Читать книгу Das vierte ägyptische Jahr - Abdel Moneim Laban - Страница 4

Das Attentat

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Was für eine furchtbare Nacht, dachte der Arzt Eberhard Blessner. Im Traum kam es ihm vor, als würde er auf seinen Sohn einschlagen. Erbarmungslos schlug er auf ihn ein. Sein Sohn Eduard hob beide Hände, um sich gegen die fallenden Fäuste über seinem Gesicht zu wehren. Eberhard wachte auf und begann leise zu weinen, als es ihm einfiel, dass Eduard seit einigen Jahren tot war. Manchmal kamen ihm Zweifel, ob er jemals seinen Sohn geschlagen hatte. Eduard litt unter Kinderlähmung, war an einen Rollstuhl gefesselt vom fünften Lebensjahr an. Als Eduard noch lebte und ihn an seine Rolle als hilfloser Vater erinnerte, blieb Eberhard nichts anderes übrig, als sich zurückzuziehen und zu üben, leise, sehr leise zu weinen.

„Papa, du bist doch Arzt, warum kannst du mir nicht helfen?“

Eberhard konnte die Frage nicht beantworten, konnte seinem Sohn nicht helfen und dachte schon, er könne überhaupt nichts, gar nichts.

Dieser Traum wiederholte sich manchmal in regelmäßigen und manchmal in nicht regelmäßigen Abständen. Er hat sich nie angekündigt, sonst würde er lieber eine schlaflose Nacht verbringen, als sich jenen qualvollen Momenten aussetzen zu müssen.

Eberhard Blessner konnte schwören, er hatte niemals solch eine abscheuliche Tat begangen. Diese Gewissheit beruhigte ihn nicht, wie er sich gewünscht hätte. Dieser Albtraum verfolgte ihn seit Jahren. Immer wieder diese Wut, die seine erbarmungslosen Schläge steuerte. Er kam sich niederträchtig, gemein und verbrecherisch vor. Vielleicht war dieses Gefühl der Grund dafür, dass er sich Themen einfallen ließ, die seine betrübte Stimmung verdeckten. Wie es an jenem Morgen geschah, als er sich verpflichtet fühlte, zu den Tagesereignissen Stellung zu nehmen.

Kommt es zum Krieg oder kommt es nicht zum Krieg! So lautete ‚Le Figaro's Schlagzeile. Er las weiter, aber eine eindeutige Antwort auf die Frage erhielt er nicht. Zurück blieb diese Angst, die ihn in den letzten Jahren begleitet hatte. Seit diesem verhängnisvollen Ereignis hatte er das Gefühl, dass ihm alles aus den Händen geglitten war. Er ließ sich einfach von einem unbekannten Wasserstrom tragen. Zu einem unbekannten Ziel, an einen unbekannten Ort. Angst um seine Frau Gertrud und seine Tochter Luise und natürlich Angst um sich selbst. Angst zu sterben. Nicht dass er Angst vor dem Tod hatte, aber die Angst, eine Tochter und eine Frau hilflos jener Welt zu überlassen. Ich darf nicht versagen, sagte er sich. März 1940 und die Rede war davon, ob Italien in den Krieg eintreten würde oder nicht.

Gertrud saß neben ihm auf dem Sofa, das ihm in den ersten zehn Jahren nicht gehörte hatte, denn er kaufte es gebraucht.

"Was hat das zu bedeuten?"

Wie viele Menschen saßen darauf mit Sorgen?

"Sollen wir hier bleiben oder nicht, das ist hier die Frage", meinte Eberhard.

Er schaute seine Frau verstohlen an. Ihr immer noch blondes Haar formte sich zu einer bescheidenen Mähne und gab sich vergeblich Mühe, dichten Wuchs vorzugaukeln. Sie beklagte sich, dass sie, seitdem die Familie sich in Frankreich aufhielt, an Haarausfall litt.

"Nein", ereiferte er sich, "dein Haar sieht immer noch wunderbar aus."

Sie glaubte ihm natürlich nicht, obwohl er seine Beschwichtigungen ernst meinte. Sie lebten in Marseille und hofften, das Kriegsende hier abwarten zu können. Vor einigen Jahren waren sie von Breslau gekommen, lange vor dem Einmarsch in Polen.

Eberhard Blessner konnte die Hoffnung nicht aufgeben, dass der Krieg nur einige Monate dauern würde. Er hatte das prophezeit. In Wahrheit glaubte er selbst nicht daran, aber was tut man nicht alles, um dem Alltagsgeschehen ein Mindestmaß an Normalität zu verleihen.

In Marseille bewohnten sie eine Dreizimmerwohnung am Boulevard Mirabeau dicht am Güterbahnhof. Die Miete war zwar nicht gerade niedrig, aber woanders in der Stadt hätten sie immerhin das Doppelte bezahlen müssen. Eberhard sagte sich, in diesen Zeiten könne man nicht genug Geld in Reserve haben. Solche Gedanken konnte er vor seiner Frau nicht äußern. Sie befürchtete sofort das Schlimmste, fing dann das Kettenrauchen an, beklagte sich über Kopfschmerzen und zitterte am ganzen Körper. Und eines Tages erwischte er sie dabei, wie sie einige Haarbüschel vom Kopf riss.

"Gertrud, was machst du?", schrie er sie entsetzt an, als würde sie sein eigenes Haar ausreißen.

Sie sagte nichts. Gut, sinnierte er, dass ich mein Haar kurz halte. Dann war ihm klar, warum ihre Haarsträhnen überall vorzufinden waren.

Sollte er predigen: "Gertrud, so was tut man nicht. Lass deine Haare in Ruhe."

Stattdessen begann Eberhard, Überzeugungsarbeit zu leisten.

"Wie schön ist es, direkt am Hafen zu wohnen, wo man jeden Tag spazieren gehen kann, wenn man nur will. Und vor allem dieses Hafenpanorama, wo gibt es noch so was. Der Himmel so endlos wie das Wasser, unzählige Schiffe fahren in den Hafen, und eine frische Brise weht direkt vom Meer. Schau dir das an, Gertrud, ganz weit weg, wo Himmel und Meer ineinander übergehen, da denke ich manchmal, sie seien eine Einheit." Gertrud schaute nicht hin.

Eberhard zog seine Jacke an und stand vor dem Spiegel. Was wird aus mir und meiner Familie, sinnierte er. Sein schmales Gesicht empfing das schwache Licht der Lampe, die im Korridor über der Garderobe hing. Kantige Stellen von Licht und Schatten gingen ineinander über und deuteten auf die Falten hin, die er vergeblich zu glätten versuchte, indem er sich anstrengte, freundlich zu erscheinen. Das half nur vorm Spiegel. Lange gab er sich damit zufrieden. Nur Gertrud erinnerte ihn oft daran, dass er kein finsteres Gesicht machen sollte, da er dadurch um zehn Jahre älter aussehen würde.

"Ich mache kein finsteres Gesicht", wehrte er sich.

„Nachmittags Sprechstunde“, sagte er beim Gehen. Er wollte vermeiden, dass Gertrud ihn in ein Gespräch verwickelte, wodurch er verspätet in die Praxis käme.

Die Wohnung war in aller Eile eingerichtet worden. Ein Sofa, ein Doppelbett, vier Stühle, ein Kleiderschrank, ein Kohleherd und eine Stange versehen mit ein paar Haken, die als Kleidergarderobe diente. All diese Gegenstände waren bei einem Gebrauchtmöbelhändler erworben worden, um nicht zu sagen bei einem Trödler. Obwohl wiederum für viel Geld erworben war die Summe trotzdem nicht mit dem Preis zu vergleichen, den sie für neue Möbel hätten bezahlen müssen.

Sie wohnten im Erdgeschoss, trotzdem verzichteten sie am Anfang auf Vorhänge. Nach und nach mussten sie sich davon überzeugen, wie wichtig es war, die Kosten für gebrauchte Vorhänge aufzubringen. Voyeure, dachte Eberhard. Die Vorhänge waren auch nicht neu. Sie hatten ein langes Leben damit verbracht, ihm unbekannten Menschen, Sichtschutz zu gewähren. Da und dort weigerten sich einige Löcher im Textil, diesen ersehnten Sichtschutz zu bieten. Aber sie waren nicht groß genug, Voyeure anzulocken.

Das Allerschlimmste an dieser Wohnung war, dass sich das Klo im Treppenhaus befand und sich niemand für die Besorgung von Toilettenpapier zuständig fühlte (meistens lagen Zeitungen ganz oder zerschnippelt auf der winzigen Fensterbank). So verließ ein jeder seine Wohnung mit einer Toilettenrolle in der Hand, wie mit einem Kompass ausgestattet, und suchte die Einsamkeit. Gertrud hasste dieses Ritual und fühlte sich von jedem, den sie im Treppenhaus traf, angegafft. Sie wollte nicht, dass irgendjemand ihre Gedanken lesen könnte. Hier war es mehr als offensichtlich, was sie sich in nächster Zeit vorgenommen hatte. Einmal vergaß sie den Wohnungsschlüssel und musste einige Minuten im Morgenrock vor der Tür stehen (weil sie Luise nicht aus dem Schlaf reißen wollte), bis Eberhard nach einer Viertelstunde mit der Zeitung und frischen Brötchen zurückkam.

Ein Heidengeld hatte Eberhard bezahlen müssen, damit er vorläufig als Arzt in Marseille arbeiten konnte. Er war auch dankbar dafür, dass es so etwas wie korrupte Beamte gab; wie hätte er sonst seine Familie ernähren können? Als Deutscher im Feindesland.

Diese Vorläufigkeit dauerte an seit dem Tag, an dem er in Marseille zu praktizieren begann, mehr als drei Jahre. Seine Patienten waren hohe Beamte, die kurz vor der Pensionierung standen und, wohl aus Gründen der praktischen Vernunft, noch mitnehmen wollten, was noch mitzunehmen war. Alte, erfahrene Hasen, einige davon waren Kant-Kenner, die wussten, wann die theoretische und praktische Vernunft miteinander nicht im Einklang zu bringen waren und zogen trotzdem die notwendige Konsequenz daraus, und die hieß, nimm mit, was du gern dein Eigen nennen möchtest. Alte Beamte im hohen Dienst, die an Verengung der Lebensperspektiven und Vergrößerung der Prostata litten.

Eberhard musste sich immer wieder insgeheim eingestehen, dass es mit dem Krieg ernst war. Dabei hatte er Gertrud fest versichert, dass dieser Krieg sich auf Polnisches Territorium beschränken würde.

„Warten wir ab, ob Italien wirklich in den Krieg ziehen wird!", tönte er. Er wollte nur seine Frau beruhigen, aber Gertrud ging nicht darauf ein.

„Dann wandern wir nach Australien aus, und dort sind wir hundertprozentig sicher", versuchte Luise Stimmung zu machen. Freude kam nicht auf.

Zur selben Zeit, in der Eberhard die Zeitung aufschlug, versuchte ein ägyptischer Beamter die Zukunft zwischen den Zeilen der Zeitung "Al Ahram" zu lesen. Er war der Staatsanwalt Wagdi Hefnawi. Er saß im Bus, der zwischen Demiatta und Mansoura in Nord-Ägypten pendelte. Der Bus rüttelte und schaukelte. Sein ovales Gesicht verbarg er hinter der Zeitung. Nur sein Tarbusch, in dezentem Dunkelrot, verlieh seinem Kopf eine erhabene ägyptische Beamtenwürde. Bei näherem Hinsehen hatte Wagdi rötliche Wangen und für einen Ägypter hatte er übertrieben helle Haut. Seine schwarzen Augen trugen schwere Lider, und wer ihn betrachtete, musste den Eindruck gewinnen, diese Augen hätten den Kampf mit einer Last aufzunehmen, bevor sie in Erscheinung treten.

Er überflog die Schlagzeilen, aber die Zeitung gründlich zu lesen, war unmöglich. Die Sätze bildeten seismographisch das Rütteln und Schütteln des Busses ab und seine Augen hatten Mühe, die in Unruhe geratene Schrift zu lesen. Er faltete sie zusammen und steckte sie in die Tasche. In Askour stieg er aus.

Sechs Jahre hatte er in Demiatta verbracht, nie hatte er geglaubt, dort so lange bleiben zu müssen. Jedes zweite Jahr hatte er eine Petition an die Aufsichtsbehörde in Mansoura geschrieben und darum gebeten, ihn nach Alexandrien zurück zu versetzen. Jedes Mal war sein Antrag abgelehnt worden. Eines Tages meldete sich Besuch aus Kairo an: Der Staatssekretär Ibraschi erschien in seinem Büro und fragte, ob er nicht bereit sei, für eine Weile in Askour zu arbeiten. Wagdi fühlte sich geehrt, denn dass sich der Herr Staatssekretär persönlich zu ihm bemühte, wertete er als einen beachtlichen Vertrauensbeweis.

"Nach der Ermordung des Innenministers in Askour", erklärte Ibraschi, "müssen wir Flagge zeigen! Ich halte Sie für genau den richtigen Staatsanwalt, der dieser Aufgabe gewachsen ist!"

Erst später begann es Wagdi Hefnawi zu dämmern, worauf er sich eingelassen hatte. Was soll's, dachte er. Trotzdem überlegte er hin und her, ob er zustimmen sollte oder nicht. Es hatte schon früher die Möglichkeit gegeben, nach Askour zu gehen, aber er hatte immer gezögert. Erst nach dem Besuch des Staatssekretärs stand er dem Gedanken aufgeschlossen gegenüber. Jetzt, nach der Ermordung des Innenministers, ergab sich eine völlig neue Lage.

Alle Kollegen warnten ihn. Alle. Jeder versuchte auf seine Art, ihn zurückzuhalten. Aber vielleicht gab das den letzten Ausschlag dafür, der Versetzung zuzustimmen. Aus Trotz. Insgeheim gestand er sich ein, auf seine Kollegen wahrscheinlich lächerlich gewirkt zu haben.

Wieder musste er an den Staatsanwalt denken, den er ablösen sollte. Wie hieß er gleich noch? Er sah ihn vor sich, ein kleiner alter Mann, auffallend klein sogar.

Vielleicht verschaffte ihm gerade seine Kleinwüchsigkeit diese Autorität; ansonsten war der Mann immer übertrieben höflich gewesen. Er gestikulierte mit beiden Händen wie ein begnadeter Zeremonienmeister, machte kleine Verbeugungen und entwaffnete dadurch seinen Gesprächspartner. Gestern hatte er den Namen noch gewusst, er hätte ihn sich aufschreiben sollen.

Der Bus rüttelte und schüttelte. Bis Askour war es nicht mehr weit. Ein alter Bus mit abgenutzten Sitzen, die an den Rändern dunkler waren, und mit Dellen, die drückten. Der Sitz war groß genug, um die Spuren aller, die darauf Platz genommen hatten, in seinem Gedächtnis zu behalten. Der Bus fuhr mit Diesel, der Geruch war übel und pflegte seinen Magen dazu zu verleiten, sich zu drehen. Dann solidarisierte sich sein Kopf mit seinem Magen, wodurch er manchmal Kopfschmerzen kriegte. Er stieg aus. An der Haltestelle standen ein Zigarettenverkäufer, ein Zeitungsjunge und eine Frau, die lautstark Lotteriescheine an den Mann bringen wollte. Jedem Käufer wurde Glück und langes Leben versprochen, die außerdem von der staatlichen Lotteriestelle garantiert wurden. Die Verkäuferin gab dies in ermüdender Monotonie bekannt.

Neben der Haltestelle befand sich ein kleines Café mit verglasten Holzwänden; die Rahmen waren zersplittert und der weiße Lack abgeblättert. Offenbar diente das Café in den ersten Monaten seines Bestehens den Reisenden als Aufenthaltsraum. Später setzte das Zerstörungswerk von Mensch und Natur ein und entfremdete den ursprünglichen Zweck. Trotzdem saßen Menschen da, tranken Tee oder Kaffee und warteten auf den Bus.

Ein Kanal verlief parallel zur Straße. Die eine Seite des Kanals war dicht besiedelt. Einige überhängende Dächer spiegelten sich im Wasser wider. Auf der rechten Seite standen zwei Villen, die von Feldern umgeben waren. Die eine Villa gehörte, wie er später erfuhr, dem Bürgermeister, die andere dem Leiter des Polizeireviers. Wagdi Hefnawi musste über eine Brücke gehen, um in die Stadt zu gelangen. Bevor er die Brücke überquerte, sah er ein großes Gebäude - das Gymnasium. Gegenüber dem Gymnasium, auf der anderen Kanalseite, stand ebenfalls ein gewaltiger Bau. Es war das Polizeirevier, an das sich das Gefängnis anschloss. War es ein Zufall, dass das Gymnasium und das Gefängnis so dicht beieinander lagen? Er lächelte kurz.

Die Straße zog sich gerade hin. Ein Straßenfotograf mit einer dreibeinigen Kamera, ein Krämerladen und die Feuerwehr. Sonst überwiegend Wohnhäuser. Dann machte die Straße einen Bogen. An der Biegung war ein kleiner gepflegter Garten zu sehen. An einem Pfosten hing ein Brett, auf dem "Zutritt verboten" stand. Rechts zweigte ein Weg ab, der mitten durch die Felder zum Fluss führte.

Immer wenn er nach Mansoura gefahren war, hatte der Bus kurz in Askour angehalten. Nein, nach Askour wollte er nie. Er hatte die alten, hinfälligen Häuser aus dem Busfenster betrachtet und war froh gewesen, in dieser Stadt nicht arbeiten zu müssen. Auf keinen Fall hätte es ihn dorthin gezogen.

Der einzige, der ihm diese Versetzung, die er im Grunde doch als eine Art Erniedrigung empfand, hätte ersparen können, wäre dieser Staatsanwalt gewesen. Wie hieß er noch? Bekir, ja genau, Ibrahim Bekir, so hieß er. Wieso war ihm der Name nicht vorher eingefallen? Wie auch immer, jedenfalls wollte Bekir nicht länger im Dienste der Gerechtigkeit stehen. "Wissen Sie, ich habe lange genug vergeblich für die Gleichheit unter den Menschen gearbeitet. Nun sind Sie dran!"

Wagdi fand es absurd, den Mann von seinem Vorhaben abbringen zu wollen.

Er sagte bloß: "Ich sollte ohnehin nur zwei Jahre in Demiatta arbeiten!"

