Читать книгу Die Geschichte von Ulrich, der bei Ikea einzog und das Glück fand - A. S. Dowidat - Страница 4
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Ulrich ahnte, dass es so ausgehen würde wie immer: Wieder würde er sich den äußeren Verhältnissen fügen. Mit hängenden Schultern saß er vor dem Schreibtisch des Arbeitsvermittlers und beobachtete eine kleine Fliege, die auf dem Rand des Computermonitors herumlief. Dann hob sie ab, schwirrte noch einen Moment im Zimmer umher und entschwand durch das gekippte Fenster in die Freiheit.
Eben hatte der Arbeitsvermittler Ulrich freundlich, aber bestimmt darauf hingewiesen, dass er nach der Kündigung viel früher und nicht erst nach Monaten der Untätigkeit zum Amt hätte kommen müssen, nun würde sein Arbeitslosengeld gekürzt werden. Ulrich protestierte nicht, sondern nickte nur stumm, als sei er mit allem einverstanden, was das Amt mit ihm vorhaben könnte. Der Mitarbeiter des Amtes fragte Ulrich, in welchem Bereich er eine neue Stelle suche. Ulrich traute sich nicht zu sagen, dass er sich eigentlich gar keine Stelle, sondern nach dem Tod seiner Eltern endlich ein ganz neues Leben wünschte, daher antwortete er nur, dass er da ganz offen sei.
Damit hatte er offenbar das Richtige gesagt, der Arbeitsvermittler schien erleichtert, dass sein Gegenüber keine großen Ansprüche stellte. Kurz blickte er auf seinen Computerbildschirm und teilte Ulrich dann mit, dass er im kaufmännischen Bereich auch mit Mitte vierzig noch gut vermittelbar sei.
Ulrich wollte alles andere als irgendwohin vermittelt werden, doch seine Situation schien ihm wie so oft unabänderlich. Da er nicht einmal genau wusste, wie ein neues Leben aussehen könnte, noch sich in der Lage zu tatkräftigen Entscheidungen sah, erklärte er sich stets mit allem einverstanden, was von ihm gefordert wurde. Als der Arbeitsvermittler Ulrich die Vereinbarung aushändigte, die seine Verpflichtung zur Stellensuche enthielt, unterschrieb er sie, ohne zu zögern.
Rasch nahm er seinen Rucksack und verließ das Amt; erst, als er an der frischen Luft war, fühlte Ulrich sich kurzzeitig wie ein Entkommener. Er blickte umher, doch die Fliege war nirgends zu entdecken. Nichts zog ihn in seine leere Wohnung zurück, in der niemand auf ihn wartete und in der ihn sofort das Gefühl überfallen würde, seinen Verpflichtungen dem Amt gegenüber nachkommen zu müssen.
So lief Ulrich durch die Straßen zur nächsten Bushaltestelle, um den Weg einzuschlagen, der ihm momentan als einziger Ausweg aus seiner Lage erschien: Nur noch im Möbelhaus konnte er seiner trostlosen Stimmung entgehen. Dort würde er in eine Welt voller geordneter Zuversicht und Glücksversprechen eintauchen und sich seinen Beobachtungen überlassen. Im Strom der anderen Besucher fühlte er sich seinen inneren Unverständlichkeiten weniger ausgeliefert, vielmehr konnte er im Möbelhaus an einer allgemeinen Stimmung von Aufbruchsbereitschaft und Lebenstüchtigkeit teilhaben.
Als er an einem Kind vorbeiging, das ihn mit großen Augen ansah, als wüsste es um seine inneren Verhältnisse, erinnerte sich Ulrich plötzlich wieder an den Traum, den er in der Nacht gehabt hatte. Er hatte vor der Warenausgabe des Möbelhauses gesessen und nach draußen geblickt.
In der Ferne hatte er das hoch aufragende blau-gelbe Firmenschild gesehen, das sein Licht in die Nacht hinausstrahlte. Der große Parkplatz vor dem Möbelhaus war bis auf ein einzelnes Auto in der Nähe des Eingangs leer gewesen.
Im Halbdunkel des Bistros hatte er gemeint, einzelne Schemen zu erkennen. Manche hatten an einem der Tische gestanden, andere waren im Bistro umhergegangen, als suchten sie nach einem freien Tisch oder nach etwas anderem. An einem der Tische hatte er einen kleinen Jungen entdeckt, der zu der Frau und dem Mann neben sich hinaufblickte. Der Junge reichte kaum an die Tischkante heran, und vergeblich hatte er sich bemüht, die Aufmerksamkeit seiner Eltern zu erregen.
