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Chefarzt Dr. Härtling kehrte nach dem Mittagessen in die Paracelsus-Klinik zurück. Moni Wolfram, seine tüchtige Sekretärin, brachte ihm eine Tasse Kaffee und während er diesen trank, studierte er die Befunde, die auf seinem Schreibtisch lagen.

Ein Patient litt an der Bechterewschen Krankheit, also an einer chronisch fortschreitenden Wirbelsäulenversteifung und brauchte dringend Hilfe. Die verschleppte Blasenschwäche einer Patientin musste dringend behandelt werden. Einem Kellner machte sein Fersensporn so schwer zu schaffen, dass eine Operation unumgänglich war...

Nachdem der Chefarzt der Paracelsus-Klinik sämtliche Untersuchungsergebnisse durchgesehen und den Kaffee getrunken hatte, verließ er sein Büro. Auf dem Flur kam ihm Schwester Annegret entgegen.

Die grauhaarige Pflegerin war eine Institution. Seit mehr als vierzig Jahren im Dauereinsatz gegen Leiden aller Art sowohl seelischen als auch organischen Ursprungs. Sie hatte gerade nach einem der Patienten gesehen.

„Wie geht es Herrn Rottmann?“, erkundigte Dr. Härtling sich.

Annegret lächelte. „Ich bin kein Mediziner...“

„Kommen Sie, Annchen, Sie haben mehr Berufserfahrung als ich oder irgendein anderer Mediziner in diesem Haus“, sagte Sören Härtling.

„Also, wenn Sie meine Meinung hören wollen, ich denke, Herr Rottmann wird langsam wieder.“ „Konnten Sie ihn ein wenig aufmuntern?“

Schwester Annegret seufzte. „Ich hab’s versucht, aber er wollte nicht so recht auf das, was ich sagte, eingehen.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Er traut uns noch immer nicht so ganz.“

„Glaubt er wirklich, dass wir ihm etwas sehr Schlimmes verheimlichen?“

Die Pflegerin nickte. „Scheint so.“ „Nun, vielleicht glaubt er mir mehr als Ihnen“, meinte Sören Härtling und betrat Augenblicke später das Krankenzimmer, in dem Armin Rottmann lag. Der Patient hatte merklich abgenommen. Er war blass und seine Wangen waren tief eingesunken. Er wirkte schwach und deprimiert. Armin Rottmann war mit einer schweren Magenblutung in die Paracelsus-Klinik eingeliefert worden. Sein Bruder Jochen hatte ihn hierher gebracht.

Jochen Rottmann war mit Laura Wieland, einer Stammpatientin des Klinikchefs, verlobt. Den Brüdern gehörte ein Heimwerkerzentrum mit bestem Sortiment in einer der großen Satellitenstädte Münchens.

„Na, Herr Rottmann, wie geht es Ihnen heute?“, erkundigte Dr. Härtling sich freundlich.

„Eben erst war Schwester Annegret hier“, gab Armin Rottmann, der am Tropf hing, mit kraftloser Stimme zurück.

Sören Härtling lächelte. „Damit keiner sagen kann, wir kümmern uns nicht um unsere Patienten. Sie haben auf Schwester Annegret übrigens einen sehr guten Eindruck gemacht.“ „Tatsächlich?“ Es klang nicht so, als ob der Mann das glauben würde.

„Sie ist davon überzeugt, dass Sie über dem Berg sind“, sagte Dr. Härtling.

Rottmann zog die Nase kraus. „Sie ist doch nur eine Krankenschwester.“ Der Klinikchef hob die Hand. „Sagen Sie das nicht so abfällig.“

„Ich will Schwester Annegret in keiner Weise abwerten“, versicherte der Patient, der davon überzeugt war, dass er kränker war, als das Personal der Paracelsus-Klinik ihm zu sagen bereit war. „Sie ist bestimmt eine sehr tüchtige Pflegerin, aber...“

„Sie ist die beste Pflegerin, die je in diesem Haus gearbeitet hat“, erwiderte Dr. Härtling.

„Aber sie kann kein abgeschlossenes Medizinstudium vorweisen, ist keine Ärztin.“

„In den mehr als vierzig Jahren ihrer Tätigkeit an der Paracelsus-Klinik ist ihr mehr untergekommen als so manchem jungen Doktor, deshalb kann man sich auf ihr Urteil verlassen“, sagte Sören Härtling bestimmt. „Es wäre ein großer Fehler, Schwester Annegrets medizinisches Wissen und ihre fachliche Kompetenz anzuzweifeln oder gar in Frage zu stellen.“ „Ich nehme an, sie erfüllt ihre Pflicht, wenn sie von Zimmer zu Zimmer geht und überall versucht, Optimismus zu verbreiten, aber das verfängt bei mir nicht.“ Armin Rottmanns Miene wirkte grimmig und verschlossen.

„Und warum nicht?“ Dr. Härtling behielt die Ruhe, auch wenn es ihm nicht ganz leicht fiel.

„Weil ich weiß, wie es wirklich um mich steht.“

„Woher wissen Sie das?“, fragte der Chefarzt ruhig.

„Ich fühle es.“

„Was fühlen Sie?“, wollte Dr. Härtling wissen.

