Читать книгу Geheimnis Schiva - A. Kaiden - Страница 8
ОглавлениеKapitel 3: Samstag, 8:00 Uhr
Am nächsten Tag kehrte Lara um acht Uhr nach Schiva zurück. Daheim spitzte sich die Lage, wie ihr schien, immer mehr zu. Vielleicht sollte sie von zu Hause ausziehen, allerdings hatte sie kein Geld, da sie noch zur Schule ging. Doch sie nahm sich vor, spätestens wenn sie eine Ausbildung gefunden hatte, ihr Elternhaus zu verlassen. Unbedingt.
„Stan hat ja so viel um die Ohren“ oder „er ist in einem schwierigem Alter“, „zum Streit gehören immer zwei“, waren die typischen Antworten ihrer Mutter, wenn Lara zu ihr kam und erzählte, dass sie das nicht mehr aushalten würde. Es war immer dasselbe. So auch gestern Abend. Warum musste sie sich das immer gefallen lassen? Das war doch einfach nur ungerecht! Warum durfte sie nichts und ihr Bruder hatte bei allem Narrenfreiheit? Bestimmt hatte sie etwas in ihrem früheren Leben verbrochen und musste jetzt dafür büßen –die Nachwehen von schlechten Taten aus einem vorherigen Leben.
Als sie nun ankam, war alles im Wirtshaus still und verlassen. Suchend blickte sie sich um, doch weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.
„Hallo? Lucie? Amboss? Ich bin es. Seid ihr da?“
Jedoch bekam Lara keine Antwort. Sollte sie warten, bis sie kamen? Vielleicht waren sie nur kurz aus dem Haus und würden jede Sekunde zurückkommen. Was aber, falls nicht?
„Sie werden bestimmt gleich kommen“, murmelte Lara leise vor sich hin wie ein trotziges, kleines Kind. Ihr war unwohl zumute. Sie war nicht gerne allein, denn das war sie ohnehin meistens. Sie hatte keine Freundinnen, nicht mal gute Kameraden, keinen Freund, einfach niemanden. Das Einzige, was sie hatte, war ihr jüngerer Bruder Stan, der es sich zum Hobby gemacht hatte, sie zu quälen. In Gedanken versunken ging Lara auf die Bühne zu. Es musste ein tolles Gefühl sein, auf der Bühne zu stehen, zu singen und von unzähligen Leuten bewundert zu werden. Sie musste einfach auf die Bühne steigen, es zog sie geradezu magisch an. Sie schaute sich vorher noch einmal kurz um, doch sie war noch immer allein. Vorsichtig kletterte Lara auf die Bühne und fluchte leise vor sich hin, als sie prompt in einen kleinen Splitter trat. Als sie nun so auf der Bühne stand und herunterblickte auf die leeren Tische und Stühle, durchzog ein berauschendes Prickeln ihren Körper. Schnell schloss sie ihre Augen und stellte sich vor, wie sich der Raum langsam füllte, wie immer mehr Menschen in das Gasthaus strömten, um sich die letzten freien Plätze zu ergattern und um sie zu sehen. Sie, Lara, die sonst nicht beachtet wurde. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Es war ein tolles Gefühl, auf der Bühne zu stehen, und langsam, ohne dass sie es selbst bemerkte, fing sie an ihr Lieblingslied „It’s a Heartache“ von Bonnie Tylor zu singen. Alles um sie herum war vergessen. Es zählte nur der Moment. Sie ließ sich einfach von den Wogen des Glücks und ihrer Fantasie treiben. Auch ihre brennenden Augen vermochten sie nicht aufzuhalten.
Als sie den Song zu Ende gesungen hatte und sich die Tränen mit dem Ärmel ihres roten Pullis abwischte, vernahm sie ein lautes Klatschen. Erschrocken schlug Lara die Augen auf. An einem der hinteren Tische saß Amboss, der jetzt aufstand und auf sie zu schlenderte.
