schneller, dann merkt er, dass es kurvig wird. Ein paarmal hält der Bus, fährt kurz darauf wieder an, er hört andere Autos, laute Startgeräusche, es müssen wohl Ampeln gewesen sein. Irgendwann hat der Wagen die Stadt anscheinend verlassen, denn jetzt fährt er gleichmäßig, nur selten Kurven, keine Stopps. Er flucht weiter, trommelt, rüttelt. Die Hitze wird immer unerträglicher. Genauso wie die Gedanken an seine Lage, an die Probleme, die auf ihn zukommen werden, seine Frau, sein Auto, Polizei. Erschöpft setzt er sich auf das Bett. Da fällt ihm sein Handy ein, vielleicht geht es doch noch, vielleicht ist noch genug Saft im Akku, um die Polizei anzurufen. Doch das Display zeigt nur noch einen matten Schein, eine Verbindung zur Außenwelt nicht mehr möglich. Er tastet die Taschen seines Anzugs ab. Es ist noch alles da, der Geldbeutel, die Brieftasche, der Schlüsselbund mit Auto-, Wohnungs-, Büroschlüssel, sogar der Parkschein für sein Auto. Dann zieht er die Hose an, die Socken, die Schuhe, das Hemd, nur das Jackett nicht. Er schaut auf die Uhr, die Leuchtziffern glimmen. Der Zug ist schon längst angekommen, trotz Verspätung, aber das ist im Moment nicht sein Problem.

Eine halbe Stunde später, oder war es eine Stunde, fühlt er, wie der Wagen langsamer wird und schließlich in einer engen Kurve abbiegt. Nun wird der Weg erst holprig, aber dann wieder glatt mit sanften Wellen. Wieder dehnen sich die Minuten zu kleinen Ewigkeiten. Der Wagen fährt sehr langsam und dann hält er an. Endlich ist wenigstens diese quälende, ungewisse Fahrerei beendet. Er schreit wieder, trommelt gegen die Fahrerkabine, doch nichts passiert. Erst nach einer halben Ewigkeit hört er, wie eine Tür geöffnet wird, der Wagen schaukelt leicht, jemand hat die Fahrerkabine verlassen. Diese verdammte Frau? Oder ihr Zuhälter? Es dauert wieder ein paar Minuten, dann wird die Tür zu seinem Gefängnis geöffnet. Helles Sonnenlicht dringt ein und blendet ihn. Er muss die Augen zukneifen. Zugleich will er seiner Wut freien Lauf lassen, will eine Erklärung haben, will raus aus der Hitze, der Enge, der Schande. Aber zwei Dinge hindern ihn. Zum einen der Mann, der vor der Tür steht: breit, massig, schwarze Lederjacke. Sein Gesicht ist gegen das Licht nicht zu erkennen und als sich seine Augen an die Helligkeit adaptiert haben, sieht er, dass es von einem Tuch weitgehend verdeckt wird und dass der Mann trotz der Hitze eine schwarze Pudelmütze auf hat. Zum andern das Ding, das der Mann in der Hand hält und das auf ihn gerichtet ist, der dunkle, matt glänzende Lauf einer Pistole. Der Protest bleibt ihm im Hals stecken, die Wut wird von Angst abgelöst, von nackter Angst. Bevor er sich wieder fassen kann, etwas sagen kann, Fragen stellen kann, gar erneut losbrüllen kann, spricht der Mann zu ihm, mit leiser Stimme, die keinen Widerspruch duldet.

„Du hältst jetzt erst mal dein Maul und machst genau, was ich dir sag. Dann bassiert dir nix. Sonst seh ich mich gezwungen, dir Schaden zuzufügen.“

Neben die Angst mischt sich nun Erstaunen. Der Mann spricht in gewählten, ja gestelzten Worten. Der Ton der Stimme ist ihm seltsamerweise nicht einmal unsympathisch. Komisch, dieser Gedanke in solch einer Situation. Zwei weitere Dinge fallen ihm auf. Der Mann hat keine schwarze Hautfarbe, wie sein Lockvogel, sondern eine helle, bleiche, wie er an dem bisschen Haut erkennt, das am Hals zu sehen ist und um die Augen herum und natürlich an den Händen. Und der Ort fällt ihm auf, als er an dem Mann vorbei schaut und sieht, dass sich der Wagen in einem Wald befindet, auf einer Lichtung oder einem breiten Waldweg.