Lange hatte er zu dem Jungen hingesehen. Er hatte aufstehen und zu ihm gehen wollen, sich jedoch nicht bewegen können. Neben sich fand er eine Taschenlampe; mit dem Lichtstrahl hatte er den Jungen, den Mann und die Frau umkreist. Endlich konnte er aufstehen, doch da war der Junge verschwunden, und auch sonst war niemand mehr zu erkennen gewesen.
Er war aufgestanden und hatte das leere Bistro durchquert, dann war er an den Kassen vorbei in die Selbstbedienungshalle des Möbelhauses gegangen, wo die Regale wie stumme Riesen in die Dunkelheit ragten. Der Lichtkegel der Taschenlampe lief vor ihm auf dem Boden.
Plötzlich hatte er weit hinten in der Halle ein zweites Licht gesehen. War dort noch jemand gewesen? Immer stärker hatte er das Gefühl gehabt, unbedingt dorthin gelangen zu müssen, wo er das Licht sah. Er war innerlich aufgewühlt und voller Freude gewesen. Doch als er weiter in die Selbstbedienungshalle gegangen war, war er aufgewacht.
Eine knappe Stunde später betrat Ulrich das Möbelhaus, das sich längst mit den Besuchern des neuen Tages gefüllt hatte. Auf der Rolltreppe fuhr er in den ersten Stock hinauf, ein junges Paar vor ihm schwenkte sogleich nach rechts in Richtung Restaurant, wo morgens ein günstiges Frühstück angeboten wurde. Ulrich bog nach links in die Möbelausstellung ab, wo einige Besucher bereits auf Sofas und Sesseln verweilten, um deren Bequemlichkeit zu testen, und an Küchentischen und Schreibtischen saßen, um deren Tauglichkeit für ihr Leben auf die Probe zu stellen. Ein Rentnerpaar lief durch die Wohnzimmerausstellung, die Frau führte den Mann zu einem der ausladenden Sofas und setzte ihn dort ab, dann ging sie weiter durch die Möbelausstellung. Der Mann blickte still und friedlich umher. Eine Frau, die sich zwei gelbe Plastiktaschen um die Schultern gehängt hatte, ließ unbemerkt erst zwei kleine Tischlampen und dann drei Bücher, die sie von einem der Ausstellungsregale genommen hatte, in ihren Taschen verschwinden.
Auf seinem Streifzug durch die Ausstellungshalle hielt Ulrich hier und da inne, griff nach einem Möbeletikett und studierte die Einzelheiten des Möbelstücks, als wäre auch er jemand, der sich zu einem Kauf entschließen könnte. Und sollte er nicht ohnehin neue Regale kaufen? Viele seiner Regale stammten noch aus Jugendtagen. Als er vor zehn Jahren endlich in eine eigene Wohnung gezogen war, hatte er sie von zu Hause mitgenommen. Doch wozu sollte er neue Regale kaufen, wenn es auch die alten noch taten? Zumindest könnte er neue Bettwäsche anschaffen, überlegte Ulrich. Er besaß nur zwei Garnituren, von denen die eine bereits dünn und verschlissen war. Doch war auch dieser Kauf unbedingt nötig? Schließlich lebte er allein und niemand konnte Bemerkungen darüber machen, dass die Kopfkissenbezüge rissig waren und am Deckenbezug unten drei Knöpfe fehlten. Was waren schon drei fehlende Knöpfe!
Ulrich ahnte, dass er es nicht einmal schaffen würde, neue Glühlampen mitzunehmen. Am Vorabend war die Birne in der Küche durchgebrannt und er hatte keine 60-Watt-Birne mehr gefunden. Aber reichte für die Küche nicht auch eine von den 40-Watt-Birnen aus? Wäre es nicht besser, erst die alten Glühbirnen zu verbrauchen, die er noch aus dem Vorrat seiner Eltern hatte, bevor er neue energiesparende Glühlampen kaufte? Wie so oft fand er sich in einer Stimmung der allgemeinen Unschlüssigkeit wieder, aus der er sich nur durch die stille Betrachtung der anderen Möbelhausbesucher retten konnte.
