Читать книгу Gegen den Koloss - Achim Balters - Страница 5

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Die Rosen im Beet neben der Terrasse sind von Läusen befallen, noch nicht so stark, aber für Anna Lindner, die sich gerade zu einer historischen Rose niederbeugt, wird es Zeit, sie zu bekämpfen. Die chemische Keule will sie nicht einsetzen, eine Seifenlösung und Brennnesselbrühe könnten reichen. Schon gestern hätte sie die Rosen spritzen sollen, doch dazu war sie nach dem schauderhaften Gespräch mit Efferen nicht mehr fähig. Mit zwei großen Schritten geht sie aus dem Beet, stellt sich an den Rand und betrachtet es. Eigentlich kann sie mit der diesjährigen Blüte zufrieden sein, auch die neu gepflanzten Duftrosen haben sich gut entwickelt. Der Läusebefall ist noch moderat. Den wird sie schon in den Griff bekommen. Gegen Läuse auf den Rosen kann man etwas machen, aber nichts gegen diese Braunkohlenschurken.

Annas Gesicht verfinstert sich. Sie wollte doch wenigstens im Garten nicht mehr daran denken. Und hat Richard ihr nicht gesagt, dass sie unbedingt Abstand zu dem Ganzen braucht und versuchen soll, das Schöne hier noch zu genießen? Aber wie? Wenn der Gedanke andauernd an ihr nagt, hier bald alles zu verlieren? Sie weiß es nicht. Irgendwie muss sie es schaffen, sonst geht sie ein. Schlimmer darf es nicht werden. Die Rosen merken nichts davon. Die sind zu beneiden. Wenn sie eine Rose wäre, dann, ach, was denkt sie da eigentlich? Sie schüttelt den Kopf, zieht die Gartenhandschuhe aus, legt sie vor das Beet und geht zu dem Mosaiktisch, der auf der Terrasse in Hausnähe steht. Sie nimmt die Kanne vom Stövchen, schenkt sich eine Tasse duftenden Kräutertee ein und setzt sich auf einen der vier Rattanstühle. Sie inhaliert tief den Duft des Tees, trinkt einen Schluck, stellt die Tasse ab, lehnt sich zurück und betrachtet mit Wohlgefallen den durchsonnten Park. Ihren Augen bietet sich ein abwechslungsreiches, harmonisches Bild mit alten Bäumen, hohen ineinander gewachsenen Sträuchern, einer großen, von zwei alten Apfelbäumen aufgelockerten Rasenfläche und mehreren, geschickt verteilten Beeten. Ein kleiner Pavillon steht im hinteren rechten Bereich, wenige Meter von einer sich weit ausbreitenden Trauerweide entfernt. Annas Blick verweilt dort ohne Wimpernschlag. Es war der Lieblingsplatz von ihrem Mann. Ein romantisch wirkender Rundbau mit einem Kuppeldach und länglichen Fenstern, die von angedeuteten Säulen gegliedert werden. Wie oft sie mit Carsten dort gesessen hat! Unsere kleine Grotte, nannte er es. Sie redeten dann nur wenig, saßen nebeneinander auf den zierlichen Teakstühlen und spürten ihre innige Verbundenheit. Er genoss es, von dort aus seinen Blick bis zur Villa schweifen zu lassen. Nie sprach er darüber, aber sie spürte, dass er stolz darauf war, das alles hier mitfinanziert zu haben. Richard, an dem er wohl noch mehr hing als sie, sollte sich einen architektonischen Wunschtraum erfüllen können. Und dann hat er nach einigen Schwierigkeiten alle Erwartungen übertroffen. Für Carsten war es auch eine sinnvolle, sichere Investition in ein Objekt von steigendem Wert.