„Mädchen, das war wirklich klasse! Du hast echt Talent. Eine Engelsstimme, wirklich wie von einem Engel! Sagenhaft.“
Er reichte Lara seine große Hand und half ihr von der Bühne herunter. Lara lächelte verlegen. Es war ihr etwas peinlich, dass jemand sie so gesehen hatte, voller Gefühl, voller Emotionen – die richtige Lara, die die sich eigentlich nie traute, anderen zu offenbaren. Sie mochte das Gefühl nicht. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken.
„Als ich reinkam, hörte ich deine Stimme. Du singst so – wie soll ich es ausdrücken? Mit ganzem Herzen! Genau, das ist es! Du singst mit ganzem Herzen, bist voll dabei.“
Amboss sah sie begeistert und bewundernd zugleich an. Lara errötete sichtlich unter seinem Blick. Er schien es tatsächlich ernst zu meinen. Er fand sie wirklich gut! Das war eine ganz neue Situation für sie – aber es war irgendwie schön. Sie schluckte.
„Was ist los?“, fragte der Wirt erstaunt, als er ihre Reaktion bemerkte.
„Ich meine das wirklich ernst! Ein Amboss lügt niemals! Das kannst du mir glauben!“, versicherte er ihr eilig und fuchtelte dabei mit seinen großen Händen in der Luft herum wie ein Betrunkener, der seinen Halt verlor. Sie musste leicht grinsen.
„Nein, es ist nur“, begann Lara zögernd zu sprechen, „das hat mir bisher noch niemand gesagt. Ich bin …“
„Was?! Das hat dir noch niemand gesagt?!“, unterbrach der Wirt sie und Empörung klang in seiner Stimme mit. „Was ist mit deiner Familie? Die hat dich doch bestimmt schon singen gehört.“
Lara nickte kurz und blickte, immer noch verlegen von der Begeisterung des Mannes, zu Boden. Sie war sichtlich verwirrt.
„Dafür interessiert sich niemand daheim. Aber das ist nicht so schlimm.“
Der Wirt sah sie durchdringend an und schüttelte nachdenklich seinen Kopf.
„Du kannst mit mir über alles reden, das weißt du ja. Ganz gleich, was es ist, und sag nicht, dass es dir egal ist oder nicht so schlimm. Das kaufe ich dir nicht ab.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Amboss seinen Arm um Laras schmale Schulter und schob sie zum Tresen.
„Nun setz dich mal und erzähl mir, was dir so durch den Kopf geht.“
Auffordernd nickte er ihr zu. Nur einen Augenblick zögerte die Jugendliche, doch dann sah sie ein, dass er recht hatte. Sie musste mit jemanden über ihre Sorgen reden. Deshalb fing sie stockend an zu erzählen, wie die Lage bei ihr zu Hause aussah. Schon nach kurzer Zeit sprudelte einfach alles aus ihr heraus. Sie selbst hatte nicht geahnt, dass so viel so schwer auf ihr lastete. Es tat richtig gut, endlich alles auszusprechen. Es war ein Gefühl der Befreiung, einer Befreiung aus all den Ungerechtigkeiten, aus all ihrer Trauer und ihrer nicht enden wollenden Einsamkeit. Und als sie nun von ihrem Problem, Freunde zu finden, berichtete, stand plötzlich Lucie an der Eingangstür.
„Hey, Kleines, du bist nicht allein – du hast doch uns!“
Lächelnd ging sie auf Lara zu und begrüßte sie mit einer herzlichen Umarmung. „Dass du keine Freunde hast, will ich also nicht mehr hören! Ach, Amboss, bewege mal deinen fetten Hintern in den Keller und hol die Getränke herauf! Das macht sich nicht von allein. Zackig, Dicker.“
Die Augen verdrehend richtete sich der Wirt auf und schnaufte.
„Sag mal, warum machst du jetzt schon wieder so ne Hektik? Es ist doch erst zwölf Uhr vorbei“, raunte er Lucie an, als er kurz auf seine Armbanduhr blickte.