„Ich seh, dass du dich anzogen hast. Du ziehst dich jetzt wieder aus. Verstanden? Du legst alles ab, was du an hast, alles was an dir dran ist und wenn ich sag alles, mein ich auch alles.“

Die Worte prallen an ihm ab. Er starrt weiter sein Gegenüber an, reglos, sprachlos, angsterfüllt, wie gelähmt. Er rührt sich nicht. Er kann sich nicht rühren. Der Mann vor der Tür wartet eine Minute.

„So, jetzt ist der Schock vorbei. Fang an. Dalli, dalli. Wir haben kei Zeit.“

Dabei fuchtelt er zur Bestätigung seiner Worte mit der Pistole hin und her und stößt den Lauf auffordernd in seine Richtung. Die Lähmung ist vorbei. Er versucht es nun mit Worten, doch noch ehe er etwas sagen kann, noch ehe überhaupt ein Wort über sein Lippen kommt, herrscht ihn der Türsteher an.

„Halt's Maul und tu, was ich sag. Oder hast mich noch immer net verstanden. Zieh dich aus und halt's Maul. Also los, mach schon.“

Der Angesprochene stößt einen Fluch aus und fängt an, sich auszuziehen. Er verstreut die Kleider auf dem Fußboden, nur die Unterhose behält er an.

„Alles hab ich gsagt, hörst schlecht oder glaubst net, was ich dir sag? Alles, aber flott.“

Nun liegt auch die Unterhose auf dem Boden.

„Du hältst mich wohl für blöd oder hast immer noch net kabiert, was ich gsagt hab. Die Kette, die Ringe, die Uhr, bittschön.“

Der Pistolero redet mit einem Akzent, der auf Franken oder Sachsen hindeutet. Einer aus dem Osten, denkt der Nackte, während er schweren Herzens auch die restlichen Dinge ablegt. Einer aus dem Osten mit einem schwarzen Flittchen, einem Fliegenfänger, einem Bauernfänger, einem Lockvogel. Ein Straßenräuber, ein Wegelagerer, ein Buschjäger, einer, der auf dumme Arschlöcher wie ihn aus ist. Ein Arsch, der andere Ärsche verarscht.

„Schön, dass wir uns einig sind. Steh auf, dreh dich um, Hände auf den Rücken.“

Der Nackte zögert wieder. Jetzt wäre der Moment zu reagieren, vorzuschnellen, dem fiesen Typ eine in die Fresse zu hauen, ihn auf den Boden zu schmeißen, die Pistole an sich zu nehmen, ihn abzuknallen, zumindest einzuschüchtern, auf Distanz zu halten, sich dann an das Steuer zu setzen und abzuhauen. Doch er bleibt reglos, dafür fällt ihm plötzlich ein, das er die schwarze Nutte noch gar nicht gesehen hat. Wo ist das schwarze Flittchen? Hat sie auch eine Pistole, die heimlich auf ihn gerichtet ist? Aber es ist nicht dieser Gedanke, der ihn abhält, irgend etwas zu unternehmen, einen Vorstoß zu machen, um seine Lage zu ändern. Er macht nichts, weil er Angst hat, höllische Angst, vor diesem Mann und mehr noch vor seiner Pistole. Diese flößt ihm Respekt ein, obwohl er sich nicht sicher ist, ob sie überhaupt echt ist, aber auf diesen Nachweis will er es lieber nicht ankommen lassen. Neben der Scheißangst, traut er sich eine solche Überrumpelung auch gar nicht zu. Er wäre zu langsam, zu zögerlich, die Wut allein würde ihn nicht in die Lage eines Helden versetzen und so macht er das, was der Dicke ihm befohlen hat. Er steht auf, dreht sich um, streckt die Hände auf den Rücken, fühlt, wie ein Kabelbinder um die Handgelenke gelegt und festgezurrt wird. Das Ganze dauert nur ein paar Sekunden.