Aber Bekir schien nicht hingehört zu haben, jedenfalls äußerte er sich nicht dazu. Sie hatten sich ein paar Mal in Askour, Demiatta und Mansoura getroffen, immer nur dienstlich, um Wagdi in die neue Arbeit einzuführen.

"Wissen Sie, als ich damals angefangen habe, musste ich mir alles allein aneignen. Seien Sie froh, dass ich Ihnen zur Seite stehe!"

Wagdi war nicht froh. Wie sollte er auch? In den letzten sechs Jahren war weit und breit kein Zeichen von Erfolg zu sehen gewesen, ein Umstand, mit dem sich seine Arbeitskollegen längst abgefunden hatten.

"Was erwartest du? Was stellst du dir unter Erfolg vor?", fragten sie.

Keiner der letzten Morde war aufgeklärt worden. Wahrscheinlich hätte das Ministerium auch jetzt keinen sonderlichen Aufwand betrieben, wenn nicht der Innenminister unter den Ermordeten gewesen wäre, überlegte Wagdi. Schließlich war Mord nichts Außergewöhnliches in Askour.

Jedem Beamten, der sich etwas zuschulden kommen ließ, drohte die Versetzung nach Askour, Oberägypten oder in die Oasen. Er hatte sich aber nichts zuschulden kommen lassen. Er fühlte sich unbescholten, war ein friedlicher Typ, der auf keinen Fall auffallen wollte. Deshalb hatte er sich ja auch vom Staatssekretär Ibraschi überreden lassen, sagte er sich bedauernd.

Wer konnte ein Interesse daran haben, den Innenminister Gaafer zu ermorden? Gaafer hatte den Askouris die Rechte gegeben, die sie seit Jahrhunderten verlangten. Askouris durften Beamte werden, durften studieren, alle möglichen Berufe ergreifen, sich niederlassen, wo sie wollten. Das war früher nicht möglich gewesen. Und ausgerechnet diese Leute sollen den Innenminister auf offener Straße erschossen haben?

"Du glaubst wirklich, dass die Askouris ihn ermordet haben?", fragten seine Kollegen ungläubig.

Natürlich wussten sie wieder einmal alles besser. Es gab nichts Schlimmeres als Justizbeamte, besonders dann, wenn sie aus Demiatta kamen.

"Wenn ihr alles wisst, heraus mit der Sprache: Wer hat ihn ermordet?" fragte Wagdi.

"Wer den Innenminister ermordet hat? Denkbar ist alles, bloß nicht, dass es die Askouris waren!", antworteten sie.

Eine sehr plausible Antwort, dachte Wagdi. Manchmal hatte er Schwierigkeiten, seine Kollegen zu verstehen. Aber wen störte das schon. Wieder und wieder drängte sich ihm die Frage auf: Wer hat den Innenminister ermordet?

Von weitem sah er das Grabmal. Er kannte es bereits von Bildern, die sich hier, wo immer man ging und stand, einem aufdrängten. Ein Kollege aus Demiatta hatte ihm erklärt, was es mit dem Grabmal auf sich hatte: "Das ist die berühmte Gedenkstätte von Turanschah. Hier liegt jener Mann begraben, der der Justiz die meiste Arbeit gemacht hat. Wir können ihm nur dankbar sein, dass er einem Heer von Justizbeamten Arbeit und Brot gibt!"

Es waren nur einige Meter bis zum Grabmal. Sollte er hingehen? Er blieb noch stehen und überlegte. Einige Passanten schauten ihn neugierig an; arme Bauern, die ihn, den Beamten, mit seinem nagelneuen Anzug aus englischer Wolle, dem weißen Hemd und dem Tarbusch in dezentem Rot bewunderten. Er hatte sich diese Kleider kurz vor Kriegsausbruch gekauft, ungefähr im Sommer 1939 musste das gewesen sein. Ja, genau. Er hatte sich an seinem dreißigsten Geburtstag eine Freude machen wollen und sich vollständig neu eingekleidet. Ein Jahr später hätte er sich diesen Luxus nicht mehr leisten können, die Preise waren davongelaufen. Justizbeamte in exponierter Stellung sollten auf die Kleidung und die gesamte Erscheinung achten, hieß es in einer Dienstschrift für Staatsanwälte.

Er ging weiter. Es war noch kühl an diesem frühen Morgen. Die Sonne wärmte zwar bereits, aber er merkte beim Laufen, wie ihn eine kalte Brise streifte. Auf den Feldern lag ein Hauch von Nebel. An Spinnfäden kondensierte die Feuchtigkeit in kleinen, glasklaren Wasserkügelchen. Die Felder waren fast systematisch in Rechtecke geteilt. Die jungen Pflanzen ordneten sich der Macht der Geometrie unter; der optische Eindruck wechselte mit der Perspektive. Es schien, als änderten die Pflanzen bei jedem Schritt ihren Standort. Was für Pflanzen dies waren, wusste er nicht.

Bauern, die auf Pferdewagen saßen oder auf Eseln ritten, grüßten beim Vorbeikommen oder schauten ihn auch nur neugierig an. Der lehmige Weg war feucht, und Wagdi machte sich Sorgen um seine frisch polierten Schuhe. Lehmflecken hätten dem Glanz beträchtlich geschadet. Das wäre ein unverzeihlicher Verstoß gegen die Kleidungs- und Erscheinungsvorschriften für Justizbeamte in "exponierter Stellung". Außerdem, das wusste er aus Erfahrung, ließen sie sich ziemlich schwer entfernen.

Rechts am Ende des Wegs stand eine Villa, oder das, was von ihr übriggeblieben war. Kletterpflanzen wucherten um das Haus. Wagdi hatte den Eindruck, als würde das Haus von ihnen zusammengehalten. Einige Flecken verrieten, dass das Haus früher mit gelber Farbe gestrichen wurde. Die Reichen in dieser Gegend bevorzugten für ihre Villen die Farbe Gelb. "As Saraya as-safra", die gelbe Villa, wer da wohnte, galt als vornehm. Was diese Villa hier betraf, so mag sie vielleicht vor hundert Jahren einen gepflegten Eindruck gemacht haben.

Nach altem Brauch wohnten alle Richter und Justizbeamte in Demiatta oder Mansoura. Nach Askour fuhr man nur dann, wenn die Amtsgeschäfte es verlangten. Lediglich dem Leiter des Polizeireviers war es vorbehalten, in Askour zu wohnen; den Polizisten natürlich auch.

Angeblich sollten die Einwohner von Askour unter Schlaflosigkeit leiden. Menschen, die in Askour die Nacht verbrachten, erfuhren nie den Segen des Schlafs, hieß es. Wagdi hatte einen Mitarbeiter gefragt, ob das stimme. Eine klare Antwort hatte er nicht bekommen. "Probieren Sie es doch mal", erklärte der Mann scherzhaft.

"Es gibt so viele Erklärungen, warum die Askouris den Segen des Schlafes nicht kennen. Wer kann da schon wissen, was stimmt und was nicht."

Da die Gegenwart vielen, die in Askour zu tun hatten, nicht gerade erquicklich erschien, hatten sich einige von ihnen lieber mit der Vergangenheit dieser Stadt befasst. Niemand konnte die Herkunft der Einwohner mit Sicherheit zurückverfolgen. Einige Geschichtsschreiber behaupteten, dass die Askouris von den Pharaonen abstammten, also von Vorfahren, die das Licht des wahren Glaubens nie erfahren hatten. In ihrer Religion seien bestimmte Elemente vorhanden, die noch der heidnischen Frömmigkeit der alten Ägypter verpflichtet sind. Die Kopten, die sich als die einzigen wahren Nachfolger der alten Ägypter verstanden, protestierten heftig dagegen. Andere Historiker meinten, sie seien die Nachfolger der alten Karthager, die sich nach dem Fall von Karthago in Askour niedergelassen und von Beutezügen gegen ihre Nachbarn gelebt hätten. Wieder andere glaubten, Beweise dafür gefunden zu haben, dass die Askouris Nachfahren der Kreuzzügler waren, die die Stadt im dreizehnten Jahrhundert belagert hatten. Diese Kreuzzügler hatten angeblich ihr Gedächtnis verloren und nicht gewusst, wie sie nach Hause kommen konnten.

Andere gingen mit ihren Thesen so weit, dass sie behaupteten, die Askouris wären nichts anderes als die Nachkommen der Zauberer, die der Pharao gerufen hatte, um Moses zu überlisten. Moses hatte sie verflucht und in die Wüste des ewigen Vergessens geschickt. Viele andere vertraten die Meinung, dass sie von den Afarits abstammten, die von König Salomon beauftragt worden waren, das Flussbett des Nils zu vertiefen. Da sie nicht immer gehorsam waren, bestrafte sie König Salomon so, dass er ihr Gedächtnis außer Kraft setzte.

Die Askouris wurden von den Muslimen abgelehnt; die Kopten distanzierten sich von ihnen, und die Juden wollten mit ihnen nichts zu tun haben. Die Zentralregierung hatte etliche Versuche unternommen, die Askouris zu bekehren. Aber die Missionare kehrten von den vielen Versuchen, die alle zum Scheitern verurteilt waren, nicht zurück. Es hieß, dass jeder, der das Lebensgefühl der Stadt zu verändern suchte, vom Fluch der Vergesslichkeit heimgesucht würde. Es hieß auch, dass alle, die sich länger als drei Tage in der Stadt aufhielten, ihr Gedächtnis allmählich verlieren würden. Genaue Angaben über die Zeit, die verstrichen sein musste, bis die Menschen kein Erinnerungsvermögen mehr hatten, gab es nicht. Vorsichtshalber hatte die Zentralregierung die Errichtung und die Betreibung von Hotels und Pensionen verboten, damit ahnungslos Reisende nicht in Gefahr gerieten, Schaden zu nehmen.

"Tatsache ist, dass die Zentralregierung mit dem Hotelverbot erreichen will, dass Askour und Umgebung aus der jetzigen Isolation nicht befreit werden sollen. Gerüchte um die Vergesslichkeit der Askouris und ihre Schlaflosigkeit sollen den Eindruck erwecken, dass wir ein absonderliches Volk seien", schrieb ein Askouri namens Zidan.

Doch in den letzten Jahren hatte die Regierung diese Einschränkungen abgeschafft. Den Askouris war es endlich erlaubt, Hotels und Pensionen zu eröffnen. Aber niemand machte Gebrauch davon.

Wagdi blieb vor der einstmals gelben Villa stehen. Er sah, wie die Kletterpflanzen durch die Risse und Löcher im Mauerwerk drängten und ihr Werk der Zerstörung weiter trieben. Ja, das Haus war einstmals schön gewesen. Girlandenartige Ornamente rahmten die Fenster ein. Da und dort waren architektonische Dekors zu sehen, die aus vergangenen Epochen stammten. Er stand auf einem Weg, der früher als Damm gegen die Fluten des Nils gedient hatte; das Ufer des Flusses war nicht weit entfernt. Die alte Villa stand etwas tiefer. Auf diese Weise konnte er aus relativer Höhe die Zerstörung betrachten, die die Pflanzen im Lauf der Jahre verursacht hatten. Zweige, Sträucher, Kletterpflanzen und hohes Gras belagerten das Gebäude, und es sah so aus, als bereiteten sie sich auf den letzten Angriff vor.

Gleich beim ersten Besuch in Askour war ihm die Villa aufgefallen. Die Erinnerung an das Haus, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, drängte sich ihm auf. Es lag direkt am Mittelmeer. Wie oft hatte er am Fenster gesessen und staunend das Meer betrachtet, wenn mit dem Auf und Ab der Sonne und des Mondes die Farben der Wellen wechselten. Der Himmel spannte sich über das Meer und ließ seine Farben über das Wasser regnen. Im Nu nahm das Meer die himmlische Gabe an, und seine Wellen trugen die Farbfahnen weit bis an die Peripherie der in der Luft schwebenden Wolken. Vahe Amarlikian nahm eine Handvoll Wasser, um das Geheimnis der wunderlichen Farben zu erkunden. Es war kristallklares Wasser, frei von jenem vermeintlichen Zauber. Es sickerte durch seine Hand und gewann wieder die Farbe von Aquamarin.

Irgendwann hatte die Familie das Haus verlassen müssen. "Eines Tages kaufe ich euch so ein Haus!", erklärte sein Vater, als sie auf den Pferdewagen, der die Möbel transportieren sollte, warteten. Damals lebte seine Mutter noch.

"Ich will noch einmal das Meer vom Balkon sehen", sagte sie, während sie sich barfüßig vor die Balkontür stellte, die Hände in die Höhe hob und ihren von der Krankheit abgemagerten Körper ausstreckte.

Kurz danach wurde sie von einem Hustenanfall geschüttelt. Sie bekam kaum noch Luft und musste sich erschöpft und atemlos an den Küchentisch lehnen.

Sie zogen nach El-Ibrahimeyye, ein Viertel, das hauptsächlich von ärmeren Leuten bewohnt war. Eine benachbarte Familie kümmerte sich um ihn, als die Mutter ins Krankenhaus musste. Sein Vater hielt sich oft in der Küche auf und rechnete. Er saß barfüßig, hatte Hosenträger und Unterhemd an und zählte Geldscheine. Einmal sah Wagdi vom Korridor aus, wie sein Vater leise weinte. Das neue Haus lag weit vom Meer entfernt. Wann genau waren sie eigentlich vom Meer weggezogen?

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In Marseille befasste sich Eberhard Blessner mit Umzugsplänen. Alle Überlegungen kreisten um die Idee, wohin er mit Frau und Tochter Luise gehen konnte. Schon in Breslau hatte sich ihm der Verdacht aufgedrängt, dass er offenbar an Tuberkulose litt. Die Symptome waren nicht ganz eindeutig. Er spuckte Blut, hatte dann und wann Fieber, und nachts schwitzte er heftig. Da lag es auf der Hand, dass er mit Patienten nicht in Berührung kommen durfte. Aus diesem Grund war ihm der Schriftverkehr des Breslauer Krankenhauses übertragen worden. Nicht lange, und er musste sich mit dem "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" befassen. Eberhard sollte "Richtlinien zur Überwachung des Blutschutzgesetzes" ausarbeiten.

Nach zwei schlaflosen Nächten, da lebten sie noch in Breslau, wurde er von einem so heftigen Hustenanfall überrascht, dass seine Frau und seine Tochter dachten, es ginge mit ihm zu Ende.

"Wir hätten damals mit deinen Eltern nach Amerika gehen sollen", sagte er zu seiner Frau, Monate, bevor er den Entschluss gefasst hatte, nach Marseille umzuziehen.

"Wir wollten es nicht, du auch nicht", erinnerte ihn Gertrud.

"Wir wollten nach Australien, warum haben wir bloß so lange gewartet?", fragte Eberhard.

Ein befreundeter Arzt hatte ein Gutachten ausgestellt, das Eberhard Blessner ermöglichte, aus Deutschland auszureisen. So weit, so gut, doch Ribbentrops Reise nach Italien war kein gutes Zeichen. In Marseille wollte er nicht bleiben, aber so schnell wie möglich ein Schiff nehmen, das ihn nach Australien brächte. Das französische Ausländeramt erwog, ihn unter Quarantäne zu bringen. Aber wohin mit Frau und Tochter?

Eberhard las wieder einen Artikel im "Figaro", bevor er sich an seine Frau wandte und sagte: "Wenn wir Marseille jetzt nicht verlassen, werden wir es nie mehr schaffen."

"Wie stellst du dir das vor?", wollte Gertrud wissen.

"Zur Zeit fahren noch Schiffe nach Alexandrien. Von dort aus gehen wir nach Kairo, wo wir ein Visum für Australien beantragen."

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Herbert Boeringer war mit seiner Frau am 3. Dezember 1938 um 18 Uhr in Liverpool Street verabredet.

"Da, wo die große Bahnhofsuhr steht, da wirst du mich finden", hatte er ihr damals gesagt.

Das war mehr als ein Jahr her, und seitdem ging Boeringer mehrere Male am Tag zu der besagten Liverpool Street, und wer war nicht da und hatte nicht auf ihn gewartet?

Juden aus Frankfurt waren selten in London zu treffen. Die meisten, die sich in der Stadt aufhielten, waren reiche und arme Juden aus Polen. Sie sprachen kaum Englisch und kaum Französisch, und eine Sprache wie die polnische war ihm ein Buch mit mehr als sieben Siegeln. Auf Anraten eines flüchtigen Bekannten wandte er sich aus lauter Hilflosigkeit an Scotland Yard.

Er fuhr bis Victoria Station, fragte einen Passanten, wo das berühmte Gebäude sei, debattierte lange mit dem wachhabenden Polizisten, bis er ihn ins Gebäude einließ. Im Gebäude wartete ein anderer Wachtmeister, der auf die entsprechende Frage auf ein Zimmer am Ende des Korridors zeigte. Diese endlosen Hallen und die unzähligen verschlossenen Türen beruhigten ihn nicht. Von der Decke hingen zahlreiche Lampen mit unmodischen Schirmen, die das Licht daran hinderten, die Decke zu beleuchten.

Schließlich stand er vor der empfohlenen Zimmertür. Er klopfte an, wartete kurz, dann betrat er das Zimmer. Es war kein überschaubarer Raum, wie er dachte, sondern ein verschachteltes Archivlager mit vielen Schränken, Regalen und Aktenbehältern in Reih und Glied. Schicksale, die eine ewige oder vorläufige Bleibe im papierenen und verstaubten Dossier gefunden haben. Ein hagerer Beamter, kahlköpfig, bebrillt, der eine Weste und Ärmelschoner anhatte, kam auf ihn zu.

"Was kann ich für Sie tun, Sir?"

"Ich möchte Sie fragen, ob Sie mir vielleicht helfen können, wie ich meine Familie finden kann?" Der Mann schaute ihn kurz an, etwas entgeistert.

"Sie meinen, ob wir hier irgendwelche Angaben über ihre Familie haben", korrigierte ihn der Beamte.

Herbert nickte und schämte sich, dass er so ein Baby Englisch produzierte. Das Ganze hörte sich an, wie ein Kind, das lallt: „ Ich suche meine Mami.“

Der Beamte blätterte in einem riesigen Heft, nachdem er sich nach dem Namen der gesuchten Frau erkundigt hatte.