Wenn er noch miterlebt hätte, was hier passiert! Er wäre empört darüber gewesen, hätte mit allen juristischen Mitteln versucht, dagegen vorzugehen. Es wäre für ihn wieder ein Beispiel dafür gewesen, was in diesem sogenannten Rechtsstaat, möglich ist. Wie Unrecht Recht bekommt. Ihm konnte man nichts vormachen. Er scherte sich nicht darum, ob er aneckte, wenn es um die Wahrheit ging. Manchmal vielleicht zu eigensinnig. Richard hat seinen scharfen Verstand geerbt. Und seinen Schönheitssinn. Wann war sie eigentlich mit Carsten das letzte Mal hier? Auf Richards 34. Geburtstag? Nein, zwei Wochen später.

An einem Sonntagnachmittag. Richard und Iris waren schon im Haus. Anna kommt es jetzt so vor, als hätte sie es erst vor Kurzem erlebt. Sie sieht ihn deutlich vor sich. Sein gütiges, längliches Gesicht mit den klugen, großen Augen. Sein Lächeln. Hand in Hand kamen sie aus dem Pavillon, spazierten durch den Park. Es hatte zu regnen begonnen, es störte sie überhaupt nicht. Sie strich ihn sanft über das nasse Gesicht. Dann umfasste er sie und tanzte mit ihr auf dem Rasen einen langsamen Walzer. Ganz spontan. Es war rutschig, aber sie fielen nicht hin. Sie lachten. Lebensfroh wie zwei Jungverliebte. Als sie an dem Staudenbeet vor den Weigelien und Deutzien vorbei tanzten, blieb er stehen. Er beugte sich zu den Blumen hinunter, pflückte einen gelben Sonnenhut und steckt ihn in das oberste, freie Knopfloch ihrer Bluse.

Anna nimmt einen Schluck Tee, hält die Tasse mit aufgestützten Armen in beiden Händen und lächelt versonnen, während sie in den Park blickt. So viele schöne Erinnerungen. Die wird sie bewahren. Die kann ihr niemand nehmen. Das ist ein Schatz. Etwas Schönes, das bleibt.

Ihr Blick fällt auf die Rosen vor ihr. Sie steht abrupt auf. Das hätte sie beinahe vergessen. Sie muss sie doch spritzen, noch heute. Damit sie nicht weiter geschwächt werden.

Bis zum Einbruch der Dämmerung bleibt Anna im Park. Sie spritzt die lausbefallenen Rosen mit einer Seifenlösung, schneidet verblühte Blumen zurück, jätet Unkraut, bearbeitet den Boden. Sie wundert sich, dass es schon so spät geworden ist. Die Gartenarbeit hat ihr gutgetan. Sie spürt eine angenehme Müdigkeit, die sie entspannt. Nur wenige leichtgewichtige Gedanken tändeln durch ihren Kopf, um sich schnell wieder zu verflüchtigen. Sie sollte mehr im Garten arbeiten. Dann wird er noch schöner. Und der Gärtner braucht weniger zu kommen. Arbeitet ganz gut, stört sie aber, wenn er hier ist. Nur ein Fremder, der bemüht freundlich ist, weil er so gut bezahlt wird. Hat ein grobes Gesicht und geht wie ein Holzfäller. Jeder Tag zählt doch. Das darf sie nicht vergessen. Sie wird alles hier weiter hegen und pflegen. So schön wird sie nie wieder wohnen. Vielleicht noch zwei Jahre. So lange sollte sie sich trotz allem daran erfreuen. Das schönste Haus weit und breit. Und der Park, traumhaft.