„Weil du immer alles bis zum letzten Drücker aufschiebst!“
„Wenn man noch Zeit hat, muss nicht alles sofort passieren.“
„Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“
„Ja ja, jetzt kommste wieder mit den Sprichwörtern. Wie ich das hasse“, gab sich Amboss schließlich geschlagen und stapfte missmutig in den Keller, jedoch nicht ohne dabei seiner Unzufriedenheit lautstark in Worten Ausdruck zu verleihen. Lara beobachtete diese Szene amüsiert. So ging es bei ihr daheim nie zu. Wenn ihre Familie diskutierte, dann endete dies meist in Streit und alle waren so aggressiv. Hier wirkte es eher eingespielt und es hatte fast etwas Harmonisches. Ja, hier war wirklich alles anders. Es war einfach besser, irgendwie …
„Willst du was trinken?“
Sie wurde von Lucie aus ihren Gedanken gerissen.
„Nein, danke, Lucie.“
Die Rothaarige schüttelte besorgt ihren Kopf.
„Du solltest wirklich mehr trinken, das ist nicht gesund. Ich muss kurz noch etwas erledigen. Könntest du bitte die Stühle ordentlich an die Tische schieben? Sei so gut, denn der Dicke hält das ja nicht für nötig!“
Mit diesen Worten eilte Lucie gestresst die Treppen hinauf. Sie hielt jedoch noch mal inne, um sich Lara zuzuwenden.
„Sag mal, was war denn gestern mit dir los? Du warst auf einmal so blass.“
Lara, die angefangen hatte, die ersten Stühle an die Tische zu stellen, lief ein Schauer über den Rücken, als sie an den seltsamen jungen Mann denken musste. Seine schwarzen Augen brannten sich wieder schlagartig in ihr Gedächtnis. Die stille Warnung, die doch so deutlich gewesen war. Jedoch wollte sie das Lucie nicht sagen. Immerhin war sie sich nicht sicher, ob sie sich das Ganze nicht nur eingebildet hatte, denn er war ja spurlos verschwunden gewesen.
„Mir war nur plötzlich schlecht geworden. Keine Ahnung, warum. Tut mir leid.“
„Bist du dir sicher?“, hakte Lucie hartnäckig nach und ließ sie nicht aus den Augen. Lara schluckte. Sie wusste selbst nicht genau, warum, aber irgendetwas in ihr wollte es Lucie nicht erzählen. Lucie betrachtete Lara noch einen Moment misstrauisch, als wüsste sie, dass Lara sie angelogen hatte, nickte ihr dann aber zu und setzte ihren Weg fort.
*
Zwanzig nach zwölf war Lara wieder in ihrem Zimmer. Sie hatte im Wirtshaus gerade die letzten Stühle an die Tische geschoben, als sich wieder alles um sie herum langsam angefangen hatte zu drehen. Sie hatte versucht es aufzuhalten. Sie hatte noch nicht zurückgewollt. In diesem Moment war Amboss mit zwei großen Kisten voller Getränkeflaschen zurückgekommen. Alles eine Sache der Übung und Konzentration hatte er ihr zugerufen, als er Laras verzweifelte Versuche gesehen hatte. Doch es hatte nichts genutzt. Wenigstens hatte sie sich von ihm verabschieden und versprechen können, diesen Abend oder sogar schon am Nachmittag wiederzukommen. Der Grund für Laras Konzentrationsstörung lag darin, dass ihr Bruder unentwegt an ihre Zimmertür klopfte und grölte, dass es Mittagessen gäbe. Sie öffnete gezwungenermaßen ihre Zimmertür, die sie immer abschloss, um wenigstens ein bisschen ungestört sein zu können, und musste sich gleich darauf das Gerede und die Vorwürfe von Stan anhören. Er redete und redete, aber sie verstand nicht, was er sagte und worum es überhaupt ging. Sie versuchte es gar nicht. Wozu auch? Es war ihr einfach egal. Sollte er doch reden und meckern, soviel er wollte. In Gedanken war Lara in Schiva bei Amboss, dem sie sozusagen ihr Herz ausgeschüttet hatte. Ihr Leben hatte auf einmal wieder einen Sinn bekommen. Sie hatte Freunde gefunden, einen Ort, der für sie wie ein zweites, richtiges Zuhause war und ja – ein Geheimnis. Süß und unglaublich kostbar. Sie würde dieses Geheimnis für sich behalten. Nun hatte Lara endlich etwas, das ihr Bruder niemals haben oder ihr wegnehmen konnte. Bei diesem Gedanken fing sie an, zufrieden zu lächeln.