"Beringer, Beringer ... ,“ murmelte er. Herbert korrigierte: "Entschuldigen Sie, Boeringer heißt das ... B O E ringer."

Der Mann senkte seinen Kopf, so dass er seine Blicke von der Brille befreite und "Beringer" zwischen Brillenrand und Augenbrauen scharf fixierte. Schweigen. Dann wandte er sich seiner früheren Beschäftigung zu, murmelte nicht mehr, bewegte den Kopf auf und ab, als würde er sehr leise die Namen im Heft lesen.

"Der Name, den Sie genannt haben, ist nicht aufgelistet, es tut mir Leid", er sagte das, indem er das Heft zuklappte.

Herbert wollte noch etwas fragen, aber auf Grund der Abschiedsgeste sah er davon ab.

Hat es Sinn oder hat es keinen Sinn, vor der amerikanischen Botschaft zu warten und um ein Visum zu bitten? Vor der Botschaft stehen die Leute Schlange. Lauter Statisten, Londoner Arbeitslose, die angeheuert werden, um eine Warteschlange vorzugaukeln, damit kein Flüchtling auf die Idee käme, Eintritt zu begehren. Ein Visum für Amerika zu erhalten ist so gut wie ausgeschlossen, es sei denn, man ist mit Herrn Rockefeller persönlich verwandt, sagte ihm ein Landsmann aus Hamburg.

Boeringer wusste nicht, was war Dichtung und was Wahrheit und wurde entmutigt. Eines Tages entschloss er sich, zur Botschaft zu gehen. In aller Herrgottsfrühe verließ er sein möbliertes Zimmer in Holland Park. Es war kurz nach sechs Uhr, und er brauchte nicht länger als 30 Minuten, bis er die Botschaft erreichte. Doch trotz der frühen Morgenstunde bildete sich eine beträchtliche Schlange vor dem Eisentor des Gebäudes. Rund um ihn herum sprachen die Leute Deutsch, Französisch, Polnisch, Jiddisch, Italienisch und Spanisch. "Die Botschaft macht erst um zehn Uhr auf", gab einer der Wartenden bekannt.

Nur Amerikaner können heute bis zehn Uhr ruhig schlafen, fiel Boeringer ein, als er sich unter die Wartenden drängelte.

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Wagdi Hefnawi befand sich auf dem Weg zum Amtsgericht. Er warf einen Blick auf die Ruine der Villa, sah, wie sich das Wasser des Flusses schier ins Unendliche ergoss, und fand, dass er sich auf das Gespräch mit Ibrahim Bekir nicht sonderlich vorbereitet hatte. Eine Feluke glitt mit vollem Segel dahin. Eine große Barke lag am Steg. Einige Arbeiter waren damit beschäftigt, Säcke aus dem Bauch der Barke auf einen Pferdekarren umzuladen. Es war ein ruhiges und friedliches Bild. Der Wind war nicht stark, aber doch kräftig genug, um die Segel zu blähen. Die Bäume trugen schon das erste Grün. Vor einem Maulfeigenbaum blieb er stehen.

"Dieser Baum spendete König Salomon Schatten, als er die Afarits beim Graben des Flussbetts überwachte", stand auf einem Brett geschrieben, das an den Baum genagelt war.

Stamm und Zweige sahen tatsächlich sehr alt aus. In dieser Gegend ranken sich Märchen und Legenden um Gegenstände, ohne irgendwelchen historischen Gegebenheiten den erforderlichen Respekt zu gewähren. Was bürdet man hier dem König Salomon auf. Wann hatte König Salomon eigentlich gelebt, wunderte er sich.

Er kam an einem Straßencafé vorbei. Ein Kellner mit weißem Turban und langer, weißer Galabeyya trug Stühle und Tische ans Flussufer. Über dem Fluss hing ein dünner Schleier, als hätten sich weiße Wolken in diese Gegend verirrt. Ein Schiff schwebte sachte übers Wasser, und hier und da verschwand ein Segel im Nebel. Einige Kunden saßen auf der Terrasse und tranken Tee oder Kaffee. Schon von weitem konnte er das Gerichtsgebäude ausmachen; es war an seinen vielen Fenstern zu erkennen. Amtsstube lag neben Amtsstube, und jeder Raum hatte sein Fenster. Er schaute auf die Armbanduhr. Es war kurz nach zehn.

Gegenüber dem Gerichtsgebäude entdeckte er ein weiteres Café. Ein buntes Gemisch von Anwälten, Richtern und Gehilfen saß oder stand herum, deutlich unterscheidbar an ihren Roben und Akten, auch an ihrem Gang. Ein Polizist und ein Gefangener, beide aneinander gekettet, saßen an einem Tisch und tranken Tee - der Polizist mit der rechten Hand, der Gefangene mit der linken.

Vielleicht hätte er Turanschahs Grabmal besichtigen sollen. Aber er setzte sich hin und bestellte einen Kaffee. Er war kein Kaffeetrinker, doch in seiner Verlegenheit fiel ihm nichts Besseres ein. Kurz vor elf verließ er das Café und betrat das Gerichtsgebäude. Ein Portier saß an der rechten Seite des Eingangs und musterte ihn scharf.

"Ich möchte zu Staatsanwalt Bekir", sagte er.

"Gehen Sie die Treppe hoch, Zimmer 81!"

Wie alt mochte Bekir sein? Es war schwierig, sein Alter einzuschätzen. Der Mann war wirklich klein. Er sah aus wie ein alter Mann, aber Größe und Alter wollten irgendwie nicht zueinander passen. Bekir machte einen erstaunlich rüstigen und beweglichen Eindruck. Er war höchstens 150 cm groß. Nach heutigen Bestimmungen hätte er als Beamter nicht arbeiten dürfen. 165 cm war Vorschrift. Da hätte er sein Glück um 15 cm verpasst, dachte Wagdi. Seine Zwergenwuchs verlieh ihm wohl diese außerordentliche Beweglichkeit, da Beine, Hände und Kopf so dicht beieinander lagen.

Kaum hatte Wagdi in Bekirs Zimmer Platz genommen, stand der andere auf, nahm einen Packen schwerer Akten aus dem Regal, legte sie auf den Tisch und sagte: "Das ist das Ergebnis von dreißig Jahren Arbeit. Meine hauptsächliche Aufgabe bestand darin, den Inhalt von mehr als dreihundert Akten auf acht Ordner zu reduzieren und zusammenzufassen. Sie wissen, dass ich in Pension gehe, und nun hat man Sie auserkoren, diese Arbeit fortzusetzen."

Knallkopf, dachte Wagdi.

Acht schwere Ordner. Wer sollte das alles lesen, dachte er. Wahrscheinlich ahnte Bekir Wagdis Sorge, denn er sagte: "Um Ihnen die Arbeit zu erleichtern, habe ich den Inhalt jedes Ordners am Ende zusammengefasst. So können Sie sich einen Überblick über alle Ordner verschaffen."

Wagdi wollte sich bedanken, aber Bekir redete weiter. "Ich möchte mich zu diesen Vorgängen nicht äußern, damit Ihre Objektivität nicht unnötig beeinflusst wird. Ich schlage vor, Sie werfen einen Blick auf die Akten, und wenn Sie fertig sind, können wir alles besprechen. Wie lange brauchen Sie, um die Unterlagen zu studieren?"

Der Staatsanwalt überlegte, wie viel Zeit er brauchen würde.

"Ich weiß nicht genau ... vielleicht einen Monat, oder zwei."

Was für eine Frage, dachte Wagdi. Ich werde wohl mein ganzes Leben damit verbringen, mir diese poetischen Ergüsse zu Gemüte zu führen.

"Nehmen Sie sich soviel Zeit, wie Sie für nötig halten. Ich fahre für einen Monat weg. Vielleicht können Sie mir nach meiner Rückkehr über Ihre ersten Eindrücke berichten."

"Sie fahren weg?" Wagdi versuchte vergeblich, sein Entsetzen zu verbergen.

"Das hatte ich Ihnen bereits bei unserem ersten Treffen gesagt. Für einen Monat."

"Es gibt immer Fragen, wenn man neue Akten studiert. An wen kann ich mich in solch einem Fall wenden?"

"Warten Sie lieber, bis ich zurückkomme. Diese Unterlagen werden geheim gehalten. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass niemand außer Ihnen Einblick in diese Dokumente erhalten soll. Sie werden sehen, warum ich darauf bestehe."

Die Akten waren stark verstaubt. Der Staub aller Jahre fand eine Bleibe zwischen den behüteten Papieren der Staatsanwaltschaft. Wagdi musste hüsteln, Bekir auch.

"Sie können das Zimmer von heute an als das Ihrige betrachten. Wie gesagt, in vier Wochen bin ich wieder zurück. Dann habe ich noch zwei oder drei Wochen vor mir, bevor ich endgültig pensioniert bin. In dieser Zeit werde ich Ihnen gern zur Verfügung stehen."

Bekir stand auf und sagte: "Haben Sie noch irgendwelche Fragen?"

Mehr als eine rhetorische Frage war das nicht, dachte Wagdi.

"Nein!" erwiderte er.

"Ah!", rief Bekir, "ich hätte beinahe vergessen, Ihnen mitzuteilen, dass die Polizei das Versteck gefunden hat, in dem sich die Attentäter aufgehalten haben. Wir haben bisher nur die Staatsanwaltschaft in Mansoura davon unterrichtet, um den Verlauf der Untersuchung nicht zu stören."

Wagdi dachte an die Journalisten, die auf jede neue Information besessen waren, um daraus eine Sensation zu machen.

"Wo ist dieses Haus?"

"Das ist kein richtiges Haus. Es ist eher eine Ruine und nicht weit von hier entfernt. Sie müssten an ihm vorbeigekommen sein, als Sie sich auf dem Weg zum Gerichtsgebäude befanden. Die Leute hier nennen es das Turanschah-Haus."

"Die Ruine kann man nicht verfehlen", bestätigte Wagdi.

Gemeinsam verließen sie das Gerichtsgebäude und gingen den Fluss entlang.

"Damit Sie sich ein Bild über die Attentäter machen können", sagte Bekir, "habe ich den Polizeioffizier gebeten, Ihnen das Haus zu zeigen. Ich nehme an, er wartet dort auf uns."

Nicht der Polizeioffizier, sondern sein Stellvertreter wartete auf sie. Einige Polizisten lümmelten vor dem Haus herum. Standen sie schon da, als er vorhin vorbeigekommen war?

"Geh zum Kommandanten und melde, dass die Herren da sind!", rief ein Polizist einem anderen zu. Der Mann rannte los und verschwand im Haus.

Kurz danach erschien ein junger Polizeioffizier und rief: "Ahlan wa sahlan! Willkommen, willkommen!"

Bekir gab sich offensichtlich Mühe, besonders höflich zu erscheinen, als er die beiden einander vorstellte. "Das ist Herr Helmi Ayyas, stellvertretender Stationsoffizier." Dann wandte er sich an den Staatsanwalt und sagte freundlich: "Mein Nachfolger, Herr Wagdi Hefnawi!" Damit war die Vorstellungszeremonie zu Ende. Sie betraten das Haus. Es war nicht leicht für Wagdi, sich an die Dunkelheit in den Räumen zu gewöhnen. Alle Fenster waren geschlossen. Nur wenig Licht drang durch die Klappläden. Längliche Spalten, die ursprünglich in die Klappläden eingelassen worden waren, um für Belüftung zu sorgen, ließen soviel Licht in den Raum, wie ihre Fläche es erlaubte. So entstanden Lichtstäbe, die in der Dunkelheit an das Licht außerhalb des Hauses erinnerten.

Ayyas zeigte auf zwei alte Wolldecken, die auf dem Boden lagen, und sagte: "Hier haben sie geschlafen. Anhand der Zigarettenkippen können wir annehmen, dass es zwei Attentäter waren. Sie haben verschiedene Zigarettenmarken geraucht. Diese beiden Decken dienten als Bettlager. Andererseits könnte auf dem Sofa ein Dritter geschlafen haben. Das ist aber nicht sehr wahrscheinlich. Schauen Sie sich das Sofa an, es ist so verstaubt und so verschmutzt, dass kaum jemand wagen würde, es zu benutzen."

"Sie meinen, es waren drei Attentäter?", fragte Wagdi vorsichtig.

Ayyas wurde unsicher, er schwieg. Als er wieder zu sprechen begann, hörten sich seine Worte wie eine Rechtfertigung an. "Es gibt einige Anhaltspunkte, die dafür sprechen, dass es sich nur um zwei handelt. Aber es könnten genauso gut drei Leute gewesen sein."

Wagdi schaute das Sofa an, dann die kümmerlichen Lappen, die einmal Vorhänge waren, dann die Gestelle, die ihn an Stühle erinnerten. "Wem gehört das Haus eigentlich?", fragte er.

Ayyas wandte sich hilfesuchend an Bekir. Der sah sich gezwungen, einige klärende Worte zu sagen. "Das Haus gehört angeblich einem Herrn Arosi." Er räusperte sich, dann fügte er hinzu: "Aber fragen Sie mich nicht, wer dieser Arosi ist."

Wagdi unterdrückte ein Lächeln. "Und wer ist dieser Herr Arosi?" Es war nicht seine Art zu witzeln. Er tat es aber, und als Bekir dabei keine Miene verzog, schämte er sich und hoffte, die anderen würden es nicht merken. Es fiel ihm ein, dass ihm dieser Name nicht ganz unbekannt war. Arosi. Irgendwann hatte er diesen Namen gehört, aber er konnte ihn nicht einordnen.

"Wir nennen es die gelbe Villa, die Askouris nennen es Turanschahs Haus!", warf Bekir ein.

"Ich weiß immer noch nicht, wer dieser Arosi ist", sagte Wagdi mit übertriebener Höflichkeit.

Wie auf Verabredung sahen sich Bekir und Ayyas an. "Wer Arosi war oder ist, das weiß keiner", erklärte schließlich Bekir. "Ich glaube, dass diese Person eines der vielen Rätsel ist, das uns die Askouris aufgebürdet haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass dieser Mensch niemals gelebt hat."

"Wer hat Interesse daran, einen Menschen zu erfinden?", wollte Wagdi wissen.

"Das frage ich mich auch", entgegnete Bekir.

Wagdi ärgerte sich über die Antwort. Er hatte das Gefühl, dass Bekir sich lustig über ihn machte. "Gesetzt den Fall, diesen Arosi gäbe es nicht. Wem gehört dann das Haus?"

Der Polizeioffizier hielt sich zurück. Bekir sah sich bemüßigt, die Situation zu erläutern.

"Wir wissen nicht, wem das Haus gehört. Wie Sie sehen, wohnt hier niemand. Für die Untersuchung spielt es sicherlich keine Rolle, wem das Haus gehört. Das kann man später klären. Wichtig ist nur herauszufinden, wer die Attentäter sind."

Die Luft ist unerträglich, dachte Wagdi. Überall lag eine dicke Schicht Staub, es war feucht und stickig wie Bekirs Belehrungen. Erst jetzt sah er, wie Efeu durch die Fenster und Ritzen des Mauerwerks ins Haus drang: Fahle und bleiche Blätter. Keine Helligkeit. Nur die schmutzigen, feuchten, kalten Reste des Lichts vergangener Jahre.

"Sie haben sich von Konserven ernährt. Corned Beef, Ölsardinen und Bohnen. Weit und breit kein Besteck. Wie haben sie das Essen aus den Dosen gekriegt? Wir haben die Zahl der Dosen genau registriert. Anhand ihrer Zahl können wir sagen, dass sie sich hier drei oder vier Tage aufgehalten haben. Das bedeutet, die Attentäter haben genau gewusst, dass der Innenminister nach Askour kommen würde. Es ist insofern erstaunlich, weil der Besuch des Ministers geheim gehalten wurde. Woher wussten sie, dass er nach Askour kommt?" fragte Ayyas.

"Konnten Sie irgendwelche weiteren Hinweise auf die Täter gewinnen?", fragte Wagdi.

"Leider nicht. Nur das, was man hier sieht, haben sie hinterlassen."

Bekir machte eine Handbewegung, als setzte er zum Sprechen an. Stattdessen nieste er. "Die Luft hier ist furchtbar stickig!", rief er.

"Wie konnten sie es hier drei Tage aushalten?", pflichtete ihm Ayyas bei.

"Die Frage ist, inwieweit uns diese Informationen Hinweise über die Täter geben", überlegte Wagdi laut.

"Die gerichtsmedizinische Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen. Wir werden in zwei oder drei Tagen nähere Informationen erhalten", erklärte Ayyas. Damit schien eine der Hauptfragen beantwortet zu sein, denn Bekir machte sich auf den Weg zum Ausgang.

Draußen warteten die beiden Polizisten. Einer von ihnen hielt ein Pferd am Zügel. Hatte das Pferd schon dagestanden, als sie ankamen? Es war ein Polizeipferd und stand vor dem Haus im Dienste des ägyptischen Staats. Ayyas streichelte es an Stirn und Hals. "Ist das nicht ein schönes Pferd?"

Bekir fühlte sich nicht von dieser Frage angesprochen. Wagdi begnügte sich mit einem Nicken. Ihm fiel auf, dass Bekirs Gesichtsausdruck ewig gleichbleibend war. Keine Aufregung, keine Freude, keine Trauer. Keine Geste verriet, was sich in diesem kleinen Kopf abspielte.

"Ich habe meine Tasche im Gerichtsgebäude vergessen!", rief Wagdi. Er war nicht gerade erfreut darüber, hatte er sich doch ausgemalt, wie schön es wäre, auf der Stelle nach Demiatta zurückzukehren, zu essen, sich hinzulegen und nachmittags Tee zu trinken.

"Dann trennen sich unsere Wege hier", verabschiedete sich Bekir.

Ayyas demonstrierte, wie geschickt er sich aufs Pferd schwingen konnte, und als Wagdi am Ufer des Flusses entlangging, sah er, wie Ayyas auf dem lehmigen Weg mit dem Pferd davongaloppierte.