Anna legt die Handschuhe auf den Terrassenboden und die grüne Schürze über einen Stuhl, setzt sich. Sie hat Durst, doch die Teekanne ist leer. Sie will noch nicht ins Haus gehen, will hier einfach so sitzen bleiben, ganz allein, nichts tun, die Abendstimmung auf sich einwirken lassen. Es ist jetzt so still, als wäre die Natur verstummt. Sie fühlt sich zufrieden wie ein Bauer, der sein Feld bestellt hat. Sie wird bestimmt gut einschlafen können. Ob sie Richard heute noch sehen wird? Nach seinen Andeutungen zu urteilen, eher nicht. Sie hat nicht nachgefragt. Das kennt sie von ihm. Wenn er nicht mehr sagen will, dann wechselt er einfach das Thema. Sein Blick wird dann flattrig, wie früher, wenn er als Kind schwindelte. Sie braucht nicht alles zu wissen. Und was wichtig ist, das sagt er ihr sowieso frühzeitig. Schnelle Rufe eines Eichelhähers hallen aus der linken Tannengruppe. Sie wendet ihren Blick dorthin, sieht ihn wegfliegen. Die dunklen Baumkronen strecken sich gegen den Abendhimmel, scheinen sich in ihm zu verästeln. Kein Lüftchen weht. Der Mond wird immer heller, sieht aus, als wäre eine Hälfte abgebrochen. Aus dem Rosenbeet strömt ein leicht süßlicher Duft zu ihr, den sie tief einatmet. Es könnte die Mainau Rose sein. Und die Piano. Ihr Blick schweift über das Beet, ruht dann bewundernd auf großen, tiefroten Blüten, die schon weit geöffnet sind. Es ist für sie eine der schönsten Rosen. Am Beetrand ist noch Platz genug. Dort wird sie noch drei, drei, ja, wie heißt sie denn? Anna presst die Lippen zusammen, schließt die Augen, fasst sich an die Stirn. Tudor? Nein. Paris? Ach, auch nicht. Das darf doch nicht wahr sein! Angestrengt denkt sie nach, der Name der Rose fällt ihr aber nicht mehr ein. Sie ist über sich erschrocken. Ist das etwa schon eine Ausfallserscheinung? Eingeschränkte Hirnleistung. Vielleicht das Vorstadium vom Vergreisen. So früh doch noch nicht. Es hängt nur mit dem Alkohol zusammen. Gestern hat sie ja auch viel zu viel getrunken. Anders konnte sie es nicht mehr aushalten. Aber heute hat sie noch keinen Tropfen Alkohol getrunken. Das hat sie sich verboten. Zur Strafe, wegen gestern. Und auch heute Abend wird sie ganz eisern bleiben. Sie gehört nicht zu denen, die ohne Alkohol nicht mehr leben können. Und gerade deswegen sterben. Irgendwie komisch. Sie blickt noch einmal zu der Rose. Wie heißt sie bloß? Nein, sie kommt nicht drauf.

Anna steht auf, stellt das Teegeschirr auf ein Tablett. Das Porzellan klappert, als sie mit eiligen Schritten von der Terrasse zur geöffneten Wohnzimmertür geht.

Anna sitzt vor ihrem aufgeklappten Sekretär und überlegt, was sie noch ihrem Tagebuch anvertrauen könnte. Das Licht der kleinen Schirmlampe mit Porzellanfuß, die auf dem Sekretär steht, taucht ihren Schreibplatz in eine Lichtinsel. Alle anderen Lampen hat sie ausgeschaltet, weil sie hofft, dass weniger Licht sie müder macht. Sie fühlt sich noch zu wach. Sie dreht den Füllfederhalter zwischen den Fingern, starrt noch eine Weile auf das aufgeschlagene Tagebuch vor ihr, schließt es dann. Sie schiebt die Hülse über den Füllfederhalter und legt ihn zusammen mit dem Tagebuch in eine kleine Schublade, die geschlossen kaum zu erkennen ist. Sie lehnt sich in dem gepolsterten, bequemen Stuhl zurück, legt die Hände auf die Schreibfläche und blickt zu dem mit Rotwein gefüllten Glas in Griffweite. Es ist erst ihr drittes Glas. Wie diszipliniert sie gewesen ist! Da muss sie sich schon loben. Eigentlich wollte sie gar nichts trinken, aber dann hat sie es sich doch erlaubt. So ist’s gemütlicher. Und jetzt nur noch dieses eine Gläschen, um besser einschlafen zu können. Leider wird sie gleich nur in Morpheus‘ Armen liegen. Es gibt niemanden, der sie umarmen könnte. Aber das kennt sie ja. Sie trinkt einen Schluck, zögert kurz, dann noch einen, stellt das Glas zurück.

