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Ecuador: Atemlos in den Anden

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Von Madlen Brückner, puriy.de

Wie eine Raupe in ihrem Kokon liege ich in meinem Schlafsack eingewickelt. Seit drei Stunden starre ich aus der kleinen Öffnung durch eines der sechs Triple-Stockbetten hindurch in die helle Vollmondnacht. Zwei Sterne leuchten am Himmel. Wieder huscht ein Schatten durch den Schlafsaal, etwas später höre ich die Klospülung. Dieses Geräusch begleitet mich nun, seit wir uns um 18.30 Uhr zum Schlafen gelegt haben, und lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Nervosität und Anspannung sind deutlich zu spüren, nicht nur bei mir, sondern bei jedem hier. Um 22 Uhr greifen wir scheinbar erleichtert im Schein unserer Stirnlampen zu unseren Sachen. Jeder Handgriff sitzt. Noch einmal wird der abends gepackte Rucksack gecheckt. Es herrscht eine emsige Stille, während wir im Speiseraum fast meditativ unsere Marmeladenbrote kauen. Kurz vor 23 Uhr bewegt sich unser Toyota-Geländewagen vom Basislager La Rinconada Richtung Cotopaxi.

Erst jetzt ist mir klar, dass ich es machen werde. Zu schön leuchtet der Berg aus der idyllischen Vulkanstraße heraus, einer der höchsten aktiven Vulkane der Welt. Erst jetzt habe ich die letzten Zweifel beiseite geschoben, die mich in den letzten Tagen begleiteten. Zweifel, wie mein Körper auf die Höhe von 5897 Meter reagiert, Zweifel, ob ich das von meiner Fitness durchstehe, Zweifel, ob mich am Ende nicht die Höhenangst überkommt. Als wir 45 Minuten später auf dem 4600 Meter hoch gelegenen Parkplatz unterhalb des Cotopaxi stehen, sind alle Zweifel verschwunden. Jetzt setzt sich mein Wille durch und ein Automatismus ein, als wäre es nicht mein erster Berg solchen Formats.

Wir haben Glück mit dem Wetter, meint unser Bergführer José. Im hellen Mondschein sehen wir sehr deutlich unser Ziel, den schneebedeckten Gipfel. Es soll noch knapp 9 Stunden dauern, bis ich ihn erreichen werde. Unsere kleine Gruppe setzt sich zunächst durch ein steiles Geröllfeld in Gang, nach 45 Minuten erreichen wir auf 4800 Metern das alte Basislager, das sich aktuell im Bau befindet. Aus allen Nischen der offenen Baustelle sieht man das gedämpfte Licht der Stirnlampen. Der erste Stopp ist erreicht. Schweigend lasse ich mich an der kühlen Außenwand des Baus nieder. Meinen Freund Lars und meinen Guide José habe ich aus den Augen verloren. Ich bekomme keinen Happen runter, stattdessen starre ich auf den Berg. Kleine Lichter setzen sich in Gang und ziehen eine Schlängellinie im Dunkel der Nacht. Dieser muss ich nur folgen. Ich bin mental total bei mir – merke weder Kälte, Schmerzen noch Hunger. Weitere 40 Minuten durch das unwegsame Geröllgelände folgen, bis der Augenblick erreicht ist, von dem uns viele Tagesausflügler bisher berichteten.