Wie stickig es in der alten Villa gewesen war! Der erzwungene Spaziergang zum Gerichtsgebäude tat ihm gut. In Alexandrien war er oft mit seinem Vater Georg Amalrikian auf der Corniche spazieren gegangen. Bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr hieß er Vahe Amalrikian. Dann entschloss sich sein Vater, aus seinem armenischen Sohn Vahe einen Ägypter mit dem Namen Wagdi Hefnawi zu machen. Das war 1924 gewesen, knapp ein Jahr, nachdem die Mutter gestorben war. Was hatte den Vater dazu veranlasst, aus seinem armenischen Sohn einen Ägypter zu machen, fragte sich Wagdi. "Wer zuviel wandert, wird dumm", sagte sein Vater. "Seit die Amalrikians sich auf Reisen begaben, haben sie nie wieder Ruhe erfahren."

Wer zu viel wandert, wird dumm. Vielleicht wollte Georg Amalrikian seinem Sohn den Intelligenzverlust ersparen, indem er ihn sesshaft machen wollte und hatte deshalb die ägyptische Staatsbürgerschaft für ihn beantragt. Auf keinen Fall wollte sein Vater, dass er das Leben eines Ausländers führen musste. Vahe sollte als Ägypter aufwachsen, einen ordentlichen Beruf erlernen, am besten den eines Beamten (damals verdienten die Beamten nicht schlecht), vor allem aber sollte sein Sohn die Spuren der Vergangenheit verwischen und nicht mit einem verräterischen Namen belastet sein. Für einen Ägypter war Wagdi sehr hellhäutig, und das war für ihn eine Bürde, sich ewig zu rechtfertigen. Seine schwarzen Augen verrieten die Unruhe, die sich gelegentlich meldete und ihn verunsicherte.

Er ging am Nilufer entlang und war froh, frische Luft zu atmen. Ein Gedicht fiel ihm ein, das allen Schülern, Vahe Amalrikian eingeschlossen, als Krönung der Poesie empfohlen worden war:

Ich ging am Nil spazieren,

von Kummer und Sorge bedrängt.

Am Grün der Bäume das Aug’ sich ergötzt,

ach, wie das Herz nach Freude lechzt.

Mit solchen Perlen der Poesie sollten die Schüler ihre Aufsätze schmücken, so die Empfehlung der Arabischlehrer, und den Urhebern solcher Poesie nacheifern. Ein müdes Lächeln schlich über sein Gesicht. Er fühlte sich erschöpft. Einige Gerichtsdiener standen vor dem Eingang, und als sie ihn sahen, traten sie diensteifrig zur Seite. Der Portier saß auf seinem Stuhl und schien sich Tagträumen hingegeben zu haben, vielleicht konnte er auch mit offenen Augen schlafen. Wagdi lief die Treppe hinauf, steuerte auf die Tür zu und betrat das Dienstzimmer. Vielleicht sollte er sich ganz entspannt hinsetzen und versuchen, für ein paar Minuten zu schlafen. Einige seiner Kollegen in Demiatta brachten es fertig, stundenlang auf einem Stuhl zu schlafen. Einige protzten damit, auf diese Weise einen dreistündigen Mittagsschlaf genießen zu können. Wetten wurden geschlossen, wer den längsten Mittagsschlaf halten könnte. Es gab Gewinner und Verlierer. Als er die Tür schloss, entdeckte er auf dem Boden einen Briefumschlag. Er hob ihn auf.

"An Herrn Staatsanwalt Wagdi Hefnawi."

Er suchte ein altes Küchenmesser, das als Brieföffner gedient hatte, fand es aber nicht. Er riss den Umschlag auf. Ein Briefbogen befand sich nicht darin, nur ein Zettel, mit Schreibmaschine geschrieben: "Es wird ein böses Spiel mit Ihnen getrieben!"

Es gab weder einen Absender noch eine Unterschrift. Wer schreibt so was? Was wollte man ihm damit sagen? Die Müdigkeit war wie weggeflogen. Wer kam auf solch eine Idee? Er saß da und fühlte sich wie gelähmt. Ach, wie weit weg war Alexandrien, ein fernes, sehr fernes Land. Er dachte an das Meer. Dachte auch an seine Verlobte. Bevor er nach Demiatta gegangen war, hatte er ihr gesagt: "Zwei Jahre, dann heiraten wir." Aus den zwei Jahren waren sechs geworden. Die Fahrt von Demiatta nach Askour, die nicht asphaltierten Straßen, die verstaubten Amtsstuben, die Kriminalfälle der letzten Jahre. Der jüngste Mord war drei Wochen alt. Attentate um Askour wurden von Tag zu Tag jünger.

Er schaute vorsichtig in einen Ordner, blätterte darin. Alles handgeschrieben. Die Schrift war unleserlich. Die nächsten Seiten waren genauso fahrig geschrieben wie die erste Seite. Einige Worte konnte er entziffern, aber es war fraglich, ob er sie richtig deutete. Die zwei oder drei Sätze, die er zu verstehen glaubte, ergaben in dem vermeintlichen Zusammenhang keinen Sinn. Alle anderen Ordner waren in der gleichen Weise geschrieben: handschriftlich und unleserlich. Es fiel ihm auf, dass Bekir in einer äußerst kleinen Schrift geschrieben hatte. Diese acht Ordner würden in einer normalen Handschrift fünfundzwanzig Ordner oder mehr ergeben, überlegte er.

"Es wird ein böses Spiel mit Ihnen getrieben!" Immer wieder hämmerte dieser Satz in seinem Gehirn. Wer konnte der Verfasser sein? Vielleicht ein Beamter aus Demiatta, der ihn verunsichern wollte?

Was hatte er in Askour verloren? Er hätte sich nicht darauf einlassen sollen. Eine Fliege schwirrte im Raum und brummte dabei fürchterlich. Alle Wände im Zimmer waren mit Regalen zugestellt, die wiederum von Akten und Ordnern überquollen. Bekirs Stuhl war so platziert, dass er mit dem Rücken zum Fluss saß. Wahrscheinlich hatte er ein Leben lang in diesem Zimmer gehaust und gearbeitet, immer mit dem Rücken zum Fluss. Die Fliege schwirrte weiter. Das Geräusch war zu hören, aber sie blieb unsichtbar. Er wäre froh gewesen, wenn er in Demiatta hätte bleiben können. Alexandrien war unerreichbar. In den letzten Jahren hatten sich die Bedingungen, unter denen er arbeitete, fortwährend verschlechtert, so sehr, dass er fast schon Demiatta nachweinte. Ja, mit Demiatta hätte er sich abfinden können. Mit Askour? Wie sollte das weitergehen?

Er verließ das Gebäude, um mit dem Bus nach Demiatta zurückzufahren. Tagtäglich musste er nun diese Prozedur zwei Jahre lang wiederholen. Er hasste Busfahren. Den Traum von Alexandrien sollte er besser vergessen. Das einzige, was er wollte, war, in Ruhe zu arbeiten. Ohne Busfahrten, ohne Ölgestank, ohne das Übelkeit erregende Rütteln während der Fahrt. Ruhe brauchte er. Immerhin war er schon über dreißig Jahre alt, und obwohl er sich vor einigen Jahren verlobt hatte, traute er sich noch immer nicht zu heiraten. Die Geographie der Genitalien. Die Meridiane des weiblichen Körpers, ihre Nadire mit ihren zenitartigen Sphären. Nördlich der Liebe und südlich der abgekühlten Leidenschaften. Der sonnige Osten der Gefühle und der Sonnenuntergang der Tagträume. Heiraten, Kinder kriegen, behäbig leben und versuchen, wie alle anderen zu sein. Warum fiel ihm das so schwer?

"Vergiss nicht, dass du Amalrikian heißt!"

Er hatte sich an seinen ägyptischen Namen gewöhnt. Alle Amalrikians waren in Saloniki geblieben, oder waren sie vielleicht doch nach Amerika ausgewandert? Das war eine Frage, die seinem Vater, Georg Amalrikian, ein Leben lang keine Ruhe gelassen hatte. Mit dem Namen Hefnawi machte sein Vater vielleicht, ohne es zu beabsichtigen, eine Familienzusammenführung der Amalrikians zunichte.

Die Reise

Das Osmanische Reich hatte es nicht allzu leicht mit den Armeniern gehabt. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Armenier von ihren Nachbarn, den Türken, im Rahmen der Erschaffung einer besseren Welt, massakriert. Das Osmanische Reich unternahm damals den ersten Versuch im 20. Jahrhundert, das Paradies auf Erden zu errichten. Es sollten andere Versuche folgen. Die Armenier verkörperten für die damaligen Sultane den Ursprung des Bösen. Also weg damit. 1902 verließ die Familie Amalrikian den türkischen Hafen Trabzon. Trabzon war damals voller Flüchtlinge, die über das Schwarze Meer das Osmanische Reich verlassen wollten. Ein Kapitän nahm die Amalrikians bei Nacht und Nebel an Bord. Ziel der Reise war New York. Der Kapitän bestand darauf, die gesamte Summe für die Überfahrt zu kassieren. Wer nicht bezahlen konnte, wurde gar nicht erst an Bord gelassen. Banknoten wollte der Kapitän nicht haben, nur Gold. Wer kein Gold hatte, musste auf osmanischem Gebiet bleiben.

Sein Vater hatte ihm die Geschichte der gescheiterten Auswanderung, mit kleinen Variationen, immer wieder erzählt. Er berichtete davon, wie die beiden, Georg und Roxana, 1904 in Alexandrien gelandet waren.

"Dieser Kapitän war ein elender und gewissenloser Betrüger", beteuerte Georg. „Er kassierte Geld für die Überfahrt nach New York und ließ uns in Saloniki sitzen."

Zwei Jahre verbrachten sie dort, bis sie endlich nach Alexandrien kamen.

Er konnte sich daran erinnern, wie sein Vater in der Küche gesessen und immer und immer wieder mit endlosen Zahlenreihen beschäftigt gewesen war und verölte und zerschlissene Geldnoten zählte. Er erzählte von all denen, die dort in Saloniki geblieben waren. Tanten und Onkel, deren Namen Wagdi vergessen hatte, und unzähligen Kindern, Verwandten ersten und zweiten Grades und sonstigen Verwandten. Die Amalrikians waren zahlreich.

Seitdem er in Demiatta gelebt hatte, kam er kaum noch dazu, Armenisch zu sprechen. Zwar lebten einige Armenier in der Stadt, dazu gehörten ein Bäcker, ein Krämer, ein Textilkaufmann und ein Schneider, aber Wagdi hielt es für klüger, wenig Kontakt mit ihnen zu haben. Nur mit seinem Schneider sprach er gelegentlich Armenisch. Manchmal war es ihm peinlich, dass er einen ägyptischen Namen trug.

Er stand am Fluss und konnte von weitem die Fähre erkennen. Irgendjemand hatte ihm erzählt, dass er mit dem Zug sowohl nach Demiatta als auch nach Mansoura fahren könnte. Er brauchte nur mit der Fähre den Nil zu überqueren. Er fragte einen Bauern nach der Ablegstelle. Der Mann stützte sich auf eine Krücke. Er zwängte sie unter seine linke Achsel. Das linke Bein fehlte. Der Bauer zeigte auf eine Holzhütte. Einen Fahrplan gab es nicht. Warum auch, wenn selbst die Fahrpläne für den Zugverkehr nicht eingehalten wurden. Verspätungen gehörten zum Alltag. Es kam tatsächlich manchmal vor, dass ein Zug pünktlich ankam. Kurz danach hagelte es laute Proteste bei der Eisenbahnverwaltung; 'Wir haben die Verspätung einkalkuliert, warum handelt ihr nicht danach?' Diese Proteste waren ernst gemeint und enthielten nicht die geringste Spur von Ironie.

Er blieb unter einem Baum stehen und öffnete die Tasche. Das Brot, das ihm seine Haushälterin Zannuba als Proviant mitgegeben hatte, war in Papier gewickelt. Es fühlte sich nass an. Entsetzt musste Wagdi feststellen, dass auch das Untersuchungsprotokoll an einer Stelle feucht war. Tomaten! Diese Schlampe hatte wieder einmal das Brot mit Tomaten belegt.

"Zannuba", hatte er gleich am Anfang zu ihr gesagt, "wenn du die Arbeit bei mir behalten willst, darfst du keine Tomaten in meine Wohnung schleppen! Hast du gehört? Keine Tomaten! Das wäre ein Entlassungsgrund." Aber dieses Weib machte, was es wollte.

"Wie wollen Sie das trockene Brot runterkriegen?", fragte sie ein ums andere Mal.

"Verdammt, lass das meine Sorge sein!", schrie er sie an. Aber sie konnte es nicht lassen. Immer wieder verseuchte sie sein Brot mit Tomaten. Sein ganzes Leben verseuchte sie mit Tomaten. Fleisch kochte sie mit Tomaten, und alles, was sie sonst noch in die Hand bekam, ob nun Fisch, Gemüse oder Reis.

Zannuba, du Hundetochter, beschimpfte er sie in Gedanken, von mir aus kannst du Tomaten essen, soviel du willst, aber verschone mich damit! Es laut auszusprechen, wagte er nicht, denn Zannuba ließ sich nichts gefallen und wusste sich zu wehren. Sie schien unbelehrbar zu sein. Lesen und schreiben konnte sie nicht, aber die Vorzüge der Tomaten kannte sie auswendig. Wagdi wunderte sich über ihre sture Beharrlichkeit und fand dafür keine einzige juristische Begründung.

Das Brot tropfte. Vorsichtig, damit er seinen Anzug nicht beschmutzte, warf er es in den Fluss. Mit einem Taschentuch versuchte er, die rosa Stelle am Protokoll zu entfernen, doch vergeblich. Es blieb leicht gefärbt. Zannuba, du dummes Stück, du Brut des Teufels, du Hurentochter, du kannst was erleben!

"Sind Sie der Staatsanwalt?"

Wagdi drehte sich um. Eine Kutsche stand da, und der Mann auf dem Kutschbock wartete auf eine Antwort.

"Warum fragst du?"

"Der Bürgermeister bittet Sie herzlich, bei ihm vorbeizukommen. Er lässt sagen, dass er von Ihrer Ankunft leider zu spät erfahren hat."

Wagdi überlegte, ob er einsteigen sollte oder nicht. Spontan hätte er am liebsten einen schönen Gruß ausrichten lassen, verbunden mit dem Hinweis, keine Zeit zu haben. Aber das ging nicht. Er konnte nicht gleich am ersten Tag die persönliche Einladung des Bürgermeisters ausschlagen. Der Tag war ohnehin verpatzt, dachte er und fluchte insgeheim.

Er stieg ein, und Mahrus brachte das Pferd auf Trab. Die Kutsche schlug den gleichen Weg ein, den Wagdi vorhin zu Fuß zurückgelegt hatte. Er versuchte, mit dem Kutscher ein paar Worte zu wechseln, aber offenbar war das nicht möglich. Entweder lief das Pferd zu schnell oder der Mann wollte sich nicht auf unangenehme Gespräche einlassen.

"Wo wohnt der Bürgermeister?", rief Wagdi. Er wollte noch einmal rufen: "Wo verdammt noch mal wohnt der Bürgermeister?" Warum sollte er sich deswegen Mühe geben? Als er keine Antwort erhielt, lehnte er sich zurück, schloss die Augen und versuchte, das rhythmische Ruckeln der Kutsche zu genießen. Vor zwei Wochen war er noch mit der Straßenbahn durch Alexandrien gefahren. Er hatte sich für zehn Tage beurlauben lassen, um seine Braut zu besuchen. Einmal im Jahr sahen sie sich, immer wenn er Urlaub hatte. Jedes Mal musste er ihr versprechen, sich nach Alexandrien versetzen zu lassen. Jedes zweite Jahr schrieb er ein Gesuch mit der Bitte, seine Dienstzeit in Demiatta beenden zu dürfen. Es war nicht gestattet, solch eine Bittschrift in einem Zeitraum zu stellen, der kürzer als zwei Jahre war.

Wie gerne hätte er sich jetzt auf der Heimfahrt befunden, schade, dass der Kutscher ihn noch gefunden hatte. Wagdi hatte sich in Demiatta, in der Nähe des Wasserturms, eine Drei-Zimmer-Wohnung gemietet. Er hatte gehofft, Wedad wäre mit der Hochzeit in Demiatta einverstanden und würde so lange dort bleiben, bis er nach Alexandrien zurückversetzt werden könnte. Aber sie wollte nicht kommen.

" Es besteht die Gefahr", schrieb sie, „dass die Versetzung nicht stattfindet und wir bis in alle Ewigkeit in der Provinz bleiben müssen. So ist es einer meiner Tanten ergangen, seitdem lebt sie in Assiut."

Assiut lag in Süd-Ägypten. Viele Beamte, die sich etwas zu Schulden kommen ließen, wurden dahin verbannt. Je entfernter von Kairo der Ort war, desto gravierender das Vergehen. Assuan war wohl der Ort des höchsten Vergehens.

Die Kutsche holperte über die nicht asphaltierte Straße. Die Leute gingen zu Fuß. Weit und breit war kein Auto zu sehen. Wenn der Innenminister nicht ermordet worden wäre, hätte seiner Rückversetzung nach Alexandrien vielleicht nichts im Wege gestanden, dachte er. Vier Tote gab es bisher. Kaum war die Untersuchung eines Falls abgeschlossen, fiel der nächste Beamte den Kugeln von unbekannten Attentätern zum Opfer. Da half auch nicht, dass alle ahnten, dass die Turanschahis die mörderischen Drahtzieher waren. Nur, wer bekannte sich schon zu ihnen? Nicht einmal die Leute, die sich offen für die Turanschah-Glauben einsetzten, wollten zugeben, dass sie Turanschahi waren. Selbst der Bürgermeister hatte sich, wie erzählt wurde, bei seiner Vernehmung offen zu diesem Glauben bekannt, aber mit den Machenschaften einiger Turanschahis, wie er es formulierte, wollte er nichts zu tun haben. Der Bürgermeister war offenbar der letzte gewesen, der mit dem Minister vor dessen Tod gesprochen hatte. So kam seiner Aussage eine nicht unerhebliche Bedeutung zu.

Hatte er geschlafen? Ein paar Sekunden? Ein paar Minuten? Mahrus stieg vom Kutschbock ab und ging zum Eingang des Hauses. Wagdi merkte, dass er hinkte. Ein Holzbein, dachte er. Versteckt unter seiner Galabiyya, es hämmerte beim Gehen auf dem vertrockneten Lehmboden. Der Kutscher hielt vor einem Holztor an, und da es verschlossen war, musste er laut klopfen. "Mach auf! Nun los, mach schon!"