Ulrich setzte sich in einen Ohrensessel und ließ die zahlreicher werdenden Besucher an sich vorbeiströmen. Sicher waren sie alle in der Lage, das Leben tatkräftig zu meistern und ohne viel Nachdenken die richtigen Entscheidungen zu treffen.
In der letzten Zeit hatte er sich immer häufiger im Möbelhaus aufgehalten, das er von früheren gelegentlichen Besuchen kannte. Bei seinen Beobachtungen hatte er oft das Gefühl, dass er Dinge sah, die anderen gar nicht auffielen oder von denen sich die anderen möglichst schnell abwandten, um nicht von einer möglichen Verrücktheit angesteckt zu werden.
Und da! Schräg gegenüber nahm gerade ein älteres, aber noch jugendlich wirkendes Paar in einem der ausgestellten Wohnzimmer Platz. Die Frau holte zwei Plastikdosen und Servietten aus ihrem Rucksack und legte sie auf den Couchtisch, der Mann entnahm seinem Rucksack eine altmodische Thermoskanne. Dann packte die Frau dick belegte Brote aus und der Mann goss Tee ein. Fröhlich verspeisten sie ihr Picknick. Dabei stupsten sie sich gelegentlich in die Seiten und kicherten wie kleine Kinder. Sofort fühlte sich Ulrich von ihrer Lebensleichtigkeit und Heiterkeit angesteckt. Wie richtig es wenigstens gewesen war, sofort das Möbelhaus aufzusuchen! Ganze Tage konnte er dort der Trübseligkeit und Leere entgehen, die er in seiner kleinen Wohnung empfand.
Früher hatte es konkrete Anlässe gegeben, das Möbelhaus zu betreten. Manchmal hatte seine Mutter ihn gebeten, neue Kerzen und Servietten zu besorgen und ihr bei Gelegenheit vorbeizubringen. Von diesen hatte sie gerne einen großen Vorrat zu Hause gehabt, und Ulrich konnte sich nicht erinnern, dass sie ihn jemals vollständig aufgebraucht hätte. Doch seit einem halben Jahr gab es diese Anlässe nicht mehr.
Manchmal bildete Ulrich sich ein, die Mutter oder den Vater im Möbelhaus zu entdecken. Dann lief er eine Weile hinter dem Mann oder der Frau her, nur um bald festzustellen, dass sie nicht einmal eine entfernte Ähnlichkeit mit seinen Eltern hatten.
Die Mutter war bei einem Unfall ums Leben gekommen. Sie war in der Fußgängerzone von einem Lieferwagen angefahren worden, unglücklich gestürzt und kurz darauf im Krankenhaus verstorben. Nur zwei Monate nach dem plötzlichen Tod der Mutter war auch der Vater gestorben. Als Ulrich wie gewöhnlich nach der Arbeit bei ihm vorbeigeschaut hatte, hatte der Vater noch im Bett gelegen, er musste bereits in der Nacht gestorben sein. Lange hatte Ulrich an seinem Bett gesessen und auf die entspannten Gesichtszüge des Vaters geblickt. Schließlich hatte er seine kalte Hand berührt.
Ulrich konnte sich nicht erinnern, je eine tiefe Verbindung zwischen sich und den Eltern gespürt zu haben. Im Rückblick erschien es ihm manchmal so, als seien die Eltern schon vor seiner Geburt vom Leben erschöpft gewesen. Zwar hatten sie sich über das noch überraschend aufgetauchte Kind gefreut, als sie beide schon Ende dreißig und lange verheiratet waren, doch waren sie seltsam fern geblieben und Ulrich hatte sie kaum je als an seinen Wünschen und Hoffnungen interessiert erlebt.