*
Wie gelähmt stand sie da. Schon seit einer Stunde. Doch sie konnte und wollte ihren Blick nicht von der Bühne abwenden, auf dem der Sänger ein trauriges Lied nach dem anderen sang. Alle seine Lieder handelten von unerfüllter Liebe und von der Sehnsucht nach der vollkommenen, einzig wahren Liebe. Lara hatte noch nie jemanden live so singen hören! Er sang so voller Gefühl, so voller Leidenschaft. Sie schätzte den Sänger auf etwa zwanzig Jahre. Seine äußere Erscheinung war verwegen und faszinierend anziehend. Das lag nicht nur an seinen durchlöcherten, dunkelblauen Jeans, seinem weißen, eng anliegenden, ärmellosen T-Shirt und seiner schwarzen, abgenutzten Weste mit eisernen Zacken an den Schultern. Vielleicht war es die Art, wie er das Mikro hielt oder wie ihm sein hellbraunes, fast schulterlanges Haar zart über sein Stirnband fiel, als er sich sanft beim Singen nach vorne beugte, um seine funkelnden Augen zu verbergen. Egal was es war, das Gesamtbild passte und der Gesang ging ihr durch Mark und Bein.
Lara klatschte begeistert am Schluss des Liedes mit den übrigen Gästen. an diesem Abend war das Gasthaus einigermaßen gut besucht. Der nächste Song handelte wie die vorherigen auch von unerfüllter Liebe. Nur schien es Lara, als wäre die Melodie noch trauriger, noch tief gehender, noch ergreifender als die vorherigen. Gerührt schloss sie die Augen und lauschte seiner fesselnden Stimme. So hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Ein warmer Schauer lief ihr über den Rücken. Der Kerl sang wundervoll, was man ihm beim ersten Anblick gar nicht zutraute. Zumindest nicht, dass er Liebeslieder so schön singen konnte. Denn sein Äußeres ließ eher darauf schließen, dass er ein Abenteurer, wenn nicht sogar ein Schlägertyp war. Mit einem Ohrring in Form eines Totenkopfes am rechten Ohr, seinem stoppeligen Bartansatz und seiner Kleidung erinnerte er Lara irgendwie an einen Piraten. Bei diesem kindischen Gedanken musste sie grinsen.
„Na, Ruben scheint dir ja wirklich zu gefallen“, flüsterte ihr Lucie ins Ohr, indem sie eine Hand auf Laras linke Schulter legte.
„W-was? Wer?“
Irritiert drehte sich das Mädchen zu der Kellnerin um, die dicht hinter ihr stand und sie breit angrinste.
„Na, Ruben! Der Süße auf der Bühne! Ich hab doch gesehen, wie du ihn eben lächelnd angesehen hast!“
Bei diesen Worten wurde Lara rot und ihre Wangen begannen verräterisch zu glühen.
„Ich … das ist nicht so wie, also – er singt wirklich gut. Und ich … ähm, das ist alles.“
„Ja ja, klar, du musst mir nichts erklären. Ich wünschte, ich wäre noch einmal so jung und verliebt. Das waren noch Zeiten, sag ich dir.“
Lucie lachte leise. Jetzt war Lara wirklich total verlegen. Der Typ konnte gut singen, das war klar. Das war aber auch alles. Sie hielt nichts von solchen Rowdys, auch wenn dieser wirklich süß aussah. Aber warum auf alles in der Welt wurde sie dann nur so rot?
„Er sieht etwas gefährlich aus“, sagte sie schnell, um von ihrer peinlichen Situation abzulenken. „Außerdem könnte er sich mal rasieren. Er ist überhaupt nicht mein Fall“, fügte sie schnell, vielleicht etwas zu schnell, hinzu. Erstaunt und verwundert starrte die Kellnerin Lara an. Dann lächelte sie wieder und meinte darauf:
„Stimmt, er sieht nicht gerade harmlos aus, ist er auch nicht. Man kann ihn und seine Gruppe als, na ja …“ Lucie zögerte kurz, dann aber fuhr sie fort, „als eine aufgeweckte, nach Abenteuer suchende Gesellschaft einstufen. Aber gefährlich – nein, wirklich nicht!“
Lucie schüttelte lachend ihren Kopf.