„Bleib stehn, wie du stehst. Rücken zur Tür. Bleib ganz ruhig, dann bassiert dir nichts. Bis jetzt warst ja vernünftig, bleib so.“

Erneut fragt er sich, wo die schwarze Frau abgeblieben ist. Die muss doch irgendwo sein, denn der Dicke sagt etwas mit halblauter Stimme, die nicht an ihn gerichtet ist.

„Take this and put it around his eyes. Hurry up.“

Der Nackte spürt, wie der Wagen wieder leicht schwankt, dann riecht er das Parfum und den Schweiß. Er dreht den Kopf zu Seite, doch das Einzige, was er sieht, ist die Pistole, die ihm klar bedeutet, sich wieder abzuwenden. Dann spürt er die rauen Hände an seinem Kopf und sieht, dass seine Krawatte als Augenbinde verwendet wird, das rote Ding mit der Mickymaus. Sie sitzt schief, ist lose und er kann über den Rand blinzeln.

„Not so. Silly cow. Make it better.“

Die Frau fummelt erneut, knotet noch einmal. Jetzt sitzt der Schlips stramm. Er kann nichts mehr sehen.

„And now the Daschentuch in his mouth. Look in his pocket.”

Erst will er den Mund nicht öffnen, doch dann spürt er einen Druck in seinem Rücken, den Druck der Pistolenmündung. Das Taschentuch ist schweißnass, ekelig und füllt seinen Mund voll aus. Er kann nur noch schwer atmen, er röchelt und hustet und will den Stoff mit der Zunge wieder aus dem Mund drücken. Es geht nicht, denn die Frau hat noch irgend etwas, ein Band, eine Schnur, so um seinen Kopf gebunden, dass das Taschentuch nicht ausgespuckt werden kann.

„Help him, to leave the car.“

Die Hände, die noch vor kurzer Zeit seinen Körper betastet, seine Oberschenkel gestreichelt und sein Geschlecht gedrückt hatten, fassen ihn geradezu sanft an den Schultern und ziehen ihn rückwärts in Richtung Tür. Mit ihrer gurrenden, rauchigen Stimme sagt sie leise.

„I’m sorry, darling. Take care, the step.“

Er stolpert. Sie hält ihn fest und zieht ihn sanft. Seine Füße tasten sich die kleine Steigleiter hinab. Dann ist er draußen. Er spürt das Gras an den Fußsohlen und die spitzen Zweige und die kleinen Steinchen.

„Na siehst, s'ging doch. Wir lassen dich jetzt allein. Du wirst schon zurechtkommen. Du findst schon jemand oder jemand find dich. Erfriern kannst net bei der Hitzen und a Sonnenstich wirst schon net kriegen. Tschüss und danke für’s Mitmachen. Und noch was, denk dir was Schönes aus, wie du in die Scheiße graten bist. Sag ja net die Wahrheit. Wenn ich merk, dass du mich suchst und mir Schwierigkeiten machen willst, bist du dran, aber wie, dann bin ich net mehr so sanft zu dir. Merk dir das.”

Und wieder in eine andere Richtung: “Come on baby, let’s go.“

Dann, noch einmal, zum letzten Mal, die rauchige Stimme: „Tschüss Schatzi. Next time we will have more fun. You and me.”

Die Frau hat diese Worte fast geflüstert, sie muss ganz nahe neben ihm gewesen sein, denn er riecht sehr intensiv und zum letzten Mal die Mischung aus süßem Parfüm und strengem Schweiß. Dann lacht sie, ihr kehliges Lachen und einen kurzen Moment spürt er die raue Hand auf seinem Rücken, die ihm zum Abschied einen freundschaftlichen Klaps und eine kleine Streicheleinheit verpasst. Er hört noch, wie die Tür zum Kasten zugeschoben wird und wie die beiden Wagentüren nacheinander ins Schloss fallen. Der Motor wird angelassen. Abgase treffen seine Nase. Ein kurzes Hupen zum Abschied, dann rollt der Wagen leicht knirschend auf dem Sand des Waldwegs davon.