In einem Möbelhaus dieser Kette waren Ulrichs Eltern nur ein einziges Mal zu Besuch gewesen, als es gerade in Mode gekommen war. Die Mutter hatte nur Bettwäsche, Teelichte und allerlei Kleinkram für die Küche mitgenommen, dem Vater war die Vorstellung, schwere Möbelpakete selbst auf die Ladefläche des kleinen Wagens hieven zu müssen, ein einziger Graus gewesen. Ulrich hatte die Zeit im sogenannten Kinderparadies gleich hinter dem Eingang verbracht, wo Eltern ihre Kinder abgeben konnten. Trotzdem war der Besuch dieses neuen Möbelhauses, zu dem so viele Menschen von weither strömten, für Ulrich ein außergewöhnliches Ereignis gewesen. Im Kinderparadies war damals die Hoffnung in ihm aufgekeimt, die Eltern könnten durch den Besuch des Möbelhauses zu neuen und ganz anderen Eltern verwandelt werden. Könnten sie dann nicht das Leben ebenso tatkräftig angehen, wie es auch die anderen Eltern zu tun schienen, die ihre Möbelpakete zupackend und schwungvoll in ihren Autos verstauten? Sein verwandelter Vater würde ihn beim Abholen lachend auf die Schultern nehmen, obwohl Ulrich dafür eigentlich schon zu groß war. Die verwandelte Mutter würde erzählen, wie sie die Wohnung mithilfe des ungewöhnlichen Möbelhauses ganz neu einrichten wollte. Lachend würde sein Vater die wuchtigen Möbelpakete in das Auto laden und den Kofferraumdeckel, der sich nun nicht mehr schließen ließ, mit einem dünnen Seil am Fahrzeug befestigen. Die Mutter hätte in der Zwischenzeit von der Imbissbude vor dem Möbelhaus für jeden eine Bratwurst mit Pommes frites besorgt.
Doch Ulrichs Mutter wäre nie eingefallen, für so etwas Geld auszugeben, sie hatte stets riesige Pakete mit Wurst- und Käsebroten mit sich geführt, wenn sie gemeinsam irgendwohin unterwegs waren. Und Ulrichs Vater wäre nie eingefallen, mit offenem Kofferraumdeckel durch die Gegend zu fahren.
Als die Eltern Ulrich aus dem Kinderparadies geholt hatten, waren sie noch die gleichen Eltern wie vorher gewesen und Ulrichs Wunschvorstellungen waren schlagartig zunichtegemacht worden. Der Vater hatte immer noch den Hut aufgehabt, der Ulrich geradezu lächerlich erschien, weil schon lange niemand mehr einen solchen Hut trug. Die Mutter hatte müde gewirkt, so als hätten sie die Möglichkeiten eines neuen Lebens, die das Möbelhaus doch unbezweifelbar bot, zutiefst erschöpft.
Als Ulrich auf dem Rückweg still und verzweifelt hinten im Auto gesessen hatte, war es ihm vorgekommen, als sei das Glücksversprechen des Möbelhauses an seinen Eltern abgeprallt wie an einer Mauer. Er hatte sich in die Vorstellung geflüchtet, dass er den Eltern in wenigen Jahren, wenn er selbst erwachsen wäre und ein Leben voller interessanter Möglichkeiten führte, die Wohnung völlig neu einrichten würde. Lachend und wie befreit würden die Eltern dann auf ihrem neuen Sofa sitzen und ihrerseits ganz neue Pläne für ihr Leben entwickeln.
Auch heute noch empfand er bei jedem Möbelhausbesuch eine Ahnung jener hoffnungsvollen Stimmung, die ihn damals überfallen hatte. Gerade wanderte Ulrich durch die Büromöbelausstellung. An den Schreibtischen zog er hier und da eine Schublade auf, dann setzte er sich auf einen Drehstuhl und drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse. Wieder fiel ihm die Frau mit den gelben Taschen auf. Sie lief zwischen den Schreibtischen hin und her, mehrmals blickte sie sich kurz um. Plötzlich holte sie eine kleine rote Tischlampe aus einer der Taschen und stellte sie auf einen Schreibtisch, daneben legte sie ein Buch. Schnell verließ sie die Büromöbelausstellung wieder.
Gerade wollte Ulrich sich erheben und ihr folgen, da sah er ein Paar in seinem Alter, das Hände haltend durch die Büromöbelausstellung lief. Die beiden ließen sich erst los, als sie gegenüberliegende Schreibtische ansteuerten. Der Mann und die Frau setzten sich und lachten sich an. Dann holten sie kleine Zettel und Bleistifte aus den Taschen und begannen, sich gegenseitig Botschaften zu schreiben, die sie sich, zu kleinen Papierkugeln zusammengeknüllt, abwechselnd zuwarfen. Auch dabei lachten und alberten sie und versuchten offenbar, sich mit ihren Mitteilungen gegenseitig zu übertrumpfen. Was für eine Erlösung in ihrer Albernheit lag! Ulrich staunte einmal mehr, welche Auswege sich auftun konnten, wenn es für die eigenen Unbegreiflichkeiten nur den richtigen Verbündeten gab.