„Wir, das heißt Amboss und ich, kennen ihn und seine Kumpels schon ziemlich lange. Manchmal kommen sie in unser Gasthaus, wenn nichts los ist oder sie einfach Bock darauf haben. Er ist echt in Ordnung, Kleines! Kommst du mit zur Bar? Ich hol dir was zu trinken.“
Bevor Lara etwas darauf antworten konnte, drehte sich die Rothaarige schon um und war auf dem Weg zum Tresen, hinter dem Amboss stand und gelangweilt herumhantierte. Ohne Gegenwehr folgte sie Lucie und ließ sich auf einen der hinteren Barhocker nieder. Amboss sah auf und nickte ihr, erfreut sie zu sehen, zu.
„Na, wie?“
„Gut“, sie deutete mit kurzen Blicken auf die Bühne. „Er singt wirklich spitze!“
„Ja, irgendetwas muss dieser Herumtreiber ja können!“, lachte Amboss angeheitert.
„Willst du eine Cola oder was anderes?“, fragte Lucie und stupste den Wirt auffordernd an, da es ihr anscheinend wieder zu lang dauerte.
„Ja, eine Cola wäre super, danke.“
„Kommt sofort, Kleines!“
Mit diesen Worten schob die Frau Amboss beiseite und goss ihr ein Glas ein. Der Wirt wollte sich gerade bei der Kellnerin beschweren, sah dann jedoch ein, dass dies keinen Sinn hätte und wandte sich deswegen wieder an Lara, die den Blick wieder zur besetzten Bühne gleiten ließ.
„Wie sieht es aus, willst du auch?“
„Ich weiß nicht …“ Sie zögerte. Meinte er es ernst? Sie hatte noch nie vor einem Publikum gesungen. Zwar träumte sie immer davon, aber das war doch irgendwie etwas anderes. So gut war sie wirklich nicht.
„Was denn? Du wirst doch nicht Angst haben? Du kannst super singen, Engelchen! Besser als dieser Taugenichts bist du allemal – au!“
Empört stierte er Lucie an, die ihm gerade eine Kopfnuss verpasst hatte.
„Jetzt mach Ruben doch nicht so runter, du eifersüchtiger, dicker Dorfkloß! Wenn hier jemand nicht viel taugt, dann bist das ja wohl du!“
Sie reichte Lara das volle Glas und diese nahm es dankbar an.
„Aber in einem hat er allerdings recht, Kleines. Du singst sehr gut und solltest es wirklich versuchen. Bereuen wirst du es sicher nicht.“
„Ein andermal vielleicht“, versprach sie. „Ich wüsste eh nicht, welches Lied ich jetzt spontan singen sollte“, gab sie ehrlich zu.
„Das rennt dir ja nicht weg“, antwortete Amboss darauf, „ich freue mich schon auf diesen Tag, an dem du auf dieser Bühne stehst und uns mit deiner Stimme verzauberst!“
Lächelnd und abermals etwas verlegen nippte Lara an ihrer Cola. Hoffentlich wurde sie nicht wieder rot. Das war eine Eigenschaft, die sie an sich mehr als nur hasste.
„Ich fülle die Eiswürfel nach. Du vergisst das ja andauernd!“, wandte sich Lucie anklagend an Amboss. „Wenn dein Kopf nicht angewachsen wäre, Dicker, dann …“
„Bla bla bla, ich weiß!“, unterbrach der Wirt Lucie genervt. „Pass du lieber auf, du Meckerziege, sonst gebe ich dir mal Dicker!“
„Immer das Gleiche mit diesem Fettkloß“, maulte Lucie, „der wird sich wohl nie ändern!“ Als sie hinter der Tür verschwand, erkundigte sich Amboss, wie der momentane Stand bei Lara daheim war. Sie fing gerade an zu berichten, da hob einer der Gäste, ein stämmiger Mann Mitte dreißig, die Hand und winkte den dicklichen Wirt zu sich her.
