Читать книгу Schmetterlinge im Kopf - A. Wolkenbruch - Страница 6

Wurzeln

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Nora hatte die Prüfungen knapp bestanden. Sie war froh, daß nun die Semesterferien begonnen, denn sie fühlte sich oft nicht mehr richtig ausgeruht. Sie war nervös und konnte manchmal lange nicht einschlafen. Adrian hatte ihr angeboten, das Frettchen mitzubringen, damit sie nicht gezwungen wäre, während der Ferien so oft hin und her zu fahren. Das tat sie. Falkos Käfig wurde auf den Heuboden gebracht. Nora liebte den Heuboden. Hier roch es immer nach Spätsommer, nach getrocknetem Gras. Immer, wenn sie Adrian im Stall half, konnte sie Falko einen Besuch abstatten. Aber in dem Haus fühlte Nora sich nicht wohl. Es gab so viele Zimmer, die nicht genutzt wurden. Hier waren die wenigen Möbelstücke mit Tüchern abgedeckt und Staub und lange Spinnennetze ließen eine gleichgültige und trostlose Atmosphäre entstehen. Und draußen taten ihr die Obstbäume leid. Tote Äste hingen auf jungen Trieben , ließen ihnen keinen Raum zum Wachsen. Und wo die Äste aufeinander lagen, breitete sich Pilzbefall aus. Es schienen sich auch nicht viele Früchte zu entwickeln. Nora bat Adrian um eine Astsäge. Dann suchte sie in der Scheune, in der die Maschinen untergebracht waren, nach einer Leiter. Schließlich fand sie eine in dem Schuppen , in dem das Feuerholz lagerte. Nun machte sie sich daran, den Apfelbäumen einen Gesundheitsschnitt zu verpassen. Die Leiter knarrte gefährlich. Als Nora die Leiter an den dritten Baum gelehnt hatte und eifrig die Sprossen hinaufstieg, brach eine der oberen unter ihrem Schuh ab. Sie konnte gerade noch einen gesunden Ast ergreifen und sich an ihm festhalten. Ihr Fuß ertastete eine Sprosse und sie belastete diese vorsichtig, um sicher zu sein daß sie hielt. Adrian kam und nahm Nora die Leiter weg. Sie dachte, er würde sie in seine Werkstatt tragen, um sie zu reparieren und war erleichtert, als sie ihn zum Schuppen gehen sah, wo er sie zerkleinerte und zu Feuerholz legte. Sie schichtete die toten Äste ebenfalls dort auf. „Ich würde ja gern noch die anderen Bäume pflegen“, sagte sie.

„Hättest du nicht Lust, uns was zu Essen zu machen?“

„Okay..“

Im Keller standen viele Gläser mit eingemachtem Obst und Gemüse. Marias Erbe, dachte Nora. In der riesigen Gefriertruhe lagerte Fleisch in Form eines ganzen Fasanen und einzeln verpackte Fleischstücke, alles fein säuberlich beschriftet. Alles selbst gemästet oder gejagt, dachte Nora ehrfürchtig. Aber es machte sie irgendwie auch sehr glücklich. Sie war so erdverbunden, daß sie gern den Kreislauf der Nahrung nachvollzog. Je weniger kompliziert und umweltschädlich, je ursprünglicher und tierfreundlicher, desto besser. Ein leichter Groll kam in ihr auf, als ihr bewußt wurde, daß Willhelm ihre Neigung nicht erkannte. Oder er erkannte sie und verstand nicht, daß sie, Nora und er, Willhelm, durch diese Neigung miteinander ähnlich waren. Daß diese Ursprungsliebe sie verband. Nein, dachte Nora wütend. Er stempelt mich als ahnungslose Stadt- Öko- Tussi ab und denkt vermutlich ich finde ihn konservativ und weltfremd. Aber, dachte sie, wir müssen uns ja nicht mögen. Ich muß ihm nicht gefallen. Hauptsache, sie gefiel Adrian. Sie seufzte. Neugierig durchstöberte sie die riesige Gefriertruhe weiter. Es gab Gemüse und Fisch aus dem Supermarkt und fünf selbstgebackene Apfelkuchen. Nora klappte den Deckel der Truhe zu. Gute, fleißige Maria, dachte sie und begann, Kartoffeln, Nudeln oder reis zu suchen. Und wo waren Mehl und Eier? Sie verließ den Keller und holte einen Zettel und einen Stift von Adrians Schreibtisch. Dann setzte sich an den Küchentisch, um einen Einkaufszettel zu machen. Willhelm kam herein. Er schlurfte zu seinem Stuhl und setzte sich. „Kannst du mit der Waschmaschine umgehen?“ Nora tat, was sie konnte, eins nach dem anderen.

