Читать книгу Die Geschichte von Ulrich, der bei Ikea einzog und das Glück fand - A. S. Dowidat - Страница 6
Оглавление2.
Das Arbeitsamt ermahnte Ulrich dringend, Bewerbungen zu schreiben, und drohte ansonsten mit einer zeitweisen Nichtzahlung des Arbeitslosengeldes. Zudem war Ulrich verpflichtet worden, an einem zweiwöchigen Computerkurs teilzunehmen. Der Vollzeitkurs sollte nächste Woche beginnen und Ulrich spürte einen immer stärkeren Widerstand. Wie sollte er dann noch seine täglichen Streifzüge durch das Möbelhaus aufrechterhalten?
Ulrich lag auf einer Matratze in der Bettenabteilung und blickte grübelnd an die Decke mit ihrem Gewirr aus Versorgungsleitungen. Er fühlte sich zwar oft zu keiner Entscheidung fähig, aber eines wusste er genau: Ein Computerkurs würde ihm nicht helfen, seine Lebensfragen zu beantworten. Den Brief mit der Aufforderung, sich am kommenden Montag um acht Uhr in einem Schulungszentrum im Norden der Stadt einzufinden, hatte er daher kurzerhand in den Papierkorb geworfen.
Seine Streifzüge durch das Möbelhaus hatte Ulrich in den letzten Wochen weiter ausgedehnt, oft hielt er sich den ganzen Tag dort auf, ohne dass ihm langweilig wurde. Dabei fiel ihm immer wieder die Kundin auf, die mit zwei gelben Plastiktaschen durch das Möbelhaus lief und dabei auf Ulrich so selbstgewiss wirkte, wie er es sich selbst auch wünschte. Anders als er schien sie zu wissen, welches Ziel sie verfolgte. Sie hielt sich offenbar nie allzu lange im Möbelhaus auf, sondern dekorierte hier und da die ausgestellten Zimmer und Wohnungen etwas um, machte sich hin und wieder Notizen, aß etwas im Restaurant und war wieder verschwunden.
Ulrich hätte sie gerne angesprochen, doch er hatte keine Vorstellung, auf welche Weise er das bewerkstelligen sollte. Leicht und unbefangen müsste man dies tun können, so leicht und unbefangen, dass man sich Wochen oder Monate später so glücklich wie auf einem der Werbeplakate des Möbelhauses in einer Küche beim gemeinsamen Kochen oder in einem Schlafzimmer bei einer lustigen Kissenschlacht wiederfinden konnte. Doch wollte er das überhaupt? – So war es immer: Wenn Ulrich nur die leiseste Vorstellung von möglichen Wegen in seinem Leben entwickelte, kam ihm sofort eine Zweifelsfrage in den Weg, die alle weiteren Schritte unterbrach.
An diesem Samstagabend war Ulrich unter den letzten Kunden des Möbelhauses. Er hatte sich fest vorgenommen, am Montag nicht zu dem ihm auferlegten Kurs zu erscheinen. Doch gleichzeitig ängstigte ihn die Vorstellung, der Kursleiter würde seinen Namen aufrufen, nach einer Weile missbilligend in die Runde blicken und dann mit einem roten Stift einen Vermerk hinter seinen Namen machen. Sein Nichterscheinen würde auch das Arbeitsamt nicht auf sich beruhen lassen. Ulrich hatte das Gefühl, er stünde in einer Schlucht zwischen Felswänden, die sich immer näher auf ihn zubewegten. Und nein, er würde nicht zum Kurs erscheinen. Aber was um Himmels willen wären die Folgen? Sollte er da nicht lieber doch … Nein. Doch.
Ulrich war kurz davor, in ein leises Weinen auszubrechen. Er konnte sich nicht erinnern, dass er sich jemals in seinem Leben einer Aufforderung verweigert hatte. Doch dieser Kurs erschien ihm so unsinnig und geradezu gegen seinen möglichen weiteren Lebensweg gerichtet, dass er ein deutliches Nein gedacht hatte, als er die Kurseinladung aus dem Briefumschlag zog. Dieses Nein bröckelte jetzt wieder, denn konnten die Folgen nicht verheerend sein? Würde er nicht auf einer Liste des Arbeitsamtes landen, auf der die Trödler und Verweigerer erfasst wurden, die den amtlichen Aufforderungen nicht nachkamen und die man daher besonders ins Auge fassen musste?
