Читать книгу Sammelband 7 Schicksalsromane: Von ihren Tränen wusste niemand und andere Romane - A. F. Morland - Страница 44
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„Ich bin neugierig, wie Marina mein Ständchen gefällt“, sagte Gabriel Keller.
„Meinst du, dass sie es schon hat?“, fragte sein Bruder.
Gabriel schmunzelte. „Die Post wird in unserem Land nicht von Schnecken befördert.“
„Manchmal habe ich diesen Eindruck aber schon“, erwiderte Jochen Keller. Sie befanden sich im Lagerraum und stapelten leere Holzkisten aufeinander.
„Wie geht’s deiner Hand?“, erkundigte sich Gabriel.
Jochen hatte sich gestern an einem rostigen Nagel verletzt. Seine Hand war oberflächlich verbunden. Er zuckte mit den Schultern. „Man kümmert sich am besten nicht um sie“, meinte er.
„Darf ich mal sehen?“, fragte Gabriel.
„Wozu?“
„Nun zeig schon her“, verlangte Gabriel. Er griff nach Jochens Handgelenk und nahm den Verband ab. Die vier Zentimeter lange Wunde war stark gerötet und nässte, der Handrücken war geschwollen. „Das sieht aber gar nicht schön aus“, bemerkte Gabriel.
„Das haben Verletzungen so an sich“, sagte Jochen gleichgültig. Er hatte noch nie viel Aufhebens gemacht, wenn er sich weh getan hatte. „Das wird schon wieder. Ich habe ein gutes Heilfleisch.“
„Damit solltest du zum Arzt gehen“, meinte Gabriel.
„Ach was!“
„Willst du eine Blutvergiftung riskieren?“
Jochen grinste. „Ich bin gegen so ziemlich alles, was man kriegen kann, geimpft.“
Gabriel schüttelte energisch den Kopf. „Nichts da, wir gehen zum Arzt.“
Zwanzig Minuten später betraten die Brüder Dr. Kaysers Grünwalder Arztpraxis. Schwester Gudrun war kurz weggegangen. Marie Luise Flanitzer nahm Jochen und Gabriel in Empfang. Die attraktive Arzthelferin sah sich Jochens Hand an.
Er spielte den Helden, machte auf John Wayne, sagte: „Ist bloß ein Kratzer. Normalerweise gehe ich mit so etwas nicht zum Arzt, aber nun bin ich froh, dass mein Bruder mich dazu überredet hat ... Wissen Sie, dass Sie wunderschöne Augen haben, Schwester?“
Die junge Sprechstundenhilfe schmunzelte. „Ja, das sagt mein Mann auch jeden Tag.“
„Ihr Mann.“ Jochen nickte enttäuscht. „Aha.“
Es befand sich nur ein Patient im Wartezimmer, und nachdem Sven Kayser den abgefertigt hatte, kam Jochen Keller dran. Gabriel durfte seinen Bruder ins Sprechzimmer des Arztes begleiten. Dr. Kayser begrüßte die beiden jungen Männer freundlich und untersuchte anschließend Jochens Hand.
Während er sich erzählen ließ, wie es zu dieser Verletzung gekommen war, reinigte und desinfizierte er die Wunde, bestrich sie mit einer weißen, angenehm riechenden Heilsalbe, legte einen ordentlichen Verband an und verschrieb ein entzündungshemmendes Medikament.
Dr. Kayser fragte sich, ob Gabriel ahnte, welches unvernünftige Ziel Renate Albrecht vor Augen hatte. Sollte er mit ihm darüber reden? Sollte er sich zu seinem Komplizen machen? Sollte er ihm seine Hilfe anbieten - für den Fall, dass Frau Albrecht zu rücksichtslos gegen die innige Liebe der beiden jungen Leute vorging? Oder war es besser, erst mal abzuwarten und erst dann einzugreifen und sich auf Marinas und Gabriels Seite zu stellen, wenn sie gegen die dogmatische Mutter allein nicht mehr zurechtkamen?
„Danke für die Hilfe, Herr Doktor“, sagte Gabriel Keller.
Sven sah Jochen an. „Sie sollten Ihre Hand für den Rest der Woche schonen.“
Jochen feixte. „Ich hab ja noch meine Linke.“
„Und nächste Woche sehen wir einander wieder“, sagte der Grünwalder Arzt.
„Muss das sein, Herr Doktor?“ Jochen seufzte. „Wir haben einen Gemüseladen.“
Gabriel legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. „Ich werde dich würdevoll vertreten, solange du weg bist.“ Er grinste. „Hast du noch eine Ausrede? Nein? Dann können wir ja gehen. Auf Wiedersehen, Herr Doktor.“