Der Tag war für sie einigermaßen gewesen, ausnahmsweise. Nicht zu vergleichen mit gestern und vorgestern. Nicht eine Zeile hat sie in ihr Tagebuch schreiben können, so fertig war sie. Aber heute geht es ihr besser. Sie hatte mehr Kraft, und es gab sogar manches, woran sie sich erfreuen konnte.

Burgund! Burgund! Ich habe mich wieder daran erinnert, wollte von selbst darauf kommen. Ich brauchte nicht mehr im Rosenbuch nachzusehen. Ich wusste, dass es irgendwie mit Frankreich zusammenhängen musste, kam schließlich darauf, nachdem ich kreuz und quer nachgedacht habe. Das war bestimmt ein gutes Gehirntraining. Die Burgund ist zauberhaft. Blüht in Überfülle, tiefrot. Andere Rosen neben ihr haben es schwer. Ihren Namen werde ich nie mehr vergessen.

Morgen werde ich wieder viel im Garten arbeiten. Das entspannt mich und macht mich müde. Dann trinke ich auch weniger. Heute habe ich erst spätabends etwas getrunken. Nur drei Gläser Wein. Weniger als durchschnittlich in Weingegenden getrunken wird. Manchmal kann ich mich aber nicht beherrschen. Dann muss ich mehr trinken. Wie gestern. Das brauche ich, weil mich diese Braunkohlen-Gemeinheit sonst verrückt macht.

Richard und ich haben Geld genug, verglichen mit den meisten anderen hier und auch woanders, sind wir reich. Aber wie geht es uns? Schlecht, sehr schlecht. Andere in einem kleinen Häuschen außerhalb dieses verdammten Braunkohlenreviers leben klar besser. Sie können nämlich bleiben, müssen nicht Haus und Hof aufgeben, werden nicht aus ihrer Heimat vertrieben. Was haben wir eigentlich davon, dass wir hier leben, uns das alles leisten können? Es ist doch nur ein komfortables Leben am Abgrund. Wenn wir weit genug weg von hier wohnen würden, von mir aus auch in einem 08/15-Haus, wäre uns alles erspart geblieben. Im Grunde ist es doch ein armseliges, jämmerliches Leben, das wir hier jetzt führen. Wenn ich das gewusst hätte!

Ich muss es aushalten. Fragt sich nur, wie. Mit buddhistischen Tricks vielleicht. Om, om, om vor mich herleiern, so lange, bis der Kopf gedankenleer ist. Oder Marathon laufen. Jeden Tag dafür trainieren und mich immer mehr steigern. Einfach nur laufen. Wie viele andere, die zum Dauerläufer geworden sind, weil sie vor sich selbst auf der Flucht sind. Oder vor etwas anderem. Laufen, damit man sich nicht weiter den Kopf zerbricht. Man kann nicht einfach weglaufen, man kommt ja doch wieder zurück, früher oder später. Dann gehe ich doch lieber in den Garten und genieße später einen guten Tropfen. Wie heute.

Wo Richard ist, weiß ich nicht. Ich habe ihn nicht gefragt, und er hat nichts gesagt. Ich werde ihn morgen erst wieder sehen. Früher hatte ich Angst, wenn er nicht nach Hause kam. Aber das ist glücklicherweise vorbei. Ganz beiläufig hat er mir gesagt, dass er eine neue Freundin hat. Er ist bestimmt bei ihr. So ein Filou. Die Frauen mögen ihn. Ich kann es verstehen. Er sucht noch immer eine Frau, die besser zu ihm passt als Iris. Auf die ist er reingefallen. Hat doch nur geblufft. So gut, wie es sonst nur Männer können. Aussehen alleine reicht nicht. Worauf bildet die sich eigentlich etwas ein? Ist zickig und unfruchtbar wie eine alte Juffer. Ich werde ihr immer mehr aus dem Weg gehen. Heute habe ich mit ihr in der Küche wieder nur ein paar fade Sätze gewechselt. Sie hatte es eilig, um frühzeitig in ihr Zimmer zu kommen. Sie wollte nicht den Anfang von irgendeinem dämlichen Krimi verpassen. Ein guter Krimi ist für sie beste Unterhaltung. Krimis, das sieht ihr ähnlich. Wie kann man bloß von Krimis schwärmen? Ist doch nichts anderes als Unrat. Krimis sollen einen mit Mord und Totschlag auf die Folter spannen. Man sitzt dann im Sessel, starrt gebannt auf den Fernseher und bekommt Herzklopfen. Oder auch nicht. Ich verstehe es einfach nicht. Zuhause sich von der menschlichen Gemeinheit berieseln zu lassen. Was für eine blödsinnige Unterhaltung! Krimis finde ich widerlich, irgendwie abartig.