Ein Wächter schaute durch eine Luke, sah die Ankömmlinge prüfend an und begrüßte den Kutscher mit einem lauten: "Hallo, Mahrus!" Gemeinsam öffneten die beiden Männer das Tor. Mahrus stieg wieder auf den Kutschbock und fuhr auf das Grundstück. Die Kutsche wurde in den Stall gebracht. Wagdi ging mit dem Kutscher durch den Park, der durch seine symmetrische Anordnung eine klare Strenge offenbarte. Hinter den Beeten war eine Villa zu sehen. Mahrus führte ihn an der linken Seite der Villa entlang. "Der Herr Bürgermeister wartet auf Sie", sagte er und ging voran. "Jaquot, der Herr Staatsanwalt ist da!", rief eine Frau. "Kommen Sie herein! Willkommen!"

Ein großer Mann mit dunkler Brille erschien an der Tür, begleitet von einer Frau, Herr Jaquot Ackawi, der Bürgermeister. Ein runder, fetter Kopf, der einen weißen Turban in die Höhe trug. Er hatte einen dunkelgrünen Kaftan an, darunter trug er einen weißen, seidenen Rock. Eine Schärpe mit Kaschmirmustern gab sich redliche Mühe, vom Umfang des Bauches abzulenken. Ihm folgte ein Mann in Polizeiuniform, der etwas korpulent war, aber nicht so korpulent wie der Bürgermeister. In der rechten Hand hielt der Bürgermeister einen Stock, mit dem er den Weg ertastete. Ibrahim Bekir hatte vergessen zu erwähnen, dass der Bürgermeister blind war. Nun verstand Wagdi, was die Frau an der Seite des Bürgermeisters zu bedeuten hatte. Sie lächelte Wagdi an und gab ihm die Hand, während sie ihren Mann sachte dirigierte.

"Hat Ihnen Mahrus erzählt, dass ich von Ihrer Ankunft leider zu spät erfahren habe?" Seine Zähne klapperten, während er sprach. Wahrscheinlich war das Gebiss locker, dachte Wagdi. Er hatte Schwierigkeiten, den Bürgermeister zu verstehen. Luft wich pfeifend durch die Zähne und verunstaltete die Worte. Wagdi erklärte beschwichtigend: "Ist ja nicht schlimm. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, den Herrn Bürgermeister so schnell kennen lernen zu dürfen." Die Brille trug auch dazu bei, dass der Kopf des Bürgermeisters übertrieben groß wirkte. Irgendwie war sie keine herkömmliche Brille. Was war an ihr anders? fragte er sich.

Der Mann in der Polizeiuniform trat an Wagdi heran, gab ihm die Hand und sagte: "Mein Name ist Hassan Wassan. Ich bin in Kürze der ehemalige Leiter des Polizeireviers. Ich stehe unmittelbar vor der Pensionierung."

Für einen Polizeioffizier sah er recht dick aus. Ein brauner Ledergürtel betonte den Umfang des Bauchs, obwohl der sandfarbene Ton der Uniform die Figur schlanker machte. Der schwarze Schnurrbart hätte der Erscheinung des Mannes einen würdigen Eindruck verleihen können, wenn die Barthaare auf weniger dilettantische Weise gefärbt worden wären. Weiße Spitzen lugten hervor und verrieten, dass mit Eile gearbeitet worden war. Die Farbe erreichte auch die Haarwurzel nicht. Sie blieben ungleichmäßig weiß. Dafür waren die Messingknöpfe umso sorgfältiger geputzt.

"Es ist mir eine große Ehre, Sie als Gast begrüßen zu dürfen", erklärte der Bürgermeister.

Bevor Wagdi etwas erwidern konnte, kamen Dienstmädchen herein und deckten den Tisch.

"Heute sind ganz allein Sie unser Gast!"

Wer hatte das eben gesagt? Der Bürgermeister oder der Polizeioffizier? Gerade wollte er laut über den Zufall staunen, dass der Offizier zum gleichen Zeitpunkt wie Ibrahim Bekir in Pension ging, da begann der Bürgermeister von seinen Tauben zu reden. Niemand wüsste, wie viele sie seien. Einige lagen jetzt gebraten auf dem Tisch. Dazu gab es Oliven, Pepperoni, Mousakka, Burghul, Tomaten mit Petersilie und Dill, Fladenbrot und Reis. Wagdi hatte große Mühe, die Worte des Bürgermeisters zu verstehen. "Essen Sie! Greifen Sie zu! Heute wird nicht über die Staatsanwaltschaft gesprochen."

Alle begannen zu essen, Wagdi, der Bürgermeister, seine Frau und Hassan Wassan. Insgeheim wunderte sich Wagdi, dass die Frau des Bürgermeisters am Tisch Platz genommen hatte, obwohl Fremde da waren. Vielleicht wurde in dieser Gegend bei älteren Frauen eine Ausnahme gemacht.

Noch bevor Wagdi den gedeckten Tisch genauer prüfen konnte, nahm Wassan mit der bloßen Hand eine gebratene Taube und legte sie auf Wagdis Teller. Wassan lächelte. "Ackawis Tauben sind berühmt in dieser Gegend. Gebraten sind sie eine Köstlichkeit!"

Am liebsten hätte Wagdi den toten Vogel auf die Platte zurückbefördert, aber das traute er sich nicht. Höflichkeit war manchmal eine Quelle seines Leidens. Wassans Hand war weich und fettig. Wagdi ekelte sich. Aber was half es, er musste den Vogel essen. "Oliven schmecken dazu sehr gut, und vergessen Sie den Reis nicht", empfahl Wassan.

Nun ja, das verstand man in dieser Gegend unter Gastfreundschaft. Zugegeben, die Tauben hielten, was der ehemalige Polizeioffizier versprochen hatte. Das Fleisch war zart und knusprig, nur leider gab es einen Beigeschmack, der ihm Widerwillen bereitete. Wassans behaarte Pranken, die Druckspuren auf dem zarten Taubenfleisch hinterließen, blieben unverdaulich in seinem Magen. Der Polizeioffizier erkundigte sich, ob ihm die Taube wirklich schmeckte, und da Wagdi nicht mit vollem Mund sprechen wollte, nickte er lediglich. Erst jetzt merkte er, wie hungrig er war. Hunger gemischt mit einer Spur von Ekel. Zwei konträre Gefühle, die er beim Essen nicht miteinander versöhnen konnte.

"Mein Großvater hatte mehr als fünfzehntausend Tauben, mein Vater nannte dann schon vierzigtausend Tauben sein Eigen, und ich, ich weiß gar nicht, wie viele Tauben ich besitze."

Was wollte der Bürgermeister damit sagen? Da Wagdi unsicher war, begnügte er sich damit, die gebratenen Tauben zu loben. Insgeheim ärgerte er sich. Da wurde vor ein paar Wochen der Innenminister ermordet, und die haben über nichts anderes zu reden als über Tauben. Möglicherweise wollen sie von dem Mord ablenken? Vielleicht haben sie den Minister in die Todesfalle gelockt? Abwegig wäre das nicht, dachte er.

Hassan Wassan fühlte sich bemüßigt, das Thema auszubauen. "Die Familie Ackawi gehört zu den besten Taubenzüchtern des Landes."

Gerade wollte Wagdi mit einer freundlichen Geste Anerkennung bekunden, da stockte ihm der Atem. Der Herr Bürgermeister nahm das Gebiss aus dem Mund und steckte es in die Tasche. Merkwürdig, brauchte er die Zähne nicht zum Essen? Seltsam, sehr seltsam. Wagdi war außerdem aufgefallen, dass die Frau des Bürgermeisters sich ständig zu ihm hinüberbeugte. Flüsterte sie ihm etwas ins Ohr? Von jetzt an beobachtete er die beiden, nur saß er leider ungünstig, und deshalb konnte er nicht alles genau verfolgen. Wagdi fiel auf, dass der Bürgermeister keinen Teller und kein Besteck vor sich hatte und trotzdem kaute. In einem engen Spalt zwischen Kinn und Nase, die aussahen, als wären sie gelegentlich zusammengewachsen, verschwand das Essen. Klar, der Bürgermeister war zahnlos. Die Frau kaute ihm das Essen vor, und wenn sie sich zu ihm hinüberbeugte, flüsterte sie ihm nicht, wie anfänglich vermutet, etwas ins Ohr, sondern sie presste ihre Lippen auf seinen Mund und beförderte auf diese Weise das von ihr Vorgekaute hinein. Es gab keine andere Erklärung für diesen einzigartigen Vorgang.

Wagdi brauchte etwas Zeit, um das Geschehen zu verstehen. Er tat, als würde er weiteressen. Er verlangsamte absichtlich seine Bewegungen und versuchte, den Vorgang genau zu beobachten. Kein Zweifel, er hatte Recht mit seiner Vermutung. Die Frau aß einen Teil, dann kaute sie eine Portion für ihren Mann vor, übergab sie ihm und nahm dann wieder eine Portion für sich selbst. Die Abfolge war genau eingeteilt, es gab keine Unterbrechung.

Das Fleisch wirkte betäubend auf Wagdi und narkotisierend. Er dachte an sein Bett in Demiatta, an sein Nachmittagsschläfchen, an den Wasserturm aus Stahl und Beton, der bewegungslos wie ein Schicksal in der Luft stand. Dann dachte er an die Ruhe, von der er nach dem Essen träumte. Er war ein Nachmittagsschläfer, und alle Versuche, sich diese Gewohnheit abzugewöhnen, schlugen fehl.

Zeit zu gehen, dachte er. Abrupt stand er auf und bedankte sich. Doch bevor er sich verabschieden konnte, sagte der Bürgermeister: "Ist ein Gast zum ersten Mal bei mir, pflege ich mich nicht über dienstliche Dinge zu unterhalten. Aber beim zweiten Mal ist so ein Gespräch fällig." Diese Verlautbarung sollte sich humorvoll anhören. Tat es aber nicht.

Kurz zuvor hatte der Mann das Gebiss wieder aus der Tasche geholt und es verstohlen in den Mund gesteckt. Alle eigenen Zähne fehlten, vermutete Wagdi. Der Bürgermeister konnte die Worte nicht festhalten, dazu saß das Gebiss zu locker. Sie rutschten ihm buchstäblich durch die Lippen, noch bevor sie an Form durch die Zähne gewonnen hatten. Wie sollte er sich also ernähren, wenn ihm seine Frau das Essen nicht vorkaute?

"Wann sind Sie wieder in Askour?"

Wagdi überlegte kurz, dann antwortete er: "Morgen früh."

Der Bürgermeister umklammerte mit beiden Händen den Stock und sah nachdenklich aus. "Sagen Sie Mahrus Bescheid, wann Sie an der Bushaltestelle eintreffen. Er wird Sie abholen."

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Es war wieder einer jener Tage, an dem Eberhard Blessner ein mulmiges Gefühl hatte. Gertrud war wieder hippelig, zitterte am ganzen Körper und klagte über Kopfschmerzen. "Du hast einmal gesagt, dass es nicht zum Krieg kommen wird", keifte sie.

"Mama, Papa ist kein Prophet, und wie du ihn sicherlich kennst, liegen bei ihm Wunsch und Gedanke oft dicht beieinander", verteidigte Luise ihren Vater. Eberhard empfand das nicht unbedingt als Kompliment. Um Schlimmes zu verhüten, sagte er vorerst nichts.

Er griff beschwichtigend ein: "In der Zeitung wird angezweifelt, ob Italien in den Krieg einziehen würde. Es steht immer noch im Konjunktiv."

"Bald ist es Vergangenheit. Italien wird in den Krieg eintreten", behauptete Gertrud.

"Wenn es mal soweit ist, dann ..." Eberhard stockte.

"Dann?", provozierte Gertrud.

"Dann wandern wir nach Australien aus", versuchte Eberhard sie zu beruhigen. "Du sagst immer dasselbe", warf ihm Gertrud vor.

Sie saßen nun zu dritt am Frühstückstisch, weil es Sonntag war und weil Eberhard nicht ertragen konnte, wenn es seiner Frau nicht gut ging. Er war bemüht, lässig zu erscheinen, der Erfolg gab ihm wenig Recht. "Ob nun Italien in den Krieg zieht oder nicht, es wird nicht so heiß gegessen wie gekocht." Während er diese Worte aussprach, war ihm bewusst, wie lapidar diese Behauptung war. Auch den Vorschlag, an die Mole zu spazieren, konnte sie nicht beherzigen. Um diese Zeit gingen sie sonntags spazieren. Gertrud war dazu nicht zu bewegen. "Geht ihr doch zu zweit!", schlug sie vor.

"Mama, ohne dich macht das Spazierengehen keinen Spaß", versuchte Luise sie zu erheitern.

Auf keinen Fall wollte Eberhard seine Frau in diesem Zustand allein lassen.

"Wenn ich in der Praxis bin, lass deine Mutter nicht aus den Augen", bat Eberhard einmal seine Tochter. Luise besuchte die Schule tagsüber. Wie sollte sie auf ihre Mutter aufpassen? Eberhards Bitte war eher ein Hilferuf an seine Tochter. Manchmal fühlte er sich nicht in der Lage, seine Aufgaben als Ehemann, als Vater und als Ernährer der Familie zu erfüllen. Hinzu kam der Polizeikommandant, der ihm nahelegte, nach Deutschland zurückzukehren, weil ihm möglicherweise die Ausweisung drohe. Eberhard müsste den Kommandanten beschwichtigen. Mit Geld konnte er sein Wohlwollen für eine Weile erkaufen.

"Mon ami, Ihre Prostata macht mir Sorgen", vertraute ihm Eberhard an. Mit diesem Hinweis wollte Eberhard den Kommandanten auf seine Bedeutung für sein Wohlbefinden aufmerksam machen.

"Du weißt mein Freund, ich werde für dich alles tun. Aber ich bin nicht der französische Staat", beteuerte der Kommandant.

Gertrud legte sich hin, weil die Kopfschmerzen nicht zu ertragen waren.

"Ist das immer noch die alte Geschichte?", fragte Luise.

Sie wusste, dass es immer noch die alte Geschichte war. Oft wollte sie diese Frage stellen, scheute aber davor zurück, weil dies alte Erinnerungen weckte. Bittere Erinnerungen, die ihre Eltern teilten, ohne dass sie sich halbierten. Eberhard schaute sie bejahend an. Mit geknicktem Kopf und Trauer, die nicht zu verstecken waren.

"Was war da genau passiert?", flüsterte sie leise.

"Wir wissen es nicht", sagte er sehr schwach.

Sie saßen am Tisch in der Küche und tranken die kalten Kaffeereste aus den Bechern. Als alles das damals geschah, war sie zehn Jahre alt und ahnte viele Jahre später, dass in der Wohnung, die sie damals in Breslau bezogen hatten, etwas ganz Schlimmes passiert war. Eduard, ihr einziger Bruder, starb. Wieso starb er mit sechzehn Jahren? Damals kam sie aus der Schule zurück, und da sah sie, wie ein Sarg aus dem Haus getragen wurde. Sie hatte sich dabei nichts gedacht. Auf jeden Fall nichts Schlimmes. Während der Zeit danach machte sie sich einen Reim darauf. Kindliche Phantasien, Gerüchte, Mitleid mit ihrer Mutter und mit ihrem Vater und diese Trauer, die sie nirgendwo festmachen konnte, waren Hauptbestandteile dieses Reimes. "Das ist die Schülerin, deren Bruder ..., du weißt schon", wurde hinter ihrem Rücken getuschelt. Dann zogen sie in ein anderes Viertel, zu einer anderen Schule, und eine Stille und undefinierbare Trauer zog mit ihnen aus. Damals verstand sie diese Welt nicht, und viele, viele Jahre danach wagte sie nicht, Fragen zu stellen. Einige Fragen taten weh. Das konnte sie damals ahnen.

Eberhard hatte sich öfters gefragt, ob es nicht weiser wäre, seine Tochter in diese Geschichte einzuweihen. "Verzeih, Luise, ich kann jetzt darüber nicht sprechen. Ich werde dir das bestimmt erzählen, aber im Augenblick nicht."

Luise war trotzdem nicht beruhigt. "Das geht jetzt schon Jahre. Ich kenne meine Mutter nicht anders", murrte sie. Eberhard suchte vergeblich nach einem Ausweg. In einer Welt voller Lügen war er nicht imstande, eine neue zu erfinden. Er schwieg und war wieder bemüht, gelassen zu erscheinen. Als Luise fragte: "Papa, warum sagst du nicht die Wahrheit?", wurde er verlegen und kam sich schäbig vor.

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Ein Tag nach dem Besuch beim Bürgermeister hielt Wagdi unruhig an der Bushaltestelle nach dem Kutscher Ausschau. Der Bus hatte Verspätung gehabt, wie immer. Um zehn Uhr sollte er beim Bürgermeister, Herrn Ackawi, sein. Aber da der Bus eine halbe Stunde länger gebraucht hatte, würde auch er, der Herr Staatsanwalt, mit Verspätung eintreffen. Ah, da stand der Kutscher und winkte mit der Peitsche. Das Haus des Bürgermeisters lag nicht sehr weit von der Haltestelle entfernt. Mahrus Holzbein lag ausgestreckt, während das andere Bein sich mit einem geringeren Platz begnügte. Wie schafft er es, mit solchem Bein auf den Kutschenbock und wieder herabzusteigen, überlegte der Staatsanwalt.

Mahrus fiel ihm ein. Vielleicht sollte er ihn fragen, was sich damals, als der Innenminister ermordet wurde, abgespielt hatte. Aber wie sollte er das Gespräch beginnen, ohne sein Misstrauen zu wecken? Wenn es um Aussagen bei der Staatsanwaltschaft ging, belastende oder nicht, dann hatten die Askouris Schwierigkeiten mit der Wahrheit.

"Im Bus habe ich das Protokoll über die Geschichte mit dem Innenminister gelesen. Wie viel Schüsse hast du gehört?"

Der Kutscher war überrascht. Er versuchte, seine Verlegenheit zu überspielen, indem er lächelte. "Ich weiß nicht mehr. Ich habe damals alles ausgesagt, was ich wusste. Wenn Sie mich jetzt fragen, wie viele Schüsse es waren, da kann ich mich wirklich nicht daran erinnern."