Der nackte Mann bleibt eine Weile stehen, so wie die Frau ihn hingestellt hatte. Er zerrt an seiner Fessel, aber die gibt nicht nach. Dann setzt er sich fluchend in Bewegung, langsam, vorsichtig, die Füße tasten sich auf dem Sandweg vorwärts. Es ist ekelig und schmerzhaft. Er denkt, dass er jeden Moment in irgend eine Scheiße treten wird und diese vielen kleinen, spitzen Dinge, die sich in seine Fußsohlen bohren, nerven ihn. Wenn er an den Rand des Weges kommt und den Sand nicht mehr spürt, dafür mehr Gras, mehr Zweige, eine Böschung, einen Graben, verändert er die Richtung. Er hat keine Ahnung, in welche Richtung er gehen soll. Er hat keinerlei Orientierung, nicht einmal die helle Sonnenscheibe kann er im schattigen Wald erahnen. Während er langsam, vorsichtig dahin schleicht, die zunehmenden Schmerzen an den Füssen und die vielen Stiche blutrünstiger Mücken tapfer ignorierend, denkt er angestrengt nach. Er hat viel Zeit nachzudenken, denn er kommt nur langsam vorwärts. Seine Wut, seine Angst, seine Scham verebben und neben den Überlegungen, wie er aus diesem Schlamassel herauskommen soll, erreichen ihn die ersten Gedanken an Rache. Aber das hat Zeit, jetzt muss er Entscheidungen treffen, die unmittelbar wichtig sind: wie aus diesem Wald heraus kommen, wie zu einer Straße gelangt, auf Autos fahren, wie sich der Fessel, der Augenbinde, des Knebels entledigen. Die Rache kann warten. Obwohl ihn dieser Gedanke mehr und mehr beherrscht und ob er will oder nicht, er fängt an Rachepläne zu schmieden. Soll er zur Polizei? Aber auch das hat Zeit. Auf einmal, ganz plötzlich beherrscht wieder seine Frau sein Denken, als ob es nichts Wichtigeres gäbe. Er will sich lieber gar nicht vorstellen, wie er ihr diese Scheiße möglichst plausibel erklären soll. Aber auch das hat Zeit. Ausreden kann er sich später ausdenken. Dann versucht er, all diese unangenehmen Gedanken zu verdrängen. Nicht verdrängen kann und will er die Rachegedanken. Sie halten ihn aufrecht, sie treiben ihn voran. Wie kann er sich an dem Scheißkerl und seinem Paradiesvogel rächen? Wie, nur wie? Er weiß doch gar nicht, wer die beiden sind und wo er sie finden kann. Erst muss er den Bär haben, bevor er das Fell aufteilen kann. Das Sprichwort fällt ihm ein. Dann, als er wieder einmal auf einen spitzen Ast getreten ist und vor Schmerz aufschreit, wie man mit einem Knebel im Mund aufschreien kann, überkommt ihn ein Schwall von Selbstmitleid. Warum musste ihm das passieren? Ausgerechnet ihm? Die Schmach, die Schande und alles weg, Geld, Uhr, Ausweise, Kreditkarten, Schmuck. Der Ehering fällt ihm ein, der auch. Warum auch der? Das erfordert noch mehr Erklärungsbedarf. Seine Gedanken sind wieder bei seiner Frau gelandet und bei seinem Auto, das am Bahnhof steht, vor einer längst abgelaufenen Parkuhr. Auch das wird noch Ärger machen. Dann kreisen die Gedanken um den Anfang dieser grandiosen Scheiße, als er auf dem Weg zum Bahnhof dieser verdammten Nutte begegnet ist. Auf was hat er sich da nur eingelassen. Er geht wieder ein paar Schritte, dann stolpert er, fällt hin, rappelt sich auf. Der Kabelbinder scheuert an den Handgelenken, die Hände fühlen sich pelzig, kribbelig an. Er fürchtet auf einmal, dass sich das Blut staut, dass sie in Fäulnis übergehen und amputiert werden müssen. Die Krawatte ist etwas verrutscht, er sieht nun einen leichten Schimmer. Und dann ist da noch ein anderer Hoffnungsschimmer. Das Taschentuch konnte er dank intensiver Zungenarbeit aus dem Mund schieben, das Band war nicht besonders fest geknotet. Er schreit aus voller Brust.

„Was für eine grandiose Scheiße, was für eine grandiose Verspätung.“

Verirrungen

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