Hier im Haus habe ich keine Angst. Es ist noch nie etwas passiert. Wir haben eine gut ausgetüftelte Alarmanlage und mechanischen Einbruchsschutz. Richard ist ein vorsichtiger Mensch. Er wollte so viel Sicherheit wie möglich. Das Haus ist fast so sicher wie Fort Knox, hat er gesagt. Du brauchst keine Angst zu haben. Wenn ich etwas Verdächtiges hören würde, dann würde ich mich nicht rühren.

Es ist ganz still, ganz friedlich. Noch stiller als heute Abend im Garten. An manchen Tagen bedrückt mich so eine Stille. Wenn ich mich allein fühle und an den Tod denke.

Ob ich eine grantige, vertrocknete Alte werde? Eine Alte, die sich als Frau aufgegeben hat? Wenn ich weiter so verzweifelt bin, vielleicht. Aber ich will so nicht werden. Ich lasse mich ja nicht gehen, trotz allem. Ich pflege mich, ernähre mich vernünftig, bewege mich viel im Garten. Und ich bin noch gescheit genug. Der Alkohol schadet mir nicht, auch wenn ich mir manchmal ein Gläschen zu viel genehmige. Seit Jahren halte ich mein Gewicht. Keiner glaubt, dass ich schon 63 bin. Und bei Männern habe ich noch Chancen. Das merke ich an ihren Blicken und wie sie mich umgarnen. Als ich vorigen Samstag bei der Geburtstagsfeier von Astrid war, hat bei mir ihr geschiedener Bruder seinen Charme spielen lassen. Aber ich war wohl zu spröde, obwohl er mir gefallen hat. Mitte Sechzig, noch ansehnlich, gekonnt höflich. Ich hatte mich zu bedrückt gefühlt. Mal sehen, vielleicht ergibt sich ja noch etwas. Ich kann nicht ewig Carsten so nachtrauern, dass andere Männer für mich tabu bleiben. Ich weiß, dass es mit einem anderen nie wieder so schön sein wird wie mit Carsten, aber ich sehne mich trotzdem nach einem Mann. Nach Zärtlichkeit, Umarmungen, Leidenschaft. Ich bin doch kein geschlechtsloses Wesen. Ich habe noch einen Körper, der darauf pocht, Sex zu haben, ohne lange Pausen. Es ist ein Begehren, das herumirrt, ohne den Mann, der es stillen könnte. Manchmal wird es sogar so stark, dass ich immer wieder daran denken muss. Dann wäre ich nicht besonders wählerisch. Ich würde dann wohl jeden einigermaßen gut erhaltenen Kerl nehmen. Aber brennend ist es selten. Ein Glück.

Wenn ich jemanden hätte, mit dem ich schlafen könnte, würde ich in seinen Armen sowieso an Carsten denken. Er wäre immer dabei. Und so weniger tot. Mein Carsten. Das gehört dann eben dazu. Schön wär’s. Chancen habe ich ja noch. Ich will nicht verkümmern, noch weiter absterben. Ich hätte jetzt gern jemanden, der mich umarmt.

In einem Aachener Restaurant essen Richard Lindner und Birgit Ziegler die Nachspeise, einen exotischen, mit Cointreau verfeinerten Obstsalat. Es ist schon spät abends, aber noch immer sind alle Tische besetzt. Das Publikum scheint zu dem gehobenen Ambiente zu passen. Wie in den meisten guten Restaurants, die nichts zu verbergen haben, ist der Raum gut ausgeleuchtet.