Ein kleiner, lausiger Kutscher, ein Lügner und Betrüger. Versteckt sich einfach hinter seinem schlechten Gedächtnis, einfach so. Was kann ein Staatsanwalt da machen? Nichts, rein gar nichts. Wahrscheinlich bin ich auch ungeschickt vorgegangen, dachte er. Möglicherweise habe ich übereilt gehandelt, überlegte er.

Die Kutsche fuhr den Kanal entlang. Wagdi beobachtete, wie Mahrus vom Bock aus das Pferd dirigierte. Bauernschläue, Verschlagenheit, Gerissenheit. All das glaubte er zu erkennen. Dagegen war die gesamte Beamtenschaft machtlos.

Mahrus hielt vor dem großen Tor, klopfte, und wieder schaute der Wächter durch die Luke und überprüfte die Ankömmlinge. Wagdi stieg aus. Kurz danach fuhr Mahrus mit der Kutsche weiter.

Schade, ich hätte gern zugesehen, wie flink er vom Kutschbock stieg, bedauerte er. Ein Mann kam auf ihn zu und machte ein freundliches Gesicht. Er war offenbar der Gärtner. Sie gingen den Weg entlang, der zur Veranda im hinteren Garten führte. Überall wucherten die Blumen und streckten ihre Hälse in die Gegend. Wagdi ging sehr sachte voran, als wollte er nicht ihre Köpfe zertreten. An der Treppe, die zur Veranda führte, stand der Polizeioffizier Hassan Wassan und rief seinem Begleiter zu: "Warum hast du den Herrn Staatsanwalt nicht durchs Haus geführt?"

Jaquot Ackawi, der Bürgermeister, saß am Tisch und hielt den Stock mit beiden Händen umklammert. Ein Dritter, den Wagdi nicht kannte, stand auf, kam auf ihn zu und gab ihm die Hand.

"Zidan Afifi", stellte er sich vor, und Hassan Wassan fügte hinzu: "Mein Schwiegersohn."

Rundliches Gesicht, hamsterartige Backen und der obligatorische Schnurrbart fielen Wagdi gleich auf. Zidan war der kleinste in der Runde. Ein sich im Entstehen befindlicher Bauch ließ ihn noch kleiner erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Seine Augen glotzen ohne sichtbaren Grund in die Gegend. Er war die ganze Zeit bemüht, vornehm zu erscheinen, was ihm weitgehend nicht gelang. Warum schauten seine Augen so naseweis und neugierig, als würden sie nicht genug zu sehen bekommen, sinnierte Wagdi. Was für eine unsympathische Erscheinung, dachte er.

Sie setzten sich an den Tisch. Es herrschte peinliche Stille, sodass Wagdi sich gezwungen sah, die Atmosphäre etwas zu lockern. Er wollte über Mahrus reden, wie flink er den Kutschbock bestieg, aber Hassan kam ihm mit der Frage zuvor: "Gefällt es Ihnen in Askour?"

"Ich bin, wie Sie wissen, erst gestern angekommen. Es wäre verfrüht, jetzt schon ein Urteil abzugeben."

Hassan warf ein: "Aber arbeiten Sie nicht in Demiatta?"

"Schon seit sechs Jahren."

"Ihr Name ist mir geläufig. Wir hatten zwar nicht direkt miteinander zu tun, es ging ja alles über die Dienststelle in Mansoura, aber ich meine, mich an Ihren Namen erinnern zu können", sagte Wassan.

"Ich hatte ja mit Askour nichts zu tun gehabt", warb Wagdi um Verständnis.

Er musste mit Bitterkeit daran denken, dass er so dumm gewesen war, sich freiwillig für dieses Amt in Askour gemeldet zu haben.

Das Gespräch wechselte über zu Alexandrien, wie weit es bis dahin wäre, und schließlich sprach man über das Leben in der Fremde.

"Ich war mit fünfundzwanzig Jahren zum ersten Mal in der Fremde. In England. Dort habe ich meine Ausbildung als Offizier gemacht", sagte Wassan.

Wagdi wollte in das Thema nicht einsteigen und sich von den ihm wichtigen Dingen ablenken lassen. "Ich bin dabei, den Bericht über das letzte Attentat zu lesen. Wahrscheinlich werde ich Ihre Hilfe brauchen."

"Ich bin mehrere Male vernommen worden", erwiderte der Bürgermeister, "und kann dem Gesagten nichts mehr hinzufügen."

Der Staatsanwalt fühlte sich zurückgewiesen. "Wir wollen nur die Wahrheit erfahren."

"Was man unter Wahrheit zu verstehen hat, schreibt die Zentralregierung vor. Wenn irgendwo irgendwelche Leute schießen, sind es entweder Askouris oder Turanschahis!"

Wagdi dachte an die gestrige Szene, als der Bürgermeister vorgekautes Essen aus dem Mund seiner Frau bekam und es verschlang. Er musste sich Mühe geben, höflich zu bleiben. "Wir haben in der Zwischenzeit neue Informationen erhalten. Aufgrund dieser Hinweise müssen wir gezielte Befragungen vornehmen", erklärte er.

"Sprechen Sie vom Versteck der Attentäter?", wollte Hassan wissen.

"Auch", entgegnete Wagdi. "Ich darf Sie darauf hinweisen, dass alle Angaben vertraulich behandelt werden müssen."

Offenbar wollte sich der Offizier Hassan Wassan von dem jüngeren Staatsanwalt nicht maßregeln lassen. "Ich darf Ihnen sagen, dass die Entdeckung des Verstecks mir und meinen Leuten zu verdanken ist!"

Wagdi wollte wissen, wie ihm das gelungen war. Immerhin bot sich hier eine günstige Gelegenheit, Hassan Wassan seinen guten Willen zu zeigen. Der zögerte auch nicht lange, sondern begann im Handumdrehen, die Episode in allen Einzelheiten zu erzählen: "Vor einigen Tagen erschien eine stadtbekannte Prostituierte im Polizeirevier und wollte mit mir sprechen. Da kann ja jeder kommen, dachte ich. Aber nein, sie wollte unbedingt mit mir und nur mit mir sprechen. Sie erzählte, dass zwei Männer zu ihr gekommen wären. Zwei fremde Männer. Sie fuhren ein Motorrad mit Beiwagen. Sie hätten die Frau eingeladen einzusteigen. Die Fahrt endete vor einem Haus. Sie konnte es nicht genau sehen, weil es schon dunkel war. Zunächst hätte sie dem Ganzen keine Bedeutung beigemessen, erst als sie von der Ermordung des Ministers erfuhr, sei sie zur Polizei gekommen. Ich bin daraufhin zu besagtem Haus gegangen. Es war die Ruine am Nil. Ihre Angaben stimmten mit den Vorgefundenen überein. Ich habe die Oberstaatsanwaltschaft benachrichtigt. Kurz danach erschien ein Gerichtsmediziner und übernahm die Untersuchungen. Die Ergebnisse ... "

Während Hassan eifrig erzählte, sah Wagdi, wie Zidan sich zum Bürgermeister bückte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Wagdi schaute genau hin, nein, es gab nichts zu essen. Seine Befürchtung, der Mann bekomme wieder Vorgekautes, erwies sich als unbegründet. Hassan erzählte immer noch, obwohl niemand sonderlich hinhörte. Als er eine Pause machte, erklärte Wagdi hastig: "Ich muss noch zum Amtsgericht." So sehr er sich bemüht hatte, seine Worte höflich klingen zu lassen, war der mahnende Ton nicht zu überhören.

"Oh, wir wollen Ihre kostbare Zeit nicht unnötig in Anspruch nehmen", erwiderte Zidan. "Aber eins müssen wir noch klären. Wie Sie wissen, feiern wir jedes Jahr den Todestag von Turanschah. Wir hatten bisher stets Schwierigkeiten mit der Zentralregierung, und die Staatsanwaltschaft hat sich immer als Handlanger der Zentralregierung erwiesen. Deshalb wollen wir mit Ihnen reden."

Zidan schaute seinen Schwiegervater erwartungsvoll an, als wollte er wissen, ob er seine Aufgabe gut gemacht hatte. Irgendetwas gefiel Wagdi nicht an diesem Zidan. Was das genau war, das wusste er nicht. Eigenartig, dachte er, früher hätte es niemand gewagt, sich offen als Turanschahi zu bezeichnen. In den letzten Jahren hatte die Regierung den Turanschahis volle Religionsfreiheit gegeben. Und jetzt beharren sie auch noch auf Rechten, die ihnen überhaupt nicht zustehen. Frechheit. Konnte dieser Zidan der Mörder von Minister Gaafer sein? "Mir ist der Konflikt bekannt", antwortete er endlich. "Allerdings hoffe ich, dass Sie meine Situation verstehen. Wir als Staatsanwälte sind angehalten, nicht ohne Anweisung der Regierung zu handeln."

"Und was heißt das im Klartext?", fragte Zidan.

"Wissen Sie, ich befinde mich in einer schwierigen Lage. Ich hatte kaum Zeit, mich mit dem Sachverhalt zu befassen. Ich habe eine Menge Akten zu studieren. Im Augenblick kann ich Ihnen nichts Verbindliches sagen."

Das Dienstmädchen kam herein und stellte ein Tablett ab. Hassan Wassan übernahm die Rolle des Gastgebers und reichte jedem einen Mokka. Jaquot tastete mit der rechten Hand nach seiner Tasse. Wagdi malte sich aus, wie es aussähe, wenn Jaquots Frau zuerst den Mokka trank und ihn dann ihrem Mann per Kuss weitergab. Im Moment waren alle damit beschäftigt, den Mokka hörbar zu trinken. Wagdi war bemüht, so geräuscharm wie möglich zu trinken; das Geschlürfe seiner Gastgeber mahnte ihn, in diesem Konzert eine Ausnahme zu spielen. Am lautesten war Zidan. Er trank, als würde er sich an einem Wettbewerb beteiligen, wer am ekelhaftesten Mokka schlürfen würde.

"Wir wollen Sie nicht bedrängen", sprach Jaquot, "aber wir hoffen, dass Sie für uns bei den Behörden vermitteln." Die dicken schwarzen Brillengläser sahen so aus, als wären sie das ehemalige Schwarze der Augen. Sie wucherten krebsartig und wurden dabei so hart wie schwarzes Glas. Wagdi schaute sich diese ehemaligen Augen an, aber sie blickten in die Leere.

Der Staatsanwalt befürchtete, dass Zidan wieder zu sprechen beginnen würde. Also ergriff er das Wort: "Wir müssen noch einmal miteinander reden, ich habe etliche Fragen."

Er rechnete mit einem Protest seitens Ackawi, aber der schwieg und die anderen auch. Er wandte sich direkt an den Bürgermeister: "Sie haben bei der ersten Vernehmung gesagt, dass Sie niemanden des Attentats verdächtigen. Kurz danach gaben Sie zu, dass der Minister einige Feinde hatte. Sehen Sie da keinen Widerspruch?"

"Nein, es ist klar, dass der Minister Feinde hatte", insistierte der Bürgermeister. Das Gebiss saß ihm wieder locker im Mund, schüttelte und rüttelte die Wörter und machte die harmonische Übereinstimmung von Aussprache und Betonung zunichte. Ja, Zähne sind nicht nur zum Beißen da, überlegte Wagdi.

"Aus welchem Lager kamen diese Feinde?", wollte der Staatsanwalt wissen.

"Er hat den Askouris zwar die gleichen Rechte wie der übrigen Bevölkerung gegeben, aber viele sind dadurch misstrauisch geworden."

Wagdi stellte fest, dass es eine Sache der Gewöhnung war, den Bürgermeister zu verstehen. "Können Sie Gründe nennen?“

Der Bürgermeister überlegte eine Weile, dann sagte er: "Einige Askouris waren der Meinung, der Minister hätte es nur getan, um die Leute zu verunsichern."

Der Staatsanwalt ließ nicht locker. "Das verstehe ich nicht!"

Der Bürgermeister wurde ungeduldig. "Viele dachten, das Hauptziel des Ministers wäre, die Askouris aus der Reserve zu locken, damit die, die Turanschahis sind, sich nicht mehr tarnen und verstecken. In diesem Fall hätte die Regierung sie besser verfolgen können."

Wagdi wusste, dass der Bürgermeister all das schon zu Protokoll gegeben hatte. Was Wunder, dass ihm die Befragung plötzlich sinnlos vorkam. Trotzdem sagte er: "Aber das ist doch Unsinn. Das Ministerium hatte ein Gesetz erlassen, wonach alle Taten aus der Vergangenheit strafrechtlich nicht mehr zu verfolgen sind. Die Regierung wollte einen neuen Anfang durchsetzen."

Jaquot Ackawi blieb ruhig. Nach wie vor hielt er seinen Spazierstock mit beiden Händen umklammert. "Ich habe nie daran gezweifelt, dass die Regierung eine gute Absicht verfolgte", erklärte er.

"Aber Sie müssen doch irgendeine Vermutung haben, wer mit dem Mord in Zusammenhang stehen könnte?", fragte Wagdi in der klaren Absicht zu provozieren.

"Da wissen Sie mehr als ich!"

Wagdi wollte sich nicht so schnell geschlagen geben. "Sie haben also niemanden in Verdacht?", fragte er betont bedächtig.

"Sie sehen doch, dass Sie sich bei Ihrer Vernehmung im Kreis drehen! Es ist damals alles zu Protokoll genommen worden!", rief Zidan. Diese Bemerkung machte ihn noch unsympathischer, als er schon war.

Sein Schwiegervater versuchte zu vermitteln. "Dem Herrn Bürgermeister geht es in der letzten Zeit nicht besonders gut. Jede Befragung strengt ihn unnötig an."

Wagdi versuchte, sein Unbehagen zu verbergen.

Hassan Wassan griff ein. Besonders liebenswürdig sagte er: "Sie brauchen nur das Vernehmungsprotokoll zu lesen. Es steht alles drin."

Wagdi musste nicht lange überlegen. Er verstand das Ganze als eine Art Demütigung. Nicht deutlich, aber spürbar. Es war nicht das erste Mal, dass er dieses Gefühl erfuhr. "Eigentlich haben Sie Recht", sagte er, um seinen Rückzug nicht ganz als Niederlage erscheinen zu lassen. Er packte seine Sachen zusammen, stand auf und machte Anstalten, sich zu verabschieden. Jaquot blieb sitzen. Die anderen zwei erhoben sich ebenfalls, um ihm die Hand zu geben. Hassan und Zidan begleiteten ihn bis zur Straße. Dort stand Mahrus neben dem Pferd und streichelte es.

"Bring Herrn Hefnawi zum Amtsgericht!", befahl Hassan Wassan.

Wagdi hatte eigentlich zu Fuß gehen wollen, aber Hassan bestand darauf, dass Mahrus ihn bis dahin kutschieren sollte. Also stieg er in die Kutsche. Mit einer routinierten Leichtigkeit und mit einer Drehung in die Luft saß er mit seinem Holzbein auf dem Bock. Wagdi hatte kaum Zeit, diesen Vorgang genau zu beobachten. Mahrus wollte das Pferd antreiben, aber Wagdi bat ihn, sich Zeit zu lassen. Gemächlich schaukelten sie den Scharquawiyya-Kanal entlang. Er lehnte sich zurück und beobachtete, wie die Bäume langsam an ihm vorbeizogen. Ab und zu tauchte ein Streifen Wasser auf. Wasser, das sich vom Blau des Himmels nicht dazu verleiten ließ, seine trübe Farbe aufzugeben. Worauf habe ich mich eingelassen, fragte er sich. Er musste wieder an Alexandrien denken.

Mahrus ließ ihn in Ruhe. Er hatte auf das Gewimmel von Menschen und Fuhrwerken zu achten. Kutschen, Eselskarren, Radfahrer, Fußgänger, spielende Kinder gaben ein buntes Getümmel ab. Ihm fiel auf, wie vielen Menschen ein Arm oder ein Bein fehlte. Einige gingen auf Krücken, anderen flatterte der Ärmel in der Luft. Auch die Zahl der Leute, die ihn mit einem einzigen Auge ansahen, war beträchtlich. Kein Wunder, dass die Zentralregierung die Feier zum Todestag von Turanschah verboten hatte. Den Beweis dafür, dass es den Askouris so gut wie immer gelungen war, das Verbot zu unterlaufen, lieferten diese Krüppel. Während der feierlichen Zeremonie wurde der dreifache Tod von Turanschah wiederholt, und die Darstellung war so lebensecht, dass im Lauf des Kampfes viele Menschen, abgesehen von den Leichtverletzten, ein Bein, einen Arm oder ein Auge verloren. Verstümmelung war eine Ehre, und keiner wollte Turanschahs Todestag ehrlos verlassen.

In einem Buch über Turanschah hatte er die folgende Passage gelesen:

"Die verlorenen Körperteile warten auf ihre Besitzer, und an dem Tag, an dem Turanschah aufersteht, werden die Verwundeten die ersten Begleiter Turanschahs sein. Alle, die für Turanschah gestorben sind, warten in seiner Begleitung auf den Tag der Auferstehung. Die, die vor Hunderten von Jahren starben, harren in ihren Gräbern aus, aber die Verwundeten sind die ersten, die die Erde betreten. Sie sterben nicht. Sie werden auch nicht in Staub verwandelt. Turanschah hat sie als seine Freunde auserkoren."

"Da, sehen Sie!", rief Mahrus. "Haben Sie Turanschahs Grabmal schon besichtigt?" Er hielt die Kutsche an.

Wagdi beugte sich vor. "Fahr mal hin!", sagte er.

Mahrus setzte die Kutsche in Bewegung und hielt in der unmittelbaren Nähe des Grabmals. Es war ein viereckiges Gebäude, das durch eine komplizierte geometrische Konstruktion in einen Kuppelbau überging. Es hatte nur eine Tür, die reiche Holzornamente aufwies. Wagdi blieb an der Tür stehen, schirmte die Augen mit beiden Händen ab und versuchte, in das Innere des Gebäudes zu schauen. Ein Schrein war mit einem Tuch verdeckt. Welche Farbe hatte das Tuch? Er konnte es nicht erkennen. Die Sonne neigte sich schon gen Westen. Er sah, wie sein Schatten Zickzack-Formationen auf die Treppe warf. Der Schrein und der Diwan Turanschahs bildeten eine Einheit. In einem anderen Buch über Turanschahs Diwan konnte sich Wagdi an folgende Episode erinnern:

"Der Diwan diente als Empfangshalle für Turanschahs Besucher, die sich ausschließlich aus berühmten Toten rekrutieren."