Eis löst das rutschige Gestein ab. Steigeisen werden unter die Schuhe gebunden, die Eisaxt in die linke Hand und der «Wanderstock» in die rechte Hand genommen. So marschieren wir im Rhythmus einer Dreier-Seilschaft durch das Eis. Nach nicht einmal einer weiteren Stunde legt sich der Schalter in meinem Kopf um. Von einem sehr hellen, klaren Zustand falle ich in einen nicht zu bändigenden Schlafzustand. Ich versuche zunächst stillschweigend gegen meinen Körper anzukämpfen, doch schnell merke ich, dass ich diesen Kampf verlieren werde. Ich verliere die Gewalt über meinen Kopf und meinen Körper, falle in einen komatösen Zustand – wie nach der Einnahme einer Schlaftablette. Ich komme nicht umher, Lars anzuzeigen, dass ich umkehren muss. Doch er reicht mir ein Energiegel und meint, ich solle weitergehen. Ich schalte meinen Kopf aus und laufe fremdgesteuert die nächste Stunde mit festem Blick auf Josés Waden. Gruppen holen uns ein, wir sind sehr langsam unterwegs. Es geht immer 45 bis 60 Grad bergauf, Pausen muss man sich suchen. Das Powergel verliert seine Wirkung. Wieder reicht mir Lars Nachschub und meinen Coca-Tee. Wir hocken in einem Eisvorsprung geschützt vom kalten Wind. Eine andere Gruppe spricht vom Aufgeben. Ich will weiter – mindestens auf 5500 Meter.

Das nächste Stück wird noch steiler. Wir überschreiten Gletscherspalten, immer wieder müssen wir Balance halten, um nicht am Bergrücken abzurutschen. Und schwanke ich doch im Wind, spüre ich Josés schnellen Zug am Seil. Ich habe Respekt vor seiner Arbeit. Jeden Moment muss er 100 Prozent wach sein. In seinen Händen liegen unser Erfolg und irgendwo auch unser Leben. Die nächsten Stunden sind monoton. Immer wieder sehe ich einen neuen Anstieg, der sich nach einem eben Bezwungenen vor mir auftut. Ich spüre den Mond im Nacken. Zu sehr haftet mein Blick auf Josés Schritten.

Um fünf Uhr legt sich ein glutroter Streifen über den östlichen Horizont. Und etwas nördlicher unter dem Streifen glitzern die Lichter von Quito. Was für eine wahnsinnige Aussicht! Doch ich schaue immer nur kurz nach links, um nicht vom Weg abzukommen. Kein Stehenbleiben, kein mühsamer Griff an den Rucksack, um die Kamera herauszuholen. Das Handy hat sich aufgrund der Kälte längst ausgeschaltet. Ich sollte jetzt und hier halten und diesen Augenblick festhalten und genießen. Doch das Glitzern der Lichter von Quito wird nur ein Gedanke, eine Erinnerung bleiben. Der Sonnenaufgang über Quito vom Gipfel sollte laut Erzählungen der Höhepunkt sein, doch dieser rauscht im Gehen an mir vorbei. Wir sind auf 5500 Metern – 397 sind noch zu bezwingen, und die haben es in sich. Der Wind zieht an, weht eisig in die offene Luke meiner Schlitzkappe. Es wird hell. Wieder und wieder schaltet sich mein Kopf ab. Wieder und wieder schlucke ich Coca-Tee und Powergel.

Um 7.30 Uhr kommen uns Gruppen auf ihrem Rückweg entgegen. Ich bin frustriert, all meine Motivation fließt dahin. Noch anderthalb Stunden prophezeit uns ein befreundeter Guide. Es werden die schlimmsten anderthalb Stunden. Das was mich die ganze Zeit am Gehen hielt, schiebt mich nicht mehr an – mein eigener Wille. Vor uns tut sich ein Feld mit Tiefschnee auf, das wir am Steilhang durchstapfen müssen. Plötzlich schaltet sich auch mein Körper aus. Ich kann meine Beine nicht mehr anheben. Lähmt mein Wille den Körper oder meine fehlende Kraft meinen Willen? Lars fragt, ob ich umkehren will. Ich will, 5500 Meter sind längst geschafft, der Sonnenaufgang hat ohne uns stattgefunden. José kommt meiner Antwort zuvor: «Anderthalb Stunden, das schaffst Du!». Ich höre mich sagen: «Das schaffe ich, aber ganz langsam!» Ich halte nach jedem dritten Schritt – schnaufe, kämpfe. Nach dieser Passage sehen wir einen weiteren steilen Gipfel. Ich bin am Ende.