«Angenehm hell hier», meint Richard, kurz zu den doppelkugeligen Wandlampen blickend. «Und das spricht auch für das Restaurant. Restaurants mit gedämpftem Licht sollte man meiden. Das Essen ist dann meistens schlecht.»

«Ja», bestätigt Birgit. «Wie in schmuddeligen Dorfkneipen. Auf gemütlich getrimmt, mit wenig Licht, fettigem Essen und haarsträubender Hygiene.»

«Wie die Bürgerstuben in Anfelden. Aber damit kann man dieses Restaurant ja nicht vergleichen. Das Essen ist 1A.»

«Ja. Und die Einrichtung sehr geschmackvoll. Hier braucht man das Licht nicht zu scheuen», sagt sie, stutzt, schmunzelt. «Wie komme ich denn darauf? Hört sich irgendwie salbungsvoll an.»

«Ein bisschen Pathos schadet nicht.»

«Aber nur ein bisschen. Sonst finde ich es störend. Leute, die pathetisch werden, kommen mir wie aufgeplustert vor.»

«Es gibt auch Pathos in der Architektur. Gebäude, die davon geradezu triefen. Imponier-Architektur. Die zeugt von Dummheit und Stolz. Wie der sogenannte Reichstag in Berlin.»

«Ja. Passt gut zu Marschmusik. Gut, dass wir nicht in der Zeit leben, in der so ein dämlicher Pomp gebaut wurde.» Sie legt den Löffel auf den jetzt leeren Teller Obstsalat zurück. «Das war ein feiner Abschluss. Sehr lecker, der Obstsalat. Und natürlich alles andere. Ein erstklassiges Restaurant. Wir sollten öfter hier essen gehen», schlägt sie vor.

«Das finde ich auch», antwortet Richard. «Es ist Martins Lieblingsrestaurant. Der noch junge Koch soll schon zur Spitzenklasse gehören. Und auch ein Workaholic sein.»

«Bist du auch einer?», fragt sie.

«Wieso? Wirke ich etwa so auf dich?», fragt er verwundert.

«Nein, Richard. Ich habe auch keine Ahnung, wie Workaholics wirken. Es war eine nicht so ernst gemeinte Frage», sagt sie, ihre Hand auf seine legend. Sein Blick streift kurz ihre schmale, unberingte Hand.

«Ich arbeite gern. Und nicht gerade wenig in meinem Beruf. Aber ich gehöre nicht zu denen, die bis zum Anschlag und darüber hinaus schuften. Es gibt ja auch noch etwas anderes als die Architektur.»

«Was?»

«Dich zum Beispiel.»

«Dieses Beispiel gefällt mir sehr.»

«Weißt du, Birgit, was ich mache, empfinde ich eigentlich gar nicht als Arbeit. Es ist eher eine Tätigkeit, die mich ausfüllt. Sinnvoll und selbstbestimmt»

«Du bist ja auch dein eigener Chef.»

«Das kommt sicherlich hinzu. Und du Birgit, bist auch dein eigener Chef.»

«Glücklicherweise. Zum Wohl, du Chef», sagt sie, hebt ihr Glas, prostet ihm zu.

«Zum Wohl, du Chefin», erwidert er mit einem Glas Weißwein zurück prostend.

Das ältere Paar am Nebentisch, das die meiste Zeit geschwiegen hat, steht mit langsamen und vorsichtigen Bewegungen auf. Der Mann lächelt unsicher, sieht auf seine Uhr, bleibt stehen, legt eine Hand auf die Stuhllehne, als wollte er so sein Gleichgewicht sichern. Die Frau blickt ihn fragend an, spielt am Verschluss ihrer Handtasche. Beide wirken auf Richard gepflegt und blutleer. Gutes Essen könnte eine Art Ersatz für sie sein. Er blickt wieder zu Birgit, die sich gerade mit einer Serviette über den Mund tupft, sie dann zusammenfaltet.

«Was meinst du, Richard? Wir sollten Martin zu einem Essen in dieses Restaurant einladen. Dann lerne ich ihn kennen und er mich.»