Ulrich steigerte sich in die Vorstellung hinein, jemand vom Amt würde spätestens am Dienstag persönlich bei ihm vorstellig werden, um ihn zum Schulungszentrum zu eskortieren. Er erinnerte sich daran, wie er als Kind nach den allerersten Schultagen einen Widerwillen dagegen empfunden hatte, sich weiterhin dieser täglichen Routine auszusetzen. Er empfand die Schule und das Lernen nicht als besonders schlimm, auch die Mitschüler waren umgänglich, und wäre der Schulbesuch freiwillig gewesen, hätte er nichts dagegen einzuwenden gehabt. Doch die Vorstellung, gar keine Wahl zu haben, sondern von nun an jeden Morgen früh aufstehen zu müssen, um sich einer nicht gewählten Gemeinschaft auszusetzen, war ihm plötzlich und ohne jede Vorbereitung wie ein einziger Graus erschienen.
Hatte er denn von nun an gar keine Wahl mehr im Leben? Er hatte sich doch bislang immerhin freiwillig dafür entschieden, nicht auf den Baum zu klettern, sondern am Fuße des Baumes zu sitzen und in aller Ruhe ein Bilderbuch zu betrachten. Jetzt würde er jeden Tag morgens zur gleichen Stunde denselben Weg zurücklegen müssen, um an demselben Tisch zu sitzen. Nein. Er würde lieber zu Hause bleiben und nur dann zur Schule gehen, wenn er wollte. Am dritten Schultag hatte er sich kurz nach Verlassen der Wohnung auf der Straße von der Hand seiner Mutter gelöst. Er reckte das Kinn und sagte laut: »Nein! Nein, heute möchte ich nicht in die Schule gehen!«
Seine Mutter blickte erstaunt zu ihm hin, als hätte sie eine solche Schwierigkeit nie von ihrem Sohn erwartet und ihm auch niemals zugetraut. »Komm«, sagte sie nur und streckte ihm ihre Hand hin.
Ulrich stemmte die Hände in die Hüften und blieb stehen. Seine Mutter lief einige Schritte weiter, rief noch einmal: »Komm, komm«, so als glaube sie immer noch nicht, dass Ulrich es ernst meinen könnte. Dann blieb sie wieder stehen und schüttelte den Kopf. Als sie einige Schritte auf ihn zuging, immer noch mit der ihm hingestreckten Hand, wich Ulrich zur Seite und klammerte sich an ein Verkehrsschild. Er war darauf vorbereitet, der Mutter Widerstand entgegenzusetzen, er erwartete, dass sie versuchen würde, ihn vom Verkehrsschild wegzuziehen, und so klammerte er sich noch enger an das Schild. Wenn er sich diese Situation ins Gedächtnis rief, hatte Ulrich noch heute das Gefühl, dass er damals vor etwas Großem gestanden hatte. Womöglich wäre sein Leben völlig anders verlaufen, wenn er in dieser Situation die Oberhand behalten hätte, wenn er seinen Widerstand gegen das ihm Aufgezwungene nur hätte durchhalten können.
Auf die Nüchternheit der Mutter war Ulrich jedoch nicht vorbereitet gewesen. Die Mutter war mit hängenden, nicht einmal kampfbereiten Armen vor ihm stehen geblieben, hatte ihn angeblickt wie einen kleinen dummen Jungen und nur gesagt: »Wenn du nicht mitkommst, dann kommt die Polizei und bringt dich hin.« Dabei sah sie ihn weder zornig an noch sprach sie unfreundlich, sondern in einem so sachlichen Ton, als würden täglich unwillige Kinder von der Polizei persönlich abgeholt und zur Schule gebracht.