Vier Türme waren zu sehen, an jeder Ecke einer. Ein mächtiges Portal, zu dem je eine Treppe von links und rechts hinaufführte, bildete in der Mitte die Achse zu einer perfekten Symmetrie. Die Anzahl und die Größe der Fenster waren von der Mitte des Portals beobachtet gleich. Grüppchen von Menschen, offensichtlich Fremde, standen auf dem Vorplatz und waren damit beschäftigt, die Schönheit der Ornamente und die ausgewogene Geometrie zu bewundern. Das Mauerwerk war mit unendlich reichem Bildwerk bedeckt; es schilderte den Kampf und den Tod Turanschahs. Unter den einzelnen Bildern standen Texte, die die jeweils abgebildete Szene beschrieben. Wagdi hatte enorme Schwierigkeiten, den Text zu entziffern. Die Schrift war verschnörkelt, verknotet und durchzogen von kalligraphischen Formen. Alles schien einem obersten Gesetz untergeordnet zu sein, dem der Unleserlichkeit.

Mahrus, der an Wagdi herangetreten war, ahnte wohl seine Ratlosigkeit. Ohne, dass ihn jemand dazu aufgefordert hatte, begann er, die Bilder zu erklären. "Das ist Turanschah. Er betritt sein Zelt, nachdem er mit seinen Soldaten den Sieg über die Kreuzzügler gefeiert hat. Der Verräter Bundukdari befiehlt seinen Leuten, Holzscheite um das Zelt zu legen. Hier sehen Sie, wie die Verräter das Holz anzünden. Turanschah verlässt das brennende Zelt. Hier begibt er sich auf einen Holzturm. Die Meute umzingelt den Turm. Bundukdari will den Turm besteigen. Sehen Sie, er hält einen Dolch in der rechten Hand. Aber Turanschah springt in den Fluss und versucht, ans andere Ufer zu schwimmen. Ein Pfeil trifft ihn. Verwundet, wie er ist, kämpft er mit den Wellen. Bundukdari springt hinter ihm her und versetzt ihm den Todesstoß."

Mahrus schien kein Ende zu finden. Wagdi suchte vergeblich nach den Bildern, die Mahrus beschrieb. Fresken waren das. Der Staatsanwalt musste genau hinschauen, um die Bilder zu erkennen. Fragen stellte er nicht. Er wollte Mahrus in seinem Eifer nicht noch bestärken.

"Ständig kommen neue Besucher her", prahlte Mahrus und rückte ihm immer mehr auf den Leib.

"Woher kommen sie?"

Der Kutscher überlegte kurz, dann sagte er: "Unsere Glaubensbrüder sind in der ganzen Welt verstreut. Nur Turanschah kennt sie beim Namen. Sie kommen, wann sie wollen, und gehen, wann sie wollen."

"Woran erkennt man Turanschahs Anhänger?"

"Gar nicht", antwortete Mahrus, "es kann vorkommen, dass Sie jemandem begegnen, der ein leidenschaftlicher Turanschah-Anhänger ist, aber er wird seine Identität nie verraten."

Wagdi hatte früher ähnliche Hinweise zur Kenntnis genommen, hielt sie aber für übertrieben.

"Es kann auch sein, dass Sie ein glühender Turanschahi sind, trotzdem werden Sie sich als solchen nicht zu erkennen geben", sagte Mahrus. Der Staatsanwalt wollte wissen, ob er das Ernst meinte. Mahrus bejahte es mit Vehemenz und schaute den Staatsanwalt mit neugierigen Augen an. Humor, der schmerzt.

"Wird der Diwan den Besuchern von innen gezeigt?", wollte Wagdi von dieser Situation ablenken.

"Ich bin jetzt mehr als fünfzig Jahre alt und habe noch nie gehört, dass ein Mensch diesen Diwan jemals betreten hat. Es wird sogar behauptet, dass weder ein Fenster noch das Portal jemals geöffnet wurden. Sie sind so gebaut, dass es nicht geht."

"Warum macht man ein solches Geheimnis daraus?"

Mahrus schaute ihn mitleidig an. Er holte ein zerknittertes Heft aus seiner Tasche und zeigte auf eine Stelle und bat den Staatsanwalt, sie zu lesen. Wagdi nahm das Heft widerwillig in die Hand. Die äußeren Blätter waren gelblich. Die ersten Seiten wiesen gerollte Ecken auf. Stellenweise war die Schrift unleserlich, als wäre sie abgenutzt.

"Im Diwan treffen sich die Großen dieser Welt. Die erhabenen Toten dieser Erde, die ich nicht mit Namen kenne, kommen Jahr für Jahr hier zusammen. Keiner weiß, wann sie sich treffen, und keiner weiß, wie lange sie im Diwan tagen. Sie kommen, um mit Turanschah die Lage der Welt zu beraten. Das, was sie hier besprechen, fließt in ihre Schriften ein, und die Leute, die diese Bücher lesen, verstehen das Neue, das ihrem Leben noch größeren Sinn gibt. Ich habe in meinem langen Leben viele Bücher gelesen. Daher meine ich, dass Bücher leben, und das kommt daher, weil Turanschah den Wörtern, Buchstaben und Sätzen Tag für Tag neues Leben einhaucht."

Wagdi wollte nicht weiter lesen. Vielleicht bestand diese gelbliche Farbe aus den vertrockneten Resten von Mahrus Schweiß.

"Lesen Sie doch weiter", forderte ihn Mahrus auf.

Wagdi hörte darüber hinweg und tat so, als würde er das Grabmal bewundern.

"Nicht nur die großen Toten kommen zu ihm, sondern auch alle künftigen Großen, die erst in hundert oder zweihundert Jahren geboren werden. Sie finden zu Turanschah, suchen seine Nähe und wollen von ihm wissen, wie sie zu Größe gelangen können", zitierte Mahrus eine Stelle auswendig aus dem Heft.

"Du hast mir mal erzählt, dass du nicht lesen und schreiben kannst. Wieso kannst du plötzlich diese Stelle auswendig?"

"Ja, das stimmt. Ich kann weder lesen noch schreiben. Wir Askouris lernen alles auswendig", antwortete Mahrus.

"Und warum lernt ihr diese Bücher auswendig?"

"Jedes Wort besteht aus Buchstaben. Jeder Buchstabe hat eine Zahl. Je mehr wir Turanschahs Bücher auswendig lernen, desto näher kommen wir dem Herrn aller Welten."

"Woher weißt du das?", fragte Wagdi. Er war beeindruckt von Mahrus Rede, die einem Kutscher, der obendrein Analphabet war, gar nicht angemessen war.

"Hinter jedem Buchstaben steckt diese magische Welt von Turanschah. Nur er weiß, was diese Worte bedeuten. Und nur er hat das Geheimnis der Welt erfahren", interpretierte der Analphabet.

Der Staatsanwalt fand es müßig, mit ihm darüber zu sprechen.

"Bring mich zum Amtsgericht!"

Das Pferd zog an. Wagdi machte die Augen zu und versuchte, sich zu entspannen - vergeblich. Der Kutscher hielt direkt vor dem Gebäude. Die Aufschrift "Amtsgericht", oberhalb des Portals, ließ sich kaum noch entziffern. Die Buchstaben waren verblichen. Wahrscheinlich waren sie ursprünglich mit Blattgold belegt gewesen; Reste des verblassten Edelmetalls waren gerade noch zu erkennen. Das Gebäude sah auffallend hässlich aus. Die Farben des Mauerwerks, der Fenster und Türen waren abgeblättert. Risse waren deutlich sichtbar. An manchen Stellen war der Putz bereits abgefallen, an anderen warf er sich auf. Wagdi betrat das Gebäude widerwillig. Der Portier saß nicht an seinem Platz. Erst jetzt fiel ihm auf, dass zwei Aufgänge nach oben führten, einer von links und einer von rechts. Der architektonische Zustand deutete darauf hin, dass das Amtsgericht wie seine Angestellten an Ermüdungserscheinung litt. Er ging die rechte Treppe hinauf, schritt den Flur entlang, schaute von oben in den Innenhof und bog rechts ab, wo sich sein Arbeitszimmer, jedenfalls vorläufig, befand. Umständlich holte er den Schlüssel heraus und öffnete die Tür. Gewarnt, wie er war, achtete er darauf, ob ein Brief auf dem Boden lag. Nein, weder gab es ein offenes Schreiben noch ein in einem Umschlag verschlossenes. Er setzte sich hin, öffnete seine Tasche und holte den Brief hervor. "Es wird ein böses Spiel mit Ihnen getrieben!"

Er atmete die stickige Luft. Als er das Fenster zu öffnen versuchte, merkte er, dass der rechte Flügel ausgehoben und auf dem Boden abgestellt war und der linke Flügel nur noch wie durch ein Wunder gehalten wurde. Sobald er geöffnet war, fiel er wieder zu. Das erklärte, warum auf der Fensterbank ein Holzkeil lag. Wagdi schob ihn unter den Flügel, an eine Stelle, die, abgeschabt, wie sie war, offenbar schon seit Jahren dafür amtlich erwählt worden war.

Ganz und gar unleserlich war Bekirs Schrift nicht, seine schlimmsten Befürchtungen trafen also nicht zu. Aber trotzdem bereitete es große Mühe, die einzelnen Buchstaben zu Silben und Wörtern zusammenzusetzen. Erst dann konnte man den gewonnenen Text auf seine Bedeutung hin prüfen. Kaum glaubte er, eine Textstelle verstanden zu haben, vergaß er, was die vorherigen Abschnitte zu besagen hatten. Er ging dazu über, die vermeintlichen Stellen in seinen eigenen Sprachstil zu übersetzen, eine langwierige und mühsame Prozedur. Vielleicht hätte Bekir seinen Bericht mit Bildern versehen sollen, um seine Lesbarkeit zu erleichtern.

Der alte Mann war ein gründlicher Staatsanwalt. Er hatte eine Liste von allen Opfern angefertigt, die in den letzten dreißig Jahren bei Attentaten getötet worden waren. All diese Richter, Staatsanwälte, Justizbeamte, Staatssekretäre hatten mit Untersuchungen zu tun, in deren Mittelpunkt Askour stand. Damit wäre ein mögliches Motiv für den Mord gegeben. Der Innenminister bildete keine Ausnahme, denn immerhin überwachte er die Arbeit der Staatsanwälte, die sich mit den Turanschahis befasst hatten. So nehme ich mit meiner Arbeit in Kauf, dass ich eines Tages Opfer eines Attentats werde, meinte Wagdi. Aber Bekir hat diesen Schrecken überlebt. Vielleicht schaffe ich es auch, versuchte er sich zu beruhigen.

Das Lesen strengte ihn kolossal an. Er legte den Schreiber auf den Tisch und rieb sich mit beiden Händen die Augen. In der letzten Zeit häuften sich die Attentate. Im ganzen Land wurden Menschen erschossen, ermordet, erpresst oder entführt, die angeblich mit Turanschah nichts zu tun hatten. Doch durch spätere Untersuchungen wurden die Mörder als Anhänger von Turanschah entlarvt.

"Irgendwann komme ich auch an die Reihe", sinnierte er. Schöne Aussichten. Dieses Mal wollte er sich keine Hoffnung machen.

Er setzte sich so hin, dass er den Fluss sehen konnte. Die Akten lagen noch auf dem Tisch. Es war schon drei Uhr, und er verspürte leichten Hunger. Hatte er nicht gerade beim Bürgermeister gegessen? Ach nein, er war zwar bei ihm gewesen, doch heute hatte es nur Mokka gegeben. Einen Tag zuvor lagen noch die gebratenen Tauben auf dem Tisch. Ob die Langeweile schuld am Hunger war? Vielleicht verursachen Bekirs Sätze Hunger und Durst.

Er holte die belegten Brote aus der Tasche. Durch eine ungeschickte Bewegung wirbelte er Staub auf. Davon gab es genug, überall lag Staub auf den Akten, auf dem Tisch und auf den Brettern des Regals. Jede Bewegung verursachte eine kleine oder größere Staubwolke, so dass er hüsteln musste. Er stellte sich ans Fenster und aß seine Brote. Diesmal waren keine Tomaten dabei. Langsam bringe ich sie doch dahin, wohin ich sie haben will, in ein erträgliches und tomatenloses Verhältnis wie das zwischen Herrn und Knecht, dachte er.

Wenn er sich nach links beugte, konnte er unten im Café die Gäste sehen. Beugte er sich nach rechts, sah er die Holzhütte, die den Pendlern zwischen den Nilufern als Aufenthaltsort diente. Einige Boote segelten in beiden Richtungen über den Fluss. Er dachte wieder an Alexandrien. An das Meer. An die asphaltierten Straßen mit ihren himmelblauen Straßenbahnen. An die riesigen Schiffe, die im Hafen vor Anker lagen oder in den Hafen einliefen. Dann kamen die vielen Ausländer, die die Stadt bevölkerten. Griechen, Italiener, Libanesen, Türken, Syrer, Engländer und Franzosen. Kinder, Alexandrien ist der Mittelpunkt des Universums. Babylon mit ihren unzähligen Sprachen. Und Demiatta? Immerhin waren die meisten Straßen auch asphaltiert. Jawohl, sie waren asphaltiert und trugen dazu bei, dass der Glanz seiner Schuhe nicht von Lehm befleckt wurde. Einige Heimatlose fanden Exil in Demiatta. Hierher nach Askour aber hat sich kein Heimatloser verirrt.

Er setzte sich wieder an den Tisch und versuchte, Bekirs Schrift in seine Sprache zu übersetzen. Er hatte erwartet, dass sich Bekir auf die Attentate der letzten fünf Jahre beschränken würde. Nein. Wagdi stieß auf Daten, die zwanzig, sogar mehr als dreißig Jahre zurücklagen. Acht Ordner und Akten enthielten Berichte über lange zurückliegende Attentate. Außerdem verwies Bekir auf unzählige Ordner und Akten, die in den unteren Räumen des Gerichtsgebäudes aufbewahrt wurden.

Was wollte sein Vorgänger mit dieser Arbeit beweisen? Hatte Bekir nicht einen abschließenden Bericht über die Attentate der letzten fünf Jahre schreiben sollen? Warum schweifte er ab und verlor sich in alten Geschichten? Ein eindeutiges Motiv für die Morde war nicht erkennbar. Am wahrscheinlichsten war noch, dass sich die Askouris von der Zentralregierung hatten unabhängig machen wollen. Für ihn, Wagdi, waren diese Attentate nur als Protest gegen die Haltung der Zentralregierung zu verstehen. Aber davon war an keiner Stelle des Berichts die Rede. Vielleicht war sein Urteil etwas verfrüht, abgesehen davon, dass er nur einen Bruchteil des Berichts gelesen hatte? Hinweise, die seine Vorinformationen hätten ergänzen können, waren nicht zu finden. Bekir hat sich sicherlich darauf spezialisiert, Sätze zu schreiben, die ermüdend wirken, spekulierte er.

Zeugenaussagen, Polizeiprotokolle, Beschreibungen von Sachverhalten und mutmaßliche Motivationen füllten die Papiere, zumeist beidseitig beschrieben. Das erschwerte wiederum die Leserlichkeit. Die Tinte der einen Seite durchdrang das hauchdünne Papier, sodass ein Kampf zwischen den Buchstaben beider Seiten entstand: Welche neu entstandenen Worte waren eher in der Lage, den Leser durch Lesbarkeit anzusprechen. In einigen Wochen würde Bekir zurückkehren und wenig später in den Ruhestand versetzt werden. Von da an musste Wagdi die Arbeit allein verrichten. Aber was genau sollte er machen? Das wusste er nicht. Sein Scheitern war vorprogrammiert. Doch er wollte nicht scheitern. Er war entschlossen, den oder die Mörder zu finden. Wieder ging er ans Fenster, ein großes Segelboot zog vorbei. Ein Mann saß am Ruder, und ein anderer balancierte auf der Bootskante und hielt sich mal an einem Seil, mal an einem Mast fest. Der Portier ging unter dem Fenster vorbei. Vielleicht sollte er ihn fragen, ob er Bekirs Schrift lesen konnte? "Ich habe meine Brille vergessen. Wollen Sie mir bitte diesen Satz vorlesen?" Reichlich komisch, was würde der Portier von ihm denken?

Offenbar wollte Bekir Papier sparen, indem er beide Seiten eines Blattes beschriftete. In Kriegszeiten, in denen Sparen angesagt ist, ist das geradezu eine Tugend, eine patriotische Absicht, aber leider voll daneben. Ein Wort kämpfte sich durch die dünne Papierwand und erschien spiegelbildlich auf der anderen Seite desselben Blattes. Es kam manchmal vor, dass zwei Wörter um ein und dasselbe Stück Papier mit der gleichen Tinte kämpften. Jedes Wort wollte das Blatt durchdringen und diese Unnachgiebigkeit und die daraus resultierende Spiegelbildlichkeit am falschen Ort machten die entsprechenden Worte unleserlich.

In Gedanken haderte er mit Bekir: Wenn er ordentliche Arbeit von mir verlangt, muss er erst einmal eine ordentliche Schrift abliefern. Was will er überhaupt? Habe ich nichts anderes zu tun, als seine miese Schrift zu entziffern? Wer sagt das? Wo steht das? Wenn es mir hier nicht gefällt, lasse ich mich wieder nach Alexandrien versetzen. Ausgerechnet dieser Zwerg schreibt zwergenhafte Buchstaben, die Spekulationen nähren, die in das Gigantische gehen könnten. Verrückter Kerl.

Während er gelangweilt in den Akten blätterte, sah er eine Stelle, die mit einem Rotstift umrandet war. Die Stelle war gut leserlich.

"Die Askouris glauben, dass Turanschahs beste Freunde die sind, die ihn auf Erden bekämpfen. Turanschah sagt, schickt sie zu mir. Aus meinen meist erbitterten Feinden mache ich meine besten Vorkämpfer. Im Jenseits empfange ich meine Erzfeinde mit offenen Armen. Dann haben sie keinen sehnlicheren Wunsch, als meine treuesten Diener zu sein. Eines Tages werde ich auf Erden erscheinen, spricht Turan, mit einem Heer, dessen Soldaten meine ehemaligen Gegner und Feinde waren. Schickt sie zu mir in einem Hemd, aus dessen Fasern frisches Blut sprießt."