Sie hatte eine neue Leiter aus dem Baumarkt besorgt und verpaßte nun den letzten sieben Bäumen einen Pflegeschnitt. Sie war nun froh und stolz, wenn sie die Obstwiese betrachtete. Die Bäume wirkten stark und jung.

Es war weiterhin schwierig, genug Zeit für einander zu finden. Auch wenn Nora auf dem Hof war, übernahm sie nicht die volle Verantwortung für den Haushalt. Sie hat ihr Studium im Kopf, dachte Adrian. Und sie muß auch tun, was sie für richtig hält. Er würde auch nicht verlangen, daß sie alles für ihn aufgab.

Aber wie sollte es bloß weitergehen? Maria fehlte überall. Er hatte sie nie so deutlich wie seinen Vater wahrgenommen. Aber jetzt spürte er, daß sie es gewesen war, die alles zusammen gehalten hatte. Trotz all der Ungerechtigkeiten, die sie immer wieder ertragen hatte. Diese Gewißheit schmerzte ihn.

Adrian war nun rund um die Uhr mit der Ernte beschäftigt. Er mähte das Gras und das Getreide und fuhr es in die Scheunen. Bald wäre auch der Mais an der Reihe. Nora half ihm, wo sie konnte. Manchmal, wenn sie sich nach Ruhe sehnte, stieg sie die Leiter zum Heuboden hinauf und setzte sich neben Falkos Käfig auf einen der duftenden Ballen. Hier oben war es still und dunkel. Manchmal wanderte sie über die Obstwiese und begutachtete die kleinen Früchte, die sich zu bilden begonnen hatten. Aber jedes mal, wenn sie durch den Garten ging, haftete ihr Blick sich streng an den verwilderten Beeten fest.

Eines Tages faßte sie einen konkreten Plan. Es war ein Samstagmorgen und Willhelm und Adrian waren auf den alten Hollandrädern zum Stammtisch ins Dorf gefahren. Nora nahm Geld aus der Haushaltskasse und griff nach dem Autoschlüssel, der am Schlüsselbrett hing. Es war der Schlüssel für den Mercedes. Sie schlich sich aus dem Haus, als wäre jemand da, der sie und ihre heimlichen Machenschaften bemerken könnte. Langsam schob sie das Garagentor nach oben. Als sie den Schlüssel drehte und das Gaspedal betätigte, machte der Wagen einen gewaltigen Satz nach vorne. Nora schrie erschrocken auf. Ihr Herz hüpfte unruhig. Sie versuchte es ein zweites mal mit etwas weniger Druck auf dem Gaspedal. Das Auto fuhr an. Sie fuhr über den Hof zur Scheune, wo der Anhänger stand und parkte den Wagen davor. Das Tor war schwer und sie mußte ihre gesamte Kraft aufbringen, um es aufzuschieben. Den Anhänger zog sie ebenfalls unter Einsatz all ihrer Körperkräfte. Da es aber auf dem letzten Stück leicht bergab ging, rollte er von selbst auf den Mercedes zu. Nora konnte gerade noch zur Seite springen und zusehen, wie die Zugleiste des Anhängers gegen die Stoßstange des Mercedes rammte und der Anhänger schräg hinter dem Auto zum Stehen kam. „Nein“, flüsterte sie mit erstarrtem Blick. Aber in ihrem Kopf begann sich etwas zu drehen. Ein leichtes Schwindelgefühl kitzelte ihr Gehirn. „Halb so schlimm“, hallte es dort, „dafür wird der Garten umso schöner.“ „Ja“, sagte sie, „ja!“ Sie zerrte den Anhänger so zurecht, so daß sie ihn an den Mercedes ankuppeln konnte. Sie versuchte, die Beule an der Stoßstange zu ignorieren. Fröhlich pfeifend schwang sie sich hinter das Lenkrad. Sie drehte das Radio weit auf und sang mit. „Das bin ich, das bin ich, das allein ist meine Schuld...“. Sie mußte Lachen, weil der Text so gut paßte. Auch das, was der Radiomoderator sagte, mußte für sie bestimmt sein. Vielleicht wurde der Hof ja abgehört und was sich dort abspielte zu kleinen Beiträgen zusammen geschnitten im Radio gesendet? Und sie bekam jetzt Zuspruch von dem Moderator. Unterhaltsam wäre eine Eichhof- Dinker- Soap bestimmt, dachte sie schmunzelnd. Und sie würde sich standhaft zeigen, würde weiterhin das Gute vertreten und tun, was sie könnte, um den Pflanzen und Tieren beizustehen. Und natürlich Adrian. Adrian. Er war bestimmt stolz auf sie. Ein Auto kam ihr entgegen. Die Straße war sehr eng und so fuhr sie an den Rand, um dem entgegenkommenden Fahrzeug nicht im Wege zu sein. Nora erkannte Paul hinter dem Steuer und winkte ihm fröhlich mit einer Hand zu. Er winkte freundlich zurück. Sie war nun ein gutes Stück auf der Landstraße gefahren. Sie fühlte sich stark und Vorfreude erfüllte sie, als sie auf den Parkplatz des Gartencenters bog.