Er blickte umher, doch niemand sonst schien Notiz von dem Paar zu nehmen. Als er aufstehen und sich unauffällig in die Nähe des Paares begeben wollte, erhoben sich die beiden wieder und liefen Hand in Hand davon. Ulrich versuchte, sich seine Eltern so vorzustellen. Doch er kam nur bis zu der Stelle, wo sie sich an die Schreibtische setzten und danach still dort verharrten, als wüssten sie nicht, was sie als Nächstes zu tun hätten. Ulrich sah wieder einmal ein, dass das Schicksal, das die Eltern umgeben hatte, noch bis in seine eigene Gegenwart reichte.
Als Ulrich ein kleines Kind gewesen war, hatte es in der Nähe ihrer Wohnung zwischen den Häusern ein brachliegendes Grundstück gegeben, wo über Mauerresten hohes Gras wuchs. Das Grundstück hatte eine seltsame Faszination auf Ulrich ausgeübt, und auf einem Spaziergang hatte er die Mutter irgendwann gefragt, warum dort kein Haus stünde. Zu seinem Erschrecken war die Mutter, die er bis dahin als ruhig und überlegt, wenn auch oft seltsam unbeteiligt an dem, was sie umgab, erlebt hatte, wie angewurzelt stehen geblieben. Sie hatte seine Hand so fest gehalten, dass es ihm weh getan hatte.
Dann hatte sie mehr hervorgestoßen als gesagt: »Da ist eine Bombe draufgefallen, das Haus war weg und alle waren tot.«
Bevor Ulrich noch irgendetwas hatte fragen können, hatte die Mutter ihn an der Hand weiter gezerrt. Am Abend jenes Tages hatte Ulrich vor dem Zubettgehen immer drängender darauf bestanden zu erfahren, was Bomben seien und warum sie auf Häuser fielen, doch die Mutter hatte nur gesagt, dass das nun alles vorbei sei und man darum nur froh sein könne. Auch der Vater hatte zu Ulrichs Fragen geschwiegen, sein ungewöhnlich lautes »Jetzt ist Schluss!« hatte den weinenden Ulrich endgültig ins Bett getrieben.
In der Folgezeit hatte es Ulrich lange nicht gewagt, an dem brachliegenden Grundstück vorbeizulaufen. Konnte man denn wissen, ob unter den Mauerresten nicht noch die Toten lagen? Von einer Großtante hatte Ulrich Jahre später erfahren, dass seine Mutter und sein Vater als Kinder bei einem Bombenangriff in einem Keller verschüttet worden waren. Beide Mütter waren dabei ums Leben gekommen und man schickte die unzertrennlichen Nachbarskinder zu der gleichen Pflegefamilie aufs Land. Niemand habe sich gewundert, dass sie später auch geheiratet hatten. Ulrich war das Leben seiner Eltern danach wie ein immer noch andauerndes Überleben erschienen, dessen sie sich selbst nicht einmal bewusst waren.
»Nun hat sie es hinter sich«, hatte der Vater nach dem Tod der Mutter einmal gesagt, und Ulrich hatte sich gefragt, ob der Vater damit das Leben im Allgemeinen meinte oder noch etwas anderes, das nie genauer benannt worden war.
Ulrich war als ein Verbündeter des elterlichen Schweigens aufgewachsen, der darauf bedacht war, die Eltern nicht unnötig aufzuregen oder zu belasten, sondern ihnen als verlässlicher Partner durchs Leben zu helfen. Nach seiner Schulzeit hatte der Vater Ulrich eine kaufmännische Ausbildung vorgeschlagen, mit der er auch selbst gut durchs Leben gekommen sei, und Ulrich hatte sich dem Wunsch des Vaters gefügt. Im Stillen hatte er angenommen, dass dies nur der notwendige Anfang von größeren Möglichkeiten sein würde, die bald auf ihn warteten.
Von da an hatte Ulrich morgens neben dem Vater gefrühstückt, auch wenn dieser dabei meist geschwiegen hatte. Trotzdem sorgte diese Gemeinsamkeit tief in seinem Innern für ein kleines Glücksgefühl, und er hatte stets gehofft, dem Vater auf diese Weise näher zu kommen. Auch er packte seine geschmierten Brote nun wie der Vater in eine Plastikdose und verstaute sie fürs Büro in einer Tasche. Sie hatten die Wohnung oft gemeinsam verlassen und waren dann in unterschiedliche Richtungen davongegangen.