Lara ließ ihre Augen wieder zur Bühne schweifen. Ruben war gerade dabei, diese zu verlassen. Unten kamen ein paar Gäste auf ihn zu, reichten ihm die Hände und fingen fröhlich an zu erzählen. Es schien ihr, als kannten die Leute sich alle untereinander, den Sänger eingeschlossen. Nach einer Weile bemerkte Ruben, dass sie unentwegt zu ihnen herüberstarrte. Er verabschiedete sich daraufhin knapp und kam, wölfisch grinsend, auf sie zu. Lara schaute schnell auf ihr halb volles Glas. Verdammt. Was hatte sie jetzt schon wieder angestellt? Wieso hatte sie ihn nur so offensichtlich angaffen müssen? Jetzt dachte der doch bestimmt, dass er Chancen hatte. Ihr war es peinlich, dass sie die ganze Zeit zu der Gruppe hinübergesehen hatte und dabei auch noch erwischt worden war. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Schmunzelnd blieb der Sänger vor ihr stehen und seine Augen funkelten sie belustigt an.
„Macht es dir was aus, wenn ich mich zu dir setze?“
„Nein, natürlich nicht“, nuschelte Lara und vermied es, ihm in die Augen zu sehen. Sie war so ein Idiot.
„Dir gefällt meine Musik. Ich hab gesehen, wie du rübergesehen und zugehört hast.“
Lara sah eine Zeit lang verträumt lächelnd auf ihr Glas, bevor sie keck zurückgab:
„Woher willst du das überhaupt wissen? Du hattest doch die ganze Zeit über beim Singen deine Augen geschlossen!“
„Oh, eine Frau, die denkt! Das gefällt mir!“
„Ach ja?“
Lara blickte ihn etwas misstrauisch an. Er war tatsächlich so arrogant, wie sie ihn eingeschätzt hatte.
„Also hast du nur geraten, dass mir deine Songs gefallen haben. Gewusst hast du’s nicht.“
Ruben sah sie immer noch amüsiert an, als wäre sie ein besonders dämliches Kind.
„Tja, da muss ich dich nun leider enttäuschen. Ich hab deine Blicke gespürt. So was merkt man einfach.“
Sie zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. Was war das jetzt für eine Masche?
„So etwas hab ich jetzt auch noch nicht gehört“, antwortete sie darauf gelassen und nippte weiter an ihrer kalten Cola.
„Glaubst du mir etwa nicht, Süße?“
Sie sah ihn empört an und die Wut stieg in ihr auf. Was bildete der sich eigentlich ein? Dieses dumme Geschwätz solcher Typen, die alle Mädchen Süße und Schatzi nannten – ekelhaft. Der war auch nicht besser.
„Nenn mich nicht so, okay?“
Ruben grinste ihr provozierend und siegessicher zu. Bei diesem Blick wurde Lara zusehends nervös. Sie blickte sich hastig nach Amboss und Lucie um, doch sie fand die beiden nicht. Ruben, der etwa ein Kopf größer war als sie, bemerkte ihre Hilfe suchenden Blicke.
„Hey, ganz easy! Ich wollte dir keine Angst einjagen!“
„Ich habe keine Angst vor dir“, gab sie frustriert zurück und biss sich leicht auf die Unterlippe. „Ich kann es bloß nicht ausstehen, wenn man mich Süße nennt.“
„Soso! Dann kannst du mir ja mal deinen richtigen Namen verraten, damit ich dich nicht mehr so nennen muss.“
Ein wenig erleichtert und schon viel selbstsicherer schaute sie ihn an. Warum war sie so unsicher und nervös? Vor was hatte sie eigentlich Angst? Irgendwie war dieses Gespräch doch ganz amüsant. Was der konnte, konnte sie doch schon lange!
„Ich heiße Lara.“
„Komischer Name.“
„Ach ja? Ruben hört sich aber auch nicht gerade so cool an. Eher altmodisch! Hat dir bestimmt deine Urgroßmutter ausgesucht, den Namen.“
Nun fing er an zu lachen. Ein ehrliches, amüsiertes Lachen. Sie mochte das.
„Nicht übel! Wirklich nicht schlecht für ein Mädchen!“
Lara grinste zurück. Die Entspannung hielt wieder Einzug in ihren Körper.