Adrian und Willhelm hatten sich am Nachmittag auf den Heimweg gemacht Willhelm hatte während de Stammtisches so viel getrunken, daß sein Fahrrad jetzt hin und her schlingerte. Er war durch eine Pfütze gefahren und die Reifen seines Fahrrades hinterließen Wellen auf dem Asphalt. Konzentriert behielt Willhelm die Straße und die Grasstreifen links und rechts von ihr im Blick. Er wußte, was passieren konnte, wenn das Fahrrad von der Straße abkam. Adrian fuhr voraus. „Vorsicht“, rief er über die Schulter Willhelm zu, „wir müssen jetzt abbiegen!“ Dann bog er nach links ab, auf den langen Teerweg, der zum Hof führte. Als er durch die Einfahrt fuhr, war er irritiert. Mitten auf dem Hof stand der Mercedes seines Vaters. Der Anhänger war an ihn angekoppelt und die Rückklappe war geöffnet. Die Reifen von Mercedes und Anhänger waren lehmverschmiert und der Dreck war bis an die Fensterscheiben gespritzt. Die Garage war geöffnet und der Gartenschlauch war bis auf den letzten Zentimeter abgerollt und verschwand hinter der Hauswand im Garten. Die Haustür stand offen. Ein Kabel führte aus der Steckdose im Flur hinaus zu einem Radio, das neben der Haustür stand. Laut hallte die Musik im Innenhof wieder. Adian, der von seinem Rad gestiegen war, ging auf das Gerät zu. Mit einer Hand zog er wütend an dem Kabel, so daß der Stecker im Flur aus der Steckdose und auf die Fliesen fiel. Adrian sah seinen Vater langsam durch die Einfahrt fahren und überlegte, ob er zu ihm gehen oder Nora suchen sollte. Er entschied sich für letzteres und folgte dem Gartenschlauch hinter das Haus. Dort hockte Nora. Ihre Hände steckten in derben Handschuhen und schoben große Erdbrocken in eine Vertiefung.An einigen Stellen konnte man Spuren von Mist erkenne, den Nora vermutlich in das Loch gefüllt hatte. In diesem stand ein junger Apfelbaum. Nora drückte die Erdklumpen über seinen Wurzeln so sorgfältig fest, daß sie Adrian nicht bemerkte. Dann stand sie auf und tippelte ,mit ihren Füßen den Boden festtretend, um den Baum herum. Er ließ seinen Blick schweifen. Die Beete waren umgegraben und ein Brombeerbusch war gestutzt worden. Auf der Rasenfläche lagen wild verteilt ein Spaten, eine Rosenschere und eine Astschere, so wie unzählige schmale Zaunlatten und einige dickere. Ein Sack Zement und eine große Plastiktüte, so wie verschiedene Kräuter in kleinen Plastiktöpfen vervollständigten das Chaos. Adrian verschränkte die Arme vor seiner Brust und sah zu Nora, die sich jetzt aufrichtete und seien Blick erwiderte. „Oh, hallo. Ich habe mich schon gewundert, wieso das Radio auf einmal nicht mehr zu hören war!“

„Du hast einfach Vaters Auto benutzt. Ohne ihn zu fragen!“

„Es sollte eine Überraschung sein.“

„Ja, das wird ihn auch überraschen! Du tust auch wirklich alles, um ihn zu ärgern!“

Wenn schon, dann um ihn zu verärgern, dachte Nora wütend und machte sich wortlos daran, die Dinge, die auf dem Rasen lagen, in die Garage zu tragen. Adrian sah ihr stur dabei zu. Nun lag nur noch der Zementsack dort. Adrian seufzte und schleppte ihn hinter Nora her, die gerade in der Garage verschwunden war. Sie sah zu, wie er den Sack unter das schmale Metallregal schob. „Wozu brauchen wir eigentlich noch einen Apfelbaum im Garten, wo wir doch die Obstwiese haben?“, fragte er.