Eben betrat ein älterer Mann die Büromöbelausstellung. Er setzte sich an einen Schreibtisch in Ulrichs Nähe und holte einen Laptop aus seinem Rucksack. Eine Weile sah er konzentriert auf den Bildschirm, ab und zu tippte er mit schnellen Fingern etwas in die Tastatur. Dann trat ein jüngerer Mann an den Schreibtisch heran. Der ältere machte eine einladende Handbewegung, der andere schob einen Stuhl heran und nahm ebenfalls an dem Schreibtisch Platz. Die Männer sahen sich an und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Dann holte auch der jüngere einen Laptop aus seiner Tasche und fing an zu arbeiten. Nach einer Weile klappten beide ihre Laptops wieder zu, standen auf und gingen gemeinsam weiter. Ulrich sah ihnen hinterher, doch bald waren sie in dem stärker werdenden Besucherstrom verschwunden.
Als Ulrich zu Hause ausgezogen war, waren die gemeinsamen Frühstücke mit dem Vater, der wegen einer Herzerkrankung vorzeitig in Rente gehen musste, lange vorbei gewesen. Längst war Ulrich seines eintönigen Büroalltags überdrüssig gewesen, doch er hatte keine Idee, wie er sich daraus befreien konnte, ohne weitreichende Entscheidungen zu treffen. So hatte er sich über Jahre in eine Routine gefügt, die ihm immer mehr wie ein zu eng sitzender Mantel erschien.
Vor drei Monaten hatte Ulrich seine Stelle wegen Rationalisierungsmaßnahmen unerwartet verloren und war darüber tief in seinem Inneren fast erleichtert gewesen. Deutlich hatte er gespürt, dass ihn das Leben nun vor neue Herausforderungen stellte, die keine zu große Ablenkung duldeten.
Die Aufgabe der Elternberuhigung lag hinter ihm, musste er nicht nun einen neuen Sinn für sich finden? Ein neues Ziel, für das es sich zu leben lohnte und das mehr war als das Bewältigen einer täglichen Routine?
Zum ersten Mal in seinem Leben ließ er sich treiben und schob den Gang zum Arbeitsamt immer weiter auf, bis seine Ersparnisse zur Neige gingen. Er lebte in den Tag hinein und sortierte bis in die Nacht die Habseligkeiten der Eltern, die er nach der Wohnungsauflösung in zahlreichen Kisten im eigenen Keller verstaut hatte. Seine Mutter hatte einen ganzen Karton mit Servietten und Teelichten aus dem Möbelhaus gehortet, der nun in seinem Keller stand.
Von seinem Küchenfenster aus konnte Ulrich das hoch aufragende Schild des Möbelhauses sehen. Wenn er sich abends einen Tee kochte, freute er sich, dass es diesen anderen Ort gab. Im Möbelhaus konnte er den Stimmungen, die ihn nach dem Tod der Eltern überfallen hatten, nachgehen, ohne darüber in zu große Traurigkeit zu versinken. Er konnte sich der Ordnung des Möbelhauses anvertrauen, die Pfeile auf dem Boden der Ausstellungshallen gaben eine Richtung vor, der zu folgen war. Ulrich fühlte sich im Möbelhaus geborgen. War er nicht nur einer von den vielen Besuchern, die die Sehnsucht verband, ihr Leben neu und anders zu gestalten? Die ein Stück von der Geborgenheit des Möbelhauses nach Hause bringen wollten, um auch dort ein kleines Glücksgefühl einziehen zu lassen? Hatte man sich bei den Möbeln einmal falsch entschieden oder wurde ihrer wieder überdrüssig, konnte man sich jederzeit wieder von ihnen trennen und eine neue Entscheidung treffen. Die Möbel waren so unglaublich billig, dass niemand befürchten musste, sie würden als Mahnmale falscher Entscheidungen jahrzehntelang die Wohnung beherrschen. Und auch als Arbeitsloser fühlte Ulrich sich an diesem Ort nicht ausgeschlossen; ein billiges Mittagessen mit Fleischbällchen und Pommes frites konnte er sich immer noch leisten, neuerdings gab es sogar Gemüsebällchen, die noch günstiger angeboten wurden. Wenn er sich nur endlich dazu entschließen könnte, seine Wohnung völlig neu einzurichten! Oder sollte er lieber auf seine eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten Rücksicht nehmen? Aber er könnte doch wenigstens bunte Kissen kaufen!