«Prima Idee, Birgit. Er wird sich freuen.»

«Es wird auch langsam Zeit, dass wir uns kennenlernen. Dein bester Freund. Und ich –», sie stockt, sieht ihn prüfend an. «Und was bin ich für dich?»

«Tja, schwierig», antwortet er schmunzelnd. «Auf jeden Fall meine Hautärztin, mit der ich sehr zufrieden bin.»

«Das ist mir zu wenig», protestiert sie.

«Na gut. Vorsichtig formuliert: Von allen Frauen im Kosmos bist du die Frau, die mir am besten gefällt.»

«Akzeptiert. Und das sagst du auch Martin?»

«So ungefähr.»

«Was sind denn seine persönlichen Merkmale?»

«Vielseitiger Journalist, begeisterter Feinschmecker, eingefleischter Junggeselle, sensibler Zyniker.»

«Interessant.» Sie schweigt kurz, fährt sich mit der Hand durchs Haar. «Aber jetzt zurück zu uns. Trinken wir hier noch einen Espresso oder lieber bei mir?»

«Lieber bei dir.»

«Gut, trinken wir ihn also bei mir. Zu dir können wir ja nicht fahren», sagt sie mit einem spöttischen Unterton. Sie blickt ihn abwartend an. Er ist irritiert. Ist das ein Vorwurf? Eine gezielte Provokation?

«Können wir schon», antwortet er langsam. «Aber die Atmosphäre dort wäre nicht so angenehm wie bei dir.» Er streichelt ihre Hand, lächelt unsicher. «Ich werde einiges ändern. So schnell wie möglich. Versprochen, Birgit.»

Richard weiß, dass sie Affären ablehnt, als törichte Geschlechterkirmes und pure Zeitverschwendung ansieht. Mit ihrem Aussehen, eine attraktivere Ärztin hat er bisher nicht kennengelernt, könnte sie Männer sammeln, aber ihre Einstellung macht sie dagegen immun. Sie setzt mehr auf Analyse als auf Gefühl, muss erst überzeugt werden, um sich dann erobern zu lassen. Anfangs vermutete Richard, dass sie ihn nur auf die Folter spannen wollte, ihn aus taktischen Gründen auf Distanz hielt. Sie war jedoch deswegen reserviert, weil sie strenge, für Richard etwas antiquierte Maßstäbe anlegt. Sie will nur ernsthafte Beziehungen, testet erst mit körperlichem Abstand. Sie ist sich zu schade, ihren Körper wie ein schnell verfügbares Objekt anzubieten. Ihre Qualitätskontrolle muss stimmen, erst dann öffnet sie sich. Kompromisse, geistige und körperliche, sind für sie eine andere Form der Lüge. Das lässt sie unterkühlt wirken und gegenüber den Menschen, mit denen sie nichts zu tun haben will, unnahbar. Sie pocht auf Ehrlichkeit. Ihr Freundes- und Bekanntenkreis ist klein. Richard glaubt, dass sie sich vor persönlichen Verletzungen fürchtet, sie unbedingt vermeiden will. Mit ihrer Unabhängigkeit und Vorsicht fühlt sie sich dagegen gewappnet. Als Hautärztin verdient sie genug, um ein finanziell gut gepolstertes Leben zu führen. Den Arztberuf hat sie weniger aus Neigung als aus gesundem Egoismus gewählt. Wissenserwerb und Geldverdienen waren dabei untrennbar miteinander verbunden. Der Beruf, der ihr am meisten bot. Er war für sie auch zukunftssicher. So lange es Menschen gibt, so lange gibt es ihre Krankheiten. Das Studium und die daran anschließende Arbeit im Krankenhaus waren für sie Etappen, um ein immer besseres Verständnis für den menschlichen Körper zu bekommen. Sie wollte möglichst genau Bescheid darüber wissen, wie er funktioniert, wo die Gesundheit endet und die Krankheit beginnt. Sie wollte sich von Ärzten nicht entmündigen lassen, ihnen ihren Körper