„Es ist ein ganz besonderer Apfelbaum.“

„...Haben die dir im Baumarkt erzählt!“ Adrian schnaubte abfällig.

„Nein. Ich habe mir einen Katalog zukommen lassen und dann diesen Baum bestellt. Ich wollte genau diesen Baum genau hier pflanzen. Er heißt John Downie und ist eine sehr alte und sehr zähe Sorte. Er wird schmackhafte Früchte tragen und dem Bärlauch Schatten spenden, die ich unter ihm pflanzen werde.“

„Ich muß jetzt nach Willhelm sehen. Er könnte unglücklich fallen.“ Adrian verließ die Garage.

Nora lehnte sich an das schmale Fensterbrett. Plötzlich fühlte sie sich traurig und sie fragte sich, wie sie jemals wieder zur Uni gehen sollte. Sie konnte sich beim besten willen nicht mehr vorstellen, in einem der Hörsäle zu sitzen und dem Lernstoff zu folgen. Bei diesem Gedanken wurde sie von Panik ergriffen. In zwei Wochen fing das Semester wieder an. Sie fühlte sich einsam. Wenn Adrian nur etwas mehr Zeit hätte, damit sie miteinander reden könnten. Das würde aber bestimmt nach der Ernte wieder besser. Sie seufzte und stand auf, um auf den Hof zu gehen. Sie mußte ja noch den Mercedes und den Anhänger an ihre Plätze bringen. Der Mercedes! Ihr wurde übel, wenn sie daran dachte, daß er eine Beule hatte. Als sie am Küchenfenster vorbei ging, hörte sie Geschrei. Die Männer führten eine hitzige Diskussion auf Plattdeutsch. Nora biß sich auf die Unterlippe. Sie stutzte. Kein Mercedes und kein Anhänger weit und breit. Konnte sie ihren Sinnen noch trauen? Sie schaute in der Scheune nach. Dort standen Anhänger und Mercedes. Erleichtert ging Nora zur Eingangstür. Durch das Küchenfenster drang wieder das Geschrei der Männer. Sie glaubte, mehrfach ihren Namen gehört zu haben und drückte entschlossen die schwere Klinke. Als sie die Küche betrat, verstummten die Männer. Willhelm stand auf und im Vorbeigehen zischte er ihr zu: „Aber ganz doof bist du ja nicht, jetzt wo du schwanger bist, muß er dich ja nehmen!“ Eine Alkoholfahne wehte ihr entgegen und sie drehte den Kopf zur Seite, um ihr auszuweichen.

Dann sah sie traurig zu Adrian herüber. „Vielleicht sollte ich schon jetzt wieder in meine Wohnung ziehen. Die Semesterferien sind ja sowieso bald vorbei“, sagte sie matt und ließ sich auf einen der Stühle sinken.

Adrian saß ihr gegenüber. Seine Ellebogen waren auf die Tischplatte gestützt und sein Kopf ruhte auf den Innenflächen seiner Hände. „Ich finde es sehr schön, wenn du hier bist.“

„Komm mit nach draußen! Ich muß dich John Downie richtig vorstellen!“

Sie gingen in den Garten und betrachteten den jungen Baum.

„Die Sorte ist 1875 in England entstanden, alter Adel also. Er bekommt feine, etwas längliche orangerote Früchte, die früh reifen und fallen. Er ist robust und wenig anfällig gegen Krankheiten!“ Ihre Augen leuchteten verliebt.

„Aha.“

„Hallo!“ Durch das Gartentor kam jemand auf sie zu.