Ulrich stand auf, verließ die Büromöbelausstellung und ging weiter in Richtung Schlafzimmerabteilung. Die Betten standen einladend nebeneinander, Ulrich setzte sich auf dieses und jenes Bett und wippte leicht mit dem Oberkörper, bevor er sich wieder erhob. Auf einem der Betten nahm gerade ein Paar fortgeschrittenen Alters Platz, jeder setzte sich auf eine Seite und drehte sich dann so, dass er den anderen ansehen konnte. Über das Bett fassten sie sich an den Händen und schaukelten dann gemeinsam auf der Matratze auf und ab. Was für ein unfassbares Paarglück ihm hier demonstriert wurde! Die beiden wirkten von ihrem vermutlich längeren Zusammensein nicht einmal erschöpft, sondern immer noch voller Übermut und Verlangen. Ulrich, in dessen Leben es noch nie eine Freundin gegeben hatte, war seltsam berührt. Gleichzeitig spürte er seine lang dauernde Vereinzelung einmal mehr wie einen grauen Schleier, der sich über sein Gemüt legte.
In seiner Schulzeit hatte Ulrich sich zu einem Mädchen hingezogen gefühlt, das stets alleine in einer Ecke auf dem Schulhof gestanden hatte. Doch hatte er nie auch nur den Versuch unternommen, sie anzusprechen oder auf eine Cola einzuladen. Er hatte sich einfach in eine andere Ecke gestellt und dort alleine sein Pausenbrot verzehrt, in der irren Hoffnung, dass dem Mädchen mit dem unglaublich altmodischen Namen Irmgard dieses Verhalten auffallen müsste. Doch nie war sie auch nur in die Nähe seiner Pausenhofecke gekommen. Stattdessen standen sie auch im Winter beide in ihren Pausenhofecken herum, knabberten an den Broten, die ihnen ihre Mütter geschmiert hatten, und blickten nur gelegentlich in die entfernte Ecke des anderen hinüber.
Auch später war Ulrich nie eingefallen, wie er eine Frau für sich hätte interessieren können. Immer stärker wurden ihm seine Entscheidungsschwäche und Unerfahrenheit auf diesem Gebiet zum inneren Hemmnis und er wollte sich keiner Lächerlichkeit preisgeben. Würde er nicht in jenen entscheidenden Momenten einer Beziehung genau das Falsche machen, das ihn vollends entblößte und als endgültigen Lebensversager dastehen ließ?
Zwar sehnte er sich hin und wieder nach einer Frau. Doch bislang war er keiner begegnet, bei der nicht schon der bloße Gedanke an das Eingeständnis seiner Unerfahrenheit ihm die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte. Ulrich setzte sich auf ein Bett und beobachtete, wie sich das Paar auf dem anderen Bett ausstreckte, sich dabei weiter an den Händen hielt und die Matratze nun im Liegen zum Schaukeln brachte. Das Paarsein musste auch fröhlich sein können, unbeschwert und frei von größeren Lächerlichkeitskatastrophen.
Ulrich verließ die Schlafzimmerabteilung und lief weiter in Richtung Kinderwelt. Plötzlich erklang eine Durchsage, dass der kleine Ulrich aus dem Småland abgeholt werden wollte. Ulrich zuckte zusammen und wäre beinahe in die entgegengesetzte Richtung zum Kinderparadies zurückgelaufen, bevor er sich besann.
Als er an einen Tisch mit Stofftieren trat, entdeckte er die Frau mit den gelben Taschen wieder. Ein paar Schritte entfernt war sie gerade dabei, eine kleine Kindersitzgruppe neu zu arrangieren. Dann inspizierte sie das angebotene Kindergeschirr und ließ schnell drei kleine Teller und zwei Tassen in ihren Taschen verschwinden. Ulrichs Blick wanderte über die Stofftiere auf den Wühltischen. Einem plötzlichen Einfall folgend griff er nach einem rosa Schwein und setzte es so hin, dass es die Kinderabteilung überblicken konnte. Dann nahm er ein zweites Stoffschwein und arrangierte die beiden Schweine so, dass sie sich mit den Schnauzen anstupsten. Als die Frau mit den gelben Taschen die Kinderabteilung in Richtung Restaurant verließ, ohne ihn zu beachten, setzte er die Stoffschweine so um, dass sie nun in Richtung Restauranteingang blickten.