Sein Widerstand erschien Ulrich daher völlig aussichtslos. Als die Mutter noch einmal leise: »Komm!« sagte, fühlte Ulrich seine Auflehnung endgültig innerlich zerbröseln und wie automatisch löste er die Arme vom Verkehrsschild. Die ausgestreckte Hand der Mutter wollte er ignorieren, doch wie unter einem sanftem Zwang griff er doch nach ihr. Die Mutter drückte seine Hand freundlich, als wolle sie sagen, dass nun alles wieder gut sei und man still und friedlich weiterleben könne, was er doch sicherlich genauso wolle. Mit gesenktem Haupt war Ulrich neben der Mutter hergetrottet; an den Schultag, der auf seinen Widerstandsversuch gefolgt war, konnte er sich nicht mehr erinnern. Diese erste Auflehnung gegen einen äußeren Zwang im Leben war nach Ulrichs Erinnerung auch die bislang letzte geblieben.
Gerade wurden die Kunden dazu aufgefordert, sich zu den Kassen zu begeben, da das Möbelhaus in einer halben Stunde schließe. Ulrich stand vom Bett auf, hier und da war noch ein versprengter Kunde zu sehen, der nun mit raschen Schritten den Pfeilen auf dem Boden folgte, um zum Ausgang zu gelangen. Die Frau mit den gelben Taschen hatte er heute nirgends entdecken können.
Ulrich zögerte. Er ging ein paar Schritte durch die Ausstellungshalle. Dann blieb er stehen. Ein Mitarbeiter des Möbelhauses eilte vorbei, ohne ihn zu beachten. Ulrich blickte auf den Pfeil vor ihm auf dem Boden. Die richtige Richtung war klar vorgegeben. Aber konnte es nicht wenigstens einmal im Leben möglich sein, eine andere Richtung einzuschlagen? Ulrich hatte das Gefühl, dass in Pfeilrichtung unweigerlich der vom Arbeitsamt für ihn vorgesehene Computerkurs lag. Plötzlich bildete er sich ein, eine Lautsprecherdurchsage zu hören mit der Stimme seiner Mutter, die »Komm, komm!« rief.
Ulrich stellte sich auf die Spitze des Pfeils und verdeckte dessen Richtung. Nun war nur noch ein Strich am Boden zu erkennen. Langsam drehte Ulrich sich um. Dann machte er einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung. Und noch einen. Ulrich meinte, den Pfeil im Rücken zu spüren, der ihn in die andere Richtung ziehen wollte. Schnell machte er einen weiteren Schritt, dann noch einen und ging schließlich entgegen der Pfeilrichtung durch das Möbelhaus. Als ihm ein weiterer Mitarbeiter entgegenkam, nahm er schnell eine Abkürzung zwischen zwei Ausstellungsbereichen. Kurz darauf fand er sich zwischen hohen Kleiderschränken wieder.
Ulrich verbarg sich in einer Ecke, von wo aus er die Schlafzimmerabteilung im Blick behalten konnte. Ein älterer Mann in einer beigen Jacke saß auf einem Bett und schaute ruhig umher. Eine ältere Frau, ebenfalls in einer beigen Jacke, tauchte plötzlich auf, lief mit schnellen Schritten zu dem Mann und hielt ihm den Arm hin. Der Mann stand auf, hakte sich bei der Frau unter und gemeinsam gingen sie Richtung Ausgang.
Ulrich erschien es nun sehr still im Möbelhaus. In seiner Ecke stehend lauschte er auf seinen Atem. Er wandte sich um und lehnte sich mit der Stirn an die Seite des mächtigen Kleiderschrankes. Dann schloss er die Augen. Der Kleiderschrank roch frisch und unbenutzt, Ulrich spürte seine glatte Oberfläche. Der Schrank war so wuchtig, dass ihn kaum jemand alleine würde verrücken können.
Plötzlich wurde die Stille durch eine weitere Lautsprecherdurchsage unterbrochen: Das Möbelhaus schließe in wenigen Minuten, alle Kunden sollten sich nun zum Ausgang begeben. Erschrocken blickte Ulrich auf, doch er verspürte keinen Impuls, sich zu bewegen. Als ein Mitarbeiter die Halle durchquerte und flüchtig nach links und rechts blickte, drückte Ulrich sich fest in seine Ecke.