„Hallo!“, rief Nora

„Hallo Paul!“

„Wollt ihr euch setzen?“, Nora wies auf die Gartenstühle, „Ich hole euch etwas zu trinken.“

Willhelm saß auf der Bank im Garten und sah verwundert in die Obstwiese. Sein Blick war auf den alten Holunderbusch gerichtet. Es sah aus, als lehne sich das Gehölz mit dem Rücken an die alte Scheune. Er stand in voller Blüte und die weißen Dolden lockten Insekten an. Unter dem alten Holunderbusch wucherten große Brennesseln. Dort erkannte Willhelm nun eine Person, die in gebückter Haltung stand. Er griff mit seiner rechten Hand an seine Brusttasche und zog die Brille heraus, um sie aufzusetzen. Jetzt konnte er erkennen, daß es Nora war. Sie hatte wieder die groben Arbeitshandschuhe angezogen und hielt mit einer Hand die Brennesseln fest. Weiter unten an den Stielen, knapp über der Grasnarbe, schnitt sie sie mit einem großen Küchenmesser ab. Sie hatte jetzt ein kleines Bündel zusammen und richtete sich langsam auf. Sie streckte sich und gähnte. Dann sah sie eine Weile auf das Bündel Brennesseln, das neben ihr lag. Jetzt schaute sie zu den Holunderblüten. An ihrer rechten Hosentasche hing eine Rosenschere. Über dem scharfen Metallende, mit dem man schnitt, hing faltig der dunkelblaue alte Arbeitspullover. Vermutlich hatte sie den einen Teil des Griffes hinein gesteckt in ihre Hosentasche gesteckt, dachte Willhelm. Das konnte er aus dieser Entfernung nicht erkennen. Nora griff jetzt zur Rosenschere und schnitt ein paar der cremeweißen Blüten des Holunderbusches ab. Wilhelm seufzte. Er beobachtete, wie Nora die Dolden auf das Bündel Brennesseln warf. Sie blieben aber nicht auf den Brennesseln liegen, so wie Nora es vermutlich erwartet hätte. Nach dem Aufprall auf dem weichen Bündel kullerten die Dolden auf das Gras der Wiese und lagen verstreut um die Brennesseln. Willhelm sah lächelnd zu, wie Nora die Dolden einsammelte und auf die Brennesseln drückte und das Bündel etwas vom Körper entfernt hielt. Sie trug ihre Beute durch das Tor, das Wiese und Garten verband und ging zielstrebig auf die Hintertür zu. Sie würdigte Willhelm keines Blickes. Aber er war sich sicher, daß sie wußte, daß er sie beobachtete. Nora verschwand hinter dem Haus. Kurze Zeit später kam sie mit dem langen Küchenmesser wieder. Eine Korb hing an seinem Griff über ihren linken Unterarm. Sie nahm wieder den kürzesten Weg durch den Garten, um durch das Tor auf die Wiese zu gelangen. Verwundert folgte Willhelm ihr mit den Augen. Sie wanderte jetzt mit gesenktem Blick über die Wiese. Sie schien etwas zu suchen. Willhelm schüttelte seinen Kopf und kratzt an seinem linken Ohr. Jetzt hockte sie sich plötzlich hin und stach das Messer in den Boden. Das erinnerte ihn an frühere Zeiten, als es nichts zu Essen gab und man essen mußte, was man in Feld, Wald und Wiese fand. Er schüttelte den Kopf. Er litt unter Noras Umständlichkeit. Er litt unter ihrer komplizierten Art und Weise.

Nora war unendlich stolz. Sie hatte den Küchentisch geschmückt. Heute mittag hatte jeder eine große Servierte aus dünnem hellgrünem Papier auf seinem Teller liegen. Sie war eingerollt und auf den darum gewickelten Bastfaden war eine Zinnienblüte aufgefädelt. Eine alte Glasvase stand in der Mitte des Tisches. An ihren langen grünen Stielen schauten die unterschiedlich gefärbten Köpfe der Zinnien daraus hervor Neben jedem Teller stand ein Glas Orangensaft.

Die Männer kamen wie jeden Tag pünktlich um zwölf Uhr in die Küche. Noras Wangen glühten.

„Oh, ist heute was besonderes?“ Adrian war irritiert.

„Nein. Aber irgendwie ist doch jeder Tag etwas besonderes, oder?“

Willhelm pustete genervt Luft durch seine Lippen

Adrin trat einen Schritt auf Nora zu. „Das sieht auf jeden Fall sehr schön aus“, flüsterte er.