Immer noch beschäftigte Ulrich der Traum, den er in der Nacht gehabt hatte. In letzter Zeit erinnerte er sich mehr als sonst an seine Träume, auch von seinen toten Eltern hatte er einige Male geträumt. Im Traum war er mit seinem Vater auf Reisen gewesen, mit seiner Mutter hatte er Blumen gekauft, mit den Eltern zusammen hatte er träumend eine neue Wohnung besichtigt.
Hatten in seinem letzten Traum nicht seine Eltern an einem der Tische im Bistro gestanden? Zusammen mit einem kleinen Jungen, der ihm so sehr glich? Und wer war noch im Möbelhaus gewesen? Ulrich konnte sich keinen Reim auf seinen Traum machen, doch glaubte er immer stärker, dass dieser Traum irgendeine Bedeutung haben musste. Gab es tief verborgen im Möbelhaus ein Geheimnis? Etwas, das er irgendwann entdecken müsste? Womöglich verbarg sich hier auch für ihn ein Ziel für sein Leben, das ihm bisweilen so leer schien.
Getragen von dieser Hoffnung und von seinen Aussichten beflügelt, wollte Ulrich auch anderen wenigstens ein kleines Glückserlebnis verschaffen. Gerade trat ein Kind an einen Wühltisch mit kleinen Stoffmäusen, streckte sich daran hoch und griff mit einer Hand hinein. Mit einer weißen Maus lief es dann zu seinen Eltern hin.
Die Eltern schüttelten den Kopf, als das Kind ihnen die Maus entgegenhielt und sagte: »Die möchte ich haben!« Dann blieb es still stehen und schob ein leiseres »Bitte« hinterher.
Ulrich hörte die Mutter sagen: »Nein, die brauchst du nicht«, der Vater befahl: »Leg sie zurück!« Folgsam kam das Kind zum Wühltisch zurück und legte die Maus wieder hinein. Daraufhin lief es wieder zu seinen Eltern und ging mit ihnen in Richtung Restaurant davon.
Ulrich blickte ihnen nachdenklich hinterher. Nach einer Weile sah er sich nach allen Seiten hin um. In der Kinderabteilung war augenblicklich nicht viel los, nirgends war ein Mitarbeiter des Möbelhauses zu entdecken.
Rasch holte Ulrich sich eine der gelben Taschen, die in einem Drahtkorb lagen, warf einige der kleinen Stoffmäuse und weitere Stofftiere hinein und schlenderte langsam zum Restaurant. Dort bummelte er zwischen den Tischen hin und her und setzte hier und dort eine der Mäuse auf einen freien Tisch.
Das Kind saß mit der Mutter an einem der Tische am Fenster, den Vater entdeckte Ulrich in der Schlange an der Essenstheke. In einem großen Bogen näherte sich Ulrich dem Tisch und lief dann nahe an ihm vorbei. Die Mutter wischte mit dem Finger auf ihrem Smartphone herum und bemerkte sonst nichts. Das Kind saß mit verschränkten Armen und hängendem Kopf da und rührte sich nicht.
Erst als Ulrich zwei Mäuse auf den Nachbartisch setzte, die sich umarmten, sah das Kind zu ihm hin. Ulrich hielt den Kopf schräg und lachte zu ihm hin. Das Kind zog die Stirn in Falten. Ulrich holte weitere Stofftiere aus der Tasche, die größeren platzierte er auf den Stühlen, die kleineren setzte er auf der Tischmitte zu einem Kreis zusammen. Fasziniert blickte das Kind zu Ulrich hin. Zuletzt versuchte Ulrich, aus einigen Stoffmäusen einen Stapel zu errichten, der jedoch zusammenfiel. Er zuckte mit den Schultern und lachte, aus dem Augenwinkel sah er auch das Kind lachen. Ulrich ließ die leere Tasche am Tisch zurück und ging zum Ausgang des Restaurants, wo er erneut in der Möbelausstellung verschwand.
Dass er seit dem Betreten des Restaurants von einer Frau beobachtet worden war, die an einem der Tische am Eingang saß, unter dem sie zwei gelbe Plastiktaschen abgestellt hatte, hatte Ulrich nicht bemerkt.