„Wie oft warst du schon in Schiva?“
„Noch nicht so oft“, gestand sie. „Ich bin erst vor zwei Tagen hier – ähm …“
„Schon gut. Warst du schon mal draußen? Außerhalb der Kneipe, meine ich.“
Ertappt starrte sie auf ihr nun leeres Glas. Wie oft musste sie sich diesen Abend noch schämen? War wohl nicht ihr Tag heute.
„Also, dann wird es aber Zeit!“
Ruckartig stand Ruben auf, griff nach ihrem Handgelenk und zog sie mit sich zur Ausgangstür. Sie wollte zuerst etwas erwidern, überlegte es sich dann aber doch anders. Immerhin hatte er recht. Sie hatte bisher noch nichts gesehen.
Als er die Tür öffnete und beide hinaustraten, wurden sie von kühler Nachtluft umhüllt. Am Himmel standen tausend leuchtende Sterne, die ihnen begrüßend entgegenstrahlten. Es war ein schöner Anblick, der sich Lara bot, und sie genoss ihn.
„Und?“
Er blickte sie fragend an.
„Was und? Ich kann nichts von der Umgebung erkennen. Dafür ist es viel zu dunkel.“
Über den Sternenhimmel, der ihr besonders gefiel, sprach sie absichtlich kein Wort. Das würde in den Ohren eines Jungen sicher völlig sentimental und sehr albern, wenn nicht gar kitschig klingen.
„Da soll doch einer die Frauen verstehen!“
Im fahlen Licht der Laterne, die neben dem Gasthaus stand, sah Lara, wie sich sein Mund zu einem breiten Grinsen formte.
„Ich dachte immer, Frauen lieben sternklare Nächte und so was. Findest du das etwa nicht romantisch?“
Lara blickte ihm nun direkt in seine Augen.
„Vielleicht …“, murmelte sie und lächelte geschlagen.
„Du willst mich reizen, hä?“, erwiderte Ruben scherzhaft.
„Vielleicht …“
Jetzt mussten beide lachen und während sie noch eine Stunde lang so dastanden, miteinander scherzten und versuchten, sich gegenseitig zu übertreffen, leerte sich das Wirtshaus immer mehr.
„Hey ihr zwei! Hab euch schon gesucht! Die heutige Jugend, typisch!“
Amboss kam schwerfällig herangestapft. Er sah Ruben misstrauisch an.
„Bewege dich mal rein, Lucie muss noch was mit dir besprechen!“
„Alles klar, Meister.“
Ein letztes Mal drehte sich der Sänger zu Lara um.
„Tja, ich muss dann. Man sieht sich.“
„Und wann?“, hakte sie schnell nach.
„Dann, wenn du wieder in Schiva bist.“
„Aber wie willst du das denn wissen?“
„Ich hab ein Gespür für so was“, antwortete er bestimmt, zwinkerte ihr nochmals zu und ging durch die Tür in das Wirtshaus hinein.
„Hat er dich belästigt, dieser Herumtreiber? Zu nichts nutze, sage ich immer!“
Der Wirt schüttelte genervt seinen Kopf.
„Nein“, lachte Lara erheitert, „wir haben nur geredet – mehr nicht.“
„Also dann“, murmelte Amboss mürrisch vor sich hin. „Aber wenn doch mal was sein sollte, du weißt ja!“
Sie nickte dankbar. Anscheinend hatte sie sich tatsächlich in dem Wirt anfangs geirrt. Sie hätte nicht gedacht, dass er ihr so sympathisch werden würde. Dass er sich um sie Sorgen machte, ließ sie warm ums Herz werden. Mit einem kurzen, aber herzlichen Händeschütteln verabschiedeten sie sich.
Es war ein Uhr nachts, als sie sich in ihrem Zimmer wiederfand. Sie zog sich um und legte sich glücklich und zufrieden in ihr kuschelweiches Bett. Erst jetzt bemerkte Lara, wie müde sie war. Und während sie noch so dalag und der Schlaf sie langsam, aber sicher überfiel, dachte sie immer wieder: Er hat grüne Augen – dunkelgrüne Augen.