Hoffentlich schmeckt es ihnen, dachte Nora. „Nun setzt euch schon!“

Sie stellte die große Salatschüssel auf den Tisch. „Das hier ist ein Gänseblümchen- Löwenzahn-Salat. Aus eigener Wiese.“ Dann stellte sie einen Topf auf dem Tisch ab. „Dies hier sind Pfifferlinge in einer mit abgekochtem Eichelmehl angedickten Sosse auf Fasan. Alles aus eigenem Wald.“ Sie ging wieder zum Herd. „Und dieser letzte Bestandteil des Hauptgerichtes sind Bratlinge aus eigenen Brennesseln und leider fremdem Mehl und Ei.“

Adian und Willhelm bedienten sich an der Pilzsoße und dem Fleisch. Nora sah, wie Willhelm die Pilze genau untersuchte. Er wollte vermutlich sichergehen, daß es tatsächlich Pfifferlinge waren und keine Fliegenpilze, dachte Nora schmunzelnd und war zufrieden mit sich. Von dem Salat nahm nur Adrian und er ließ von der winzigen Portion den Großteil auf dem Teller liegen. Nora fand den Salat lecker. Sicher, die ersten Blätter im Frühling, die zart und hell waren, wiesen sicher weniger geschmackliche Bitterkeit auf als diese sommerlichen, großen, dunkelgrünen.... Sie spürte aber förmlich, wie gut ihr das Vitamin C der Gänseblümchen tat und wie der Löwenzahn ihren Bauch putzte. Das Kind muß gut gepflegt werden, dachte Nora. Ihr Bauch hatte sich bereits leicht gewölbt. Die Bratlinge wollte Willhelm nicht probieren. Adrian war etwas mutiger. Ganz langsam schnitt er ein kleines Stück ab und steckte es sich in den Mund.

„Und?“

Er nickte kauend. „Ja...Ja, das geht.“

Nora war etwas enttäuscht. Aber was hätte sie anderes erwarten sollen? Maria hatte bestimmt immer nach dem Geschmack der Männer gekocht, der vermutlich auch ihrem entsprach. Ihr Leben lang hatten die beiden , Vater und Sohn, vermutlich eine geringe Auswahl an deftigen Gerichten gegessen. Vielleicht konnte man nicht verlangen, daß sie ihre Gewohnheiten so schnell änderten. Vielleicht konnte man auch gar nicht von ihnen verlangen, daß sie ihre Gewohnheiten veränderten. Aber sie hatte ja noch den Nachtisch! Und der entsprach nun sicherlich einem älteren Rezept! Nora räumte hastig den Tisch ab und deckte kleine Teller mit Vertiefung und Löffel auf. Dann setzte sie eine Auflaufform neben die Vase mit den Zinnien.

„Dies hier“, sagte sie bedeutungsvoll, „ist die Nachspeise. Es sind Holunderblüten aus der eigenen Wiese in einem Teigmantel aus Ei, Mehl , Zucker und Butter. Man sagt auch „Hollakuchen“ dazu. Die Sosse besteht aus Brombeeren aus dem eigenem Garten.“

Willhelm aß die Brombeersoße und stand dann auf. Schlurfend verließ er die Küche.

„Schmeckt es dir denn wenigstens?“

Adrian bemühte sich, deutlich zu nicken, während er an dem „Hollakuchen“ knabberte.

Als sie schließlich allein mit dem dreckigen Geschirr in der Küche stand, verspürte Nora eine starke Müdigkeit. Sie öffnete die Klappe der Geschirrspülmaschine und stellte erschrocken fest, daß der Inhalt mit benutztem Geschirr gefüllt war. Sie war wütend. Es war egal, was sie hier tat. Hatte sie eine Sache erledigt, warteten bereits fünf andere. Manchmal kam eine Panik in ihr auf. Ein Gefühl, daß sie vielleicht die Kontrolle über ihr Leben verlieren könnte. Daß sie nichts mehr schaffen könnte, nicht einmal mehr das notwendigste. Manchmal hatte sie nur einen Wunsch: zu schlafen, so lange sie wollte. Aber dann begann es wieder, in ihr zu kribbeln und sie hatte das Gefühl, ihr Leben war wichtig und sie wurde gebraucht und ein Gefühl von Abenteuerlust ließ sie albern und ausgelassen werden. Beherzt nahm sie die Küchenabfälle, die beim zubereiten der Nahrung entstanden waren und ging damit in den Stall. Die Bullen riefen bereits. Sie bekamen immer das, was in der Küche abfiel. Nora freute sich, wenn sie , froh über die Abwechslung, mit ihren Zungen nach den Gemüse- und Obstresten griffen. Sie versuchte es so einzurichten, daß jede Bullengruppe, die in diesem ersten Stallgebäude untergebracht war, mal drankam.

Es wurde langsam Herbst und das Laub an den Bäumen verfärbte sich allmählich bunt. Wenn es windig war, fielen bereits ein paar Blätter ab. Die Sonne verlor langsam an Kraft.

Schmetterlinge im Kopf

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