Da klopft mir José auf die Schulter: «Das ist er.» Ich spüre meine Finger nicht mehr, durch zwei Schichten dicker Handschuhe hat sich der eisige Wind durchgearbeitet. Ich denke an das, was ich in unzähligen Foren las. An dieser Stelle geben viele auf. Ich sage José zum ersten Mal, was ich am Berg zig Male gedacht habe, was aber erst jetzt aus mir herauskommt: «Ich kann nicht mehr!» «Are you sure?», versichert er sich. Ja, natürlich bin ich mir sicher. Ich wollte keinen falschen Ehrgeiz haben und schlage mich nun schon seit knapp acht Stunden entgegen all meiner körperlichen Kräfte durch. Kalte Finger wollte José nicht als Umkehrgrund gelten lassen. Ich solle meine Hände kräftig gegen meine Beine schlagen. Zirka 60 Prozent Neigung – eine Stunde – come on! Noch einmal schiebe ich mir das dickflüssige, süße Zeug in den Mund. 100 Höhenmeter vom Ziel entfernt. Wir werden heute die Letzten auf dem Gipfel sein, doch das Wetter ist ok, auch für einen späten Abstieg. Das geht nicht immer. Langsam schießt das Blut wieder in meine Finger, mein Körper fühlt sich zum Zerbersten an. Ich trabe behutsam an.

Kurz vor neun Uhr erreichen wir den Gipfel. Ich werfe mich auf den Boden. «Ich will schlafen, ich will schlafen, ich will schlafen!» Quito befindet sich im Schatten der Wolken, die sich langsam um die Berge geschoben haben. Die Aussicht ist nicht mehr optimal. Mein Körper fühlt sich noch weniger optimal an. Ich spüre nichts, gar nichts, während Lars neben mir Tränen in den Augen hat. Ich starre in die Wolkendecke unter mir. Kurz vor unserem Abstieg laufe ich noch ein paar Schritte auf dem Gipfel. Irgendwo da drüben ist der Chimborazo, und dort der… Ich sehe nichts. Auf dem Weg nach unten fällt mir ein, dass ich doch eine Caldera hätte sehen müssen. Ich frage Lars, wo die denn war. Irgendwo in den Wolken, beruhigt mich Lars. Was zuvor zähe Stunden gebraucht hat, geht nun ganz fix. Zwar schmerzen die Zehen, doch wir rutschen und laufen in Windeseile den Gletscher hinunter. Steile Hänge sind zu passieren und tiefe Gletscherspalten zu überqueren.

Drei Stunden später, als wir den Fuß des Gletschers erreichen, der ein beliebtes Ziel für Tagestouristen ist, jubeln uns die Menschen zu, als seien wir Helden. Ich laufe mit Eisaxt und Stock wie ferngesteuert durch die Gruppen von Ausflüglern und versuche mit letzter Kraft zu lächeln und die Fragen zu beantworten. Ob wir wirklich oben gewesen seien? Wie es da ist? Wir geben geduldig und völlig entkräftet lauter kleine Interviews, während wir im tranceartigen Stolpergang das letzte Schotterstück passieren. Und dann kommt uns eine Busladung der ecuadorianischen Armee hechelnd entgegen. Fast jeder zückt sein Handy, will ein Foto mit uns machen. Es ist eine irreale Szenerie, in die ich mich hineinmontiert fühle. Noch einmal drehe ich mich um und schaue zum Gipfel. Plötzlich kehren die Gefühle zurück. Da oben war ich vor drei Stunden – ein kleiner Punkt im Eis, dem es jetzt ganz warm ums Herz wird. Erschöpft sinke ich auf die Rückbank unseres Autos. Das war der körperlich anstrengendste Kampf meines Lebens, und ich habe ihn fast verschlafen!


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