Bekir hatte die Stelle mit einem eigenen Kommentar versehen:

"Diese Attentate erscheinen hier in einem anderen Licht. Morde und Hinrichtungen sind für Askouris nichts anderes als der Versuch, die Zahl von Turanschahs Anhängern zu vermehren, indem sie ihre Gegner vernichten."

Was für ein Schwachsinn, ärgerte sich Wagdi. Was will dieser Zwerg damit sagen?

Kinder spielten auf der Straße. Sie warfen sich einen Ball zu. Der Traum der verlorenen Kindheit. Hatte er eine schöne Zeit gehabt? Unbeschwert? Glücklich? Die verflossene armenische Kindheit. Manchmal kam der Café-Besitzer und vertrieb sie, wenn sie laut wurden. "Ya Aulad el-Kalb" - Hundesöhne, die ihr seid, haut ab!

Ein Straßenverkäufer, der nun laut: "Halawet Zaman" rief, Süßigkeiten der schönen alten Zeit. Früher verkaufte er Gelati. Nun konnten sich die Kinder kein Eis mehr leisten, weil es zu teuer wurde. So bot er ihnen Zuckerstangen, die in eine durchsichtige Folie gewickelt und beliebt waren, weil die Kinder davon rote Zungen bekamen. Die weiß bemalte Handkarre erinnerte an die schöne Zeit, als es noch Gelati zu kaufen gab. Ein majestätischer Deckel alle Kinder hätten schwören können, er sei aus Gold, weil er so wunderschön goldfarbig glänzte, krönte dieses Wunderwerk. Eine magische Welt, deren Flüsse aus Honig und Gelati bestanden.

Die Kinder sangen ein Lied, das ihn an die ersten Versuche, Arabisch zu sprechen und zu singen, erinnerte.

Regne, regne,

tropf, tropf, tropf, tropf,

auf der Nichte kahlen Kopf.

Schnappt der Wolf sie mit den Krallen,

trägt sie schleunigst gleich von dannen,

wird die Nichte fahl und bleich,

frisst der Wolf sie hinterm Teich.

Sie hatten es oft gesungen, obwohl er keine Nichte hatte. Die anderen Kinder wohl auch nicht. Vielleicht hatte ich eine Nichte, die in Saloniki zurückblieb. In Alexandrien gab es reichlich Regen, und wenn die ersten Tropfen fielen, stimmten die Kinder dieses Lied an. Das muß 1915/1916 gewesen sein, als er sechs oder sieben Jahre alt war. Damals machte er, als er noch Vahe hieß, die ersten Erfahrungen mit dieser neuen Sprache. Beim Singen merkte keins der Kinder, dass er noch seinen armenischen Akzent zu vertuschen versuchte. Angeblich war das die Zeit, in der der Mensch Abschied von jenem Traum nimmt, den man Kindheit nennt. Unbewusst und ohne sein Zutun. Völlig grundlos entfernt er sich von den Illusionen der frühen Zeit. Warum konnte man diese Jahre nicht verlängern, wenigstens um einen oder zwei Tage? Das Jahr 1916. Was habe ich damals gedacht? Ich sehe meine schöne, todkranke Mutter, wie sie durch die Wohnung wandelt und Ordnung schafft. Wovon habe ich geträumt? Vielleicht davon, Staatsanwalt zu werden? Oder ein Beamter bei der Ausländerbehörde, um meinem mit Schrott handelnden Vater die Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern. Vater war fasziniert von ägyptischen Beamten, die allein mit ihrer Unterschrift eine Aufenthaltsgenehmigung verlängern konnten. Wenn’s so weit war, zog er seinen besten Anzug an, dazu die passende Krawatte. Er setzte einen frisch gedämpften Tarbusch auf und ging mit dem Sohn, damals noch mit Namen Vahe Amalrikian, zur Ausländerdienststelle und bat höflichst und devot um eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Ohne gebügelten Anzug aus englischem Tuch, ohne aristokratisch vorgegaukelte Manieren und ohne entsprechende zusätzliche finanzielle Leistung gab es keine Aufenthaltsgenehmigung.

"Fünfzig Pfund!", erklärte der Beamte. Fünfzig Pfund waren damals viel Geld. Ein höherer Beamter verdiente fünfzig Pfund in einem Jahr. Und dieser Beamte will fünfzig Pfund für eine fünfjährige Aufenthaltsgenehmigung kassieren, seufzte sein Vater. Georg Amalrikian, der Rechenkünstler, stellte fest, das sind zehn Pfund pro Jahr. Beim Hinausgehen murmelte er: "O, mein armer Vater, wenn er das hörte." Als wollte er sich trösten, erzählte er, dass der Herr Mardikian, ein Schrottgroßhändler, mehr als fünfhundert Pfund bezahlt hatte. "Aber", fügte er hinzu, "sie sind auch eine große Familie. Frau Mardikian bringt jeden Sommer ein Kind zur Welt, und das seit fünfzehn Jahren. Allerdings waren einige davon Totgeburten."

Sein Vater sah richtig gut aus, wenn er einen Anzug anhatte, wie ein türkischer Pascha. Tarbusch, Krawatte, Weste und Anzug aus englischer Wolle. Dazu hielt er einen Fliegenwedel in der Hand, hergestellt aus den langen Haaren eines Schimmelschwanzes, versehen mit einem Elfenbeingriff. Als er, Wagdi, etwas älter war, durfte er den Vater nach Saint Stefano begleiten, wo sich die reichen Ausländer von Alexandrien trafen. Sie saßen an der Promenade, tranken Bier, Whisky on the Rocks, Kaffee oder Tee mit viel Zucker und sprachen Französisch. Sein Vater sprach fließend Türkisch und trank ein Bier, und Vahe, damals noch ohne ägyptischen Namen, bekam eine Limonade. Mit fünfzehn Jahren durfte er dann einen ägyptischen Namen und einen ägyptischen Pass sein Eigen nennen, was den Beamten um mehr als einhundert Pfund reicher machte.

Es war spät am Nachmittag. Wagdi schlenderte am Ufer des Flusses entlang und wunderte sich, wie hartnäckig die Erinnerungen an vergangene Zeiten ihn manchmal verfolgten. Das Geäst der Bäume warf merkwürdige Schatten auf den Boden. Es war das Geflecht einer geheimnisvollen Geometrie, das ihn gefangen hielt, sobald er es betrat. Ein Netz von Schatten schob sich den Körper hinauf und hinterließ auf dem hellen Anzug die verzerrten und schattigen Ebenbilder von Ästen und Laubwerk. Die Blätter waren noch jung, sie gingen sparsam mit Licht und Schatten um. Am anderen Ufer lag eine Feluke. Einige Einwohner, vor allem Bauern, aber auch Reisende, standen am Steg und warteten. Viele kamen nach Askour, um einzukaufen. Das Holz des Fährhauses war durch die Witterung grau und rissig geworden. Die Bretter versuchten, sich vom Zugriff der Nägel zu befreien. Sie verloren dabei stellenweise ihren Halt, konnten sich aber der Klemme, in der sie sich befanden, nicht entziehen. Scheinbar dauerte dieser unvernünftige Kampf der Elemente lange Jahre, denn einige Nägel verloren dabei ihren Kopf.

Er ging auf der Landzunge spazieren. Von weitem sah er eine Pferdekutsche. Wenn das nicht Mahrus wäre! Vielleicht sollte er ihn wieder einmal zum Bürgermeister bringen. Falls ja, würde er klipp und klar erklären: "Sag dem Herrn Bürgermeister, ich kann nicht. Ich habe einen wichtigen Termin in Demiatta wahrzunehmen." Die sollen ja nicht denken, dass sie mit mir ganz nach Belieben umspringen können, schimpfte er.

Die Kutsche kam näher. Mahrus saß tatsächlich auf dem Bock, aber Wagdi konnte auch erkennen, dass zwei Personen in der Kutsche Platz genommen hatten. Der eine Fahrgast beugte sich etwas vor und grüßte förmlich. Es war der Mann, den er am Morgen im Haus des Bürgermeisters gesehen hatte. Wie hieß er noch? Neben ihm saß eine Frau, eine ausgemachte Schönheit. Obwohl keine Zeit blieb, sie länger anzuschauen, erfasste er mit einem Blick, dass sie eine ungewöhnlich reizvolle Erscheinung war. Sie schaute ihn nicht einmal an, während der Mann freundlich grüßte. Er versuchte, sich an dessen Namen zu erinnern, aber er fiel ihm nicht ein. Als die Kutsche an ihm vorbeifuhr, drehte Mahrus sich um und rief: "Wenn Sie nach Alexandrien schreiben, bringe ich den Brief zur Post!"

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Im fernen Berlin, am Tirpitzufer, erschien ein junger Offizier. Er war braungebrannt und hatte eine sehr lange und mühsame Reise hinter sich.

„Ich möchte mit Admiral Canaris sprechen", sagte er dem diensthabenden Offizier.

"So, so. Sie wollen Admiral Canaris sprechen", sagte der Offizier hämisch, "und mit wem habe ich die Ehre?"

"Ich bin Leutnant John Keppler", antwortete der junge Mann.

"Ah, Sie sind Leutnant Keppler", sagte der Offizier im Vorzimmer nachdenklich. Plötzlich änderte er seinen Ton: "Der Admiral hat vor kurzem nach Ihnen gefragt. Warten Sie hier!"

Der diensthabende Offizier gab eine imponierende Figur ab. Er war ausgesprochen schlank, mindestens 1,85 groß, und die knochigen Wangen machten das schmale Gesicht noch markanter. Er schritt energisch aus, sodass die Stiefel auf dem auf Hochglanz polierten Parkett knallten. Am Ende des Korridors blieb er vor einer Tür stehen, klopfte an und verschwand im Innern. Nach kurzer Zeit erschien er wieder, ging auf Keppler zu und sagte: "Ihr von der Abwehr versteht Euch meistens nicht zu benehmen. Wenn Sie den Herrn Admiral grüßen, wäre es gut, dass man Ihnen den Soldaten anmerkt und nicht den Zivilisten. Folgen Sie mir!"

Wieder knallte er die Stiefel aufs Parkett, als wollte er Keppler demonstrieren, wie sich ein militärischer Gang anzuhören hat. Er klopfte zackig, öffnete die Tür und rief: "Herr Admiral! Leutnant John Keppler!" Mit einem schneidigen Gruß verschwand er.

"Leutnant Keppler, Lehrregiment Brandenburg, nehmen Sie Platz!", sagte der Admiral.

John Keppler war froh, dass der Admiral, sein Chef, auf den ersten Ort, an dem er ihm begegnet war, anspielte. Er hatte befürchtet, der Admiral würde sich nicht an ihn erinnern. Wie befohlen, setzte er sich. "Vor meiner Reise hatte ich ja kurz mit Herrn Admiral gesprochen", erinnerte er an die letzte Begegnung.

"Ich weiß, wir haben damals ein paar Minuten zusammengestanden, für mehr reichte die Zeit nicht. Wie war die Reise?"

"Alle Völker im Nahen Osten blicken nach Berlin, Herr Admiral!", sagte Keppler mit großer Begeisterung.

"Berichten Sie kurz, was Sie dort erledigt haben. Ich habe noch einen sehr wichtigen Termin."

"Ich habe mit General Raschid Ali Al-Gailani gesprochen. Durch ihn war es mir möglich, berühmte Persönlichkeiten in Syrien, im Libanon und in Transjordanien kennen zu lernen. Ich habe ...."

Der Admiral unterbrach ihn: "Fassen Sie sich kurz, Leutnant Keppler!"

"General Al-Gailani fleht die deutsche Wehrmacht an, alles zu tun, damit die Türkei an der Seite Deutschlands kämpfen kann. Alle Persönlichkeiten, mit denen ich gesprochen habe, teilen absolut diese Meinung."

"Wie Sie wissen, vertrete ich diese Idee schon lange, aber das spielt wohl keine Rolle", sagte der Admiral. Keppler glaubte, einen resignierten Ton herauszuhören. Schon setzte er an, um enthusiastisch über die Menschen in dieser Region zu berichten und damit gegen die negative Stimmung anzugehen, da unterbrach ihn der Admiral. "Und wie sieht es in Persien aus?"

"Ein Kurier sollte nach Bagdad kommen, um eine persönliche Botschaft des Schahs zu überbringen, aber die Briten überwachen alles so genau, dass die Verbindung des Schahs zur Außenwelt so gut wie abgeschnitten ist", erklärte Keppler.

"Nun ja, die Briten wissen genauso wie wir, dass das Öl diesen Krieg entscheiden wird", erläuterte der Admiral. "Sagen Sie, Keppler, wissen Sie etwas Näheres über General Gailani?"

Keppler fühlte sich geschmeichelt. So gern er die Träume der Menschen im Nahen Osten ausführlich beschrieben hätte, so sehr wusste er, dass er, angesichts der Eile des Admirals knapp zu berichten hatte. "Er ist ein Soldat vom Schlage des Generals Elmasry in Ägypten. Beide sehen in Deutschland den wahren Partner für die islamischen und arabischen Völker im Kampf gegen England und Frankreich. Gailani und Elmasry sind der Meinung, dass es kein Zufall ist, dass Deutschland und diese Völker gemeinsame Feinde haben. Sie wollen ..."

Der Admiral winkte höflich, aber bestimmt mit der Hand ab, Zeichen dafür, dass Keppler aufhören sollte zu reden. "Ich muss zu meinem Termin. Schreiben Sie mir einen ausführlichen Bericht! Wenn ich ihn gelesen habe, sprechen wir noch einmal miteinander."

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Der britische Geheimdienst war alarmiert, dass es der Canaris-Abteilung gelungen war, den Nahen Osten mit einem relativ dichten Netz von Spionen zu belegen. Unter den vielen deutschen Vertriebenen, die nach England kamen, befanden sich einige getarnte Spione. Nun war es nicht gerade leicht für die Offiziere der britischen Abwehr, "Weizen von Krauts" zu trennen, wie der britische Offizier lachend Boeringer klar zu machen versuchte. Boeringer fand die Anekdote nicht besonders witzig und blieb regungslos. Offiziere der britischen Abwehr hofften, durch lang ausgedehnte Vernehmungen geeignete Kandidaten aus den Reihen der Immigranten für die Abwehr zu gewinnen. Zu diesen Kandidaten gesellte sich Herbert Boeringer, der angab, aus Frankfurt am Main zu kommen, wo er als Angehöriger der jüdischen Gemeinde gelebt hatte. Auf ein Inserat in einer Londoner Zeitung meldete er sich, ohne zu wissen, dass der Auftrag von der Abwehr kam.

"Was haben Sie sich gedacht, als Sie auf das Inserat geantwortet haben?" Boeringer überlegte, worauf der Offizier mit dieser Frage hinauswollte.

"Wir suchen Mitarbeiter, deren Muttersprache deutsch ist. Akademische Ausbildung wäre von Vorteil, aber nicht Bedingung."

So lautete das Inserat in etwa. Boeringer konnte sich nicht an den genauen Wortlaut erinnern. Was sollte er sich dabei gedacht haben, wunderte er sich.

"Gar nichts habe ich mir dabei gedacht", beteuerte er, "ich habe das Inserat gelesen und an die besagte Chiffrenummer geschrieben." Der britische Offizier war unruhig und ging auf und ab in dem kleinen Raum, der karg möbliert war. Ein einfacher Schreibtisch, mit Schreibmaschine und Schreibblock, zwei Stühle schmiegten sich an den Tisch, einer blieb unbenutzt, auf dem anderen saß Boeringer. Ein Lamellenschrank stand links vom Fenster. Wenn Boeringer aus dem Fenster schaute, so sah er Bäume und Büsche, die sich vom vorigen Winter noch nicht erholt hatten. Die Büsche und Sträucher waren trotzdem dicht genug, sodass das gegenüberliegende Gebäude weitgehend verdeckt blieb.

Leutnant Tilly hieß der Vernehmungsoffizier. Er war sehr schlank, hatte eine lange spitze Nase und dünnes Haar. Seine Uniform war sandfarben, und wenn Boeringer ihn genau beobachtete, so konnte er feststellen, dass Tilly eine gebeugte Haltung hatte. "Sie waren Leiter einer Sparkasse in Frankfurt", wollte Tilly bestätigt haben. Boeringer bejahte. "Und wovon leben Sie jetzt?"

"Ich mache beinahe alles. Mal arbeite ich als Klempner, mal als Tischler, mal als Hafenarbeiter ..."

"Ich könnte Ihnen einen gutbezahlten Job anbieten. Wir brauchen Dolmetscher, deutsch-englisch. Hätten Sie Lust dazu?"

Kein Problem, dachte Boeringer. Was für eine zynische Frage!

"Aber sagen Sie mal, woher können Sie so gut Englisch?"

"Ich habe hauptsächlich ausländische Kunden betreut. Schweden, Dänen, Engländer, Amerikaner ..."

"Gut, sehr gut", rief Tilly, und nach einer Drehung um die eigene Achse fragte er: "Wissen Sie, welche Aufgabe bei uns auf Sie wartet?"

Boeringer schwieg.

Tilly schaute ihn dieses Mal sehr gründlich an. Vielleicht hatte er sich früher als Schauspieler betätigt, sinnierte Boeringer. Die Augenbrauen waren verkniffen, seine Lippen machten einen Bogen nach unten und zogen die Wangenfalten gerade.

"Vielleicht haben Sie es erahnt: Wir arbeiten hier für den britischen Geheimdienst. Wäre das etwas für Sie?"

Boeringer vermutete es insgeheim, tat aber so, als wäre er überrascht. Das gehört einfach zum Geschäft, redete er sich ein.

"Worin besteht meine Aufgabe?"

Wieder ging Tilly auf und ab. Boeringer meinte, seine Tritte und Schritte auf dem Boden waren lauter geworden.

"Telefonate abhören, Briefe übersetzen, Vernehmungen durchführen und Protokolle überwachen. Trauen Sie sich so etwas zu?"

"Ich habe so was noch nie gemacht."

Tilly tigerte wieder herum. "Danach fragt keiner", kommentierte er ungeduldig.

"Ich muss mir das durch den Kopf gehen lassen."

Das vierte ägyptische Jahr

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