Natürlich müsste auch er nun das Möbelhaus verlassen. Er müsste nur einen Schritt vor den anderen setzen, und wie ein trödeliger Kunde könnte er durch die Ausstellungshalle und schließlich den Kassenbereich zum Ausgang spazieren. Schließlich würde er morgen schon wiederkommen. Doch wenn er ohnehin vorhatte, wiederzukommen, konnte er dann nicht auch gleich dableiben?
Ulrich merkte, wie sich eine Unschlüssigkeit in ihm ausbreitete, die ihn so schwer zu machen schien wie ein wuchtiges Möbelstück. Welche Anstrengung, noch einen Schritt zu bewerkstelligen! Der Weg zum Ausgang schien ihm mit einem Mal unendlich weit, und überhaupt: Einmal mehr konnte er sich eben nicht entscheiden, was er als Nächstes tun sollte.
Zwei Stunden später war die Beleuchtung im Möbelhaus ausgegangen, auch die Musik war vor längerer Zeit abgestellt worden. Nur vereinzelt leuchteten kleine Lampen an der Decke, die ein diffuses Licht in die Möbelhalle warfen. Die Türen des Kleiderschrankes waren geschlossen, doch gerade wurde die linke Tür einen kleinen Spalt breit zur Seite geschoben. Aus dem Inneren des Schrankes, in dem er vor seiner Unentschiedenheit Zuflucht gesucht hatte, blickte Ulrich in die Möbelausstellung. Seinen kleinen Rucksack hatte er zwischen die angewinkelten Beine gestellt. Der Platz im Schrank reichte nicht aus, um die Beine auszustrecken.
Die an der Kleiderstange hängenden Hemden hatte er hinter sich geschoben, sodass er den Kopf nicht gegen die bloße Wand des Kleiderschrankes lehnen musste. Eine Zeit lang saß Ulrich einfach da und lauschte durch den Spalt in das leere Möbelhaus hinein. Mehr und mehr hatte er das Gefühl, ein sanftes Sausen zu hören. Ab und zu meinte er auch ein Flüstern wahrzunehmen, das sich in das kaum merkliche Sausen mischte; dann war es mit einem Mal wieder vollkommen still.
Leise zog Ulrich die Schiebetür wieder zu. Im Schrank war es nun vollkommen dunkel, nicht einmal seine Schuhe konnte Ulrich erkennen. Er schloss die Augen und hielt die Beine fest umklammert. Langsam atmete er ein und aus und lauschte auf die Luft, die durch seine Nase hinaus- und hineinströmte. Je mehr er sich auf seinen Atem konzentrierte, desto mehr schien Ulrich die übrige Welt, die irgendwo außerhalb dieses Dunkels weiterexistieren musste, von ihm abzurücken. In seiner geschlossenen Kleiderschrankkammer wollte er an kein Arbeitsamt denken, nicht an die Aufforderung, an einem Kurs teilzunehmen, nicht an eine drohende Kürzung des Arbeitslosengeldes, an keine weiteren Probleme, die daraus entstehen konnten, und vor allem – Ulrich atmete sehr langsam aus – , vor allem nicht an die toten Eltern. An die Eltern, die er bis heute nie wirklich verstanden zu haben glaubte und denen er nie wirklich hatte nahe kommen können. Er wollte nicht mehr den Schmerz darüber spüren, dass dies alles, seit die Eltern gestorben waren, nun endgültig nicht mehr abänderbar war. Er wollte sich nur auf sein leises Ein- und Ausatmen konzentrieren, einen regelmäßigen Rhythmus, den Ulrich selbst steuerte und den ihm niemand nehmen konnte.
Er lehnte sich an die Wand des Kleiderschrankes, als müsse er sich in genau diesem Moment unbedingt irgendwo anlehnen, weil ihm ansonsten das Leben endgültig zu schwer werden könnte. So verharrte Ulrich lange Zeit und versank schließlich in einen tiefen Schlaf.