„Dass ich alles andere denn über dem Berg bin, wie jedermann mir weismachen möchte.“

„Sie sind schwach“, sagte Dr. Härtling. „Sie haben Blut verloren. Und Gewicht. Sie hatten Schmerzen, haben wenig geschlafen. Das hat Sie mürbe gemacht.“

„Es hat mir die Augen geöffnet und mich erkennen lassen, wo ich gesundheitlich stehe. Warum hat keiner in diesem Haus die Courage, mir die Wahrheit zu sagen?“

„Sie bekommen pausenlos die Wahrheit zu hören“, entgegnete der Chefarzt, „aber es ist anscheinend nicht das, was Sie hören möchten.“

„Ich bin mit einer schweren Magenblutung in die Paracelsus-Klinik gekommen“, sagte der Patient matt. „Ich habe Blut erbrochen, das aussah wie Kaffeesatz. Und ich hatte einen Teerstuhl. Einer Ihrer Ärzte wollte mir einreden, meinem Leiden liege eine akute Magenschleimhauterkrankung zugrunde. Ein anderer Arzt sprach von einem aufgeplatzten Magengeschwür. Ich aber sage, es ist Krebs, und zwar soweit fortgeschritten, dass niemand mehr bereit ist, mich zu operieren, weil es ohnedies keinen Zweck mehr hat.“ Seine schmalen Lippen zuckten. „Man hat mich aufgegeben, speist mich mit schönen Worten ab und wartet auf das Ende.“ Das klang bitter, aber auch völlig verzweifelt.

„Sie sagten vorhin, Schwester Annegret wäre keine Ärztin“, sagte Sören Härtling, um einen sachlichen, emotionslosen Ton bemüht. „Haben Sie Medizin studiert?“

„Ich habe eine dreijährige Tischlerlehre absolviert“, antwortete der Patient.

„Sind Sie sicher, sich mit dieser Ausbildung eine zuverlässige Selbstdiagnose Zutrauen zu dürfen, Herr Rottmann?“, fragte der Klinikchef nüchtern.

Armin Rottmann zog die Augenbrauen zusammen und erwiderte dunkel: „Der Mensch spürt, wenn es mit ihm zu Ende geht, Dr. Härtling.“

„Manchmal irrt sich der Mensch.“ Der Klinikchef schob die Hände in seine Kitteltaschen. „Herr Rottmann, wir haben Sie so gründlich wie nur irgend möglich untersucht. Röntgen,

Gastrotest, Gastroskopie. Wir wissen haargenau, wie es in Ihnen aussieht, haben uns sehr genau in Ihrem Magen umgesehen und ein Ulcus ventriculi entdeckt, ein Magengeschwür, das nicht operiert zu werden braucht. Sie bekommen von uns sogenannte H2Blocker, das sind gut wirksame Medikamente, die die Säurebildung hemmen und wenn Sie sich das Rauchen abgewöhnen und scharfe Gewürze, heiße Speisen, Alkohol und Bohnenkaffee weitgehend meiden, kann ich Ihnen ein langes, beschwerdefreies Leben garantieren.“

Armin Rottmann schien nicht glauben zu können, was er hörte. „Ist das wahr?“

„Warum sollte ich Sie belügen?“

„Weil die Lüge sehr oft bequemer ist als die Wahrheit.“

Sören Härtling erwiderte: „Ich gebe zu, es gibt Situationen, da überlege ich mir sehr genau, ob ich einem Patienten die volle Wahrheit zumuten darf oder nicht. Bei Ihnen ist das jedoch nicht der Fall.“

„Ich werde nicht sterben?“

„Irgendwann müssen wir alle sterben“, meinte Sören, „aber bis dahin haben Sie noch sehr viel Zeit, Herr Rottmann.“ Er lächelte. „Sind Sie jetzt sehr enttäuscht?“

Der Patient schloss die Augen und schluckte mehrmals. Als er den Klinikchef wieder ansah, glänzten seine Augen feucht. „Gott, was müssen Sie nur von mir halten, Dr. Härtling?“

Sören lächelte aufmunternd. „Machen Sie sich darüber keine Gedanken.“

„Als ich mich übergab... Als Blut kam... Da war ich so geschockt...“

„Ich kann Sie verstehen, Herr Rottmann.“

„Da da stand für mich fest, dass ich nicht mehr lange zu leben habe.“ „Sie machten daraufhin sämtliche Schotten dicht, ließen niemanden mehr an sich heran und hörten nicht mehr zu, wenn wir etwas sagten.“ „Ich hatte meine vorgefasste Meinung und hielt alles andere für unwahr“, übte der Patient verlegen Selbstkritik.

Dr. Härtling lächelte unbekümmert. „Ich kann damit leben.“

„Es tut mir leid, Ihnen und Ihren Mitarbeitern Unrecht getan zu haben“, sagte Armin Rottmann reumütig.

Dr. Härtling legte dem Mann die Hand versöhnlich auf die Schulter. „Ich schlage vor, wir vergessen das Ganze und Sie glauben nun wie wir, dass Sie bald wieder gesund sein werden.“

Dein Kuss schmeckt nach Tränen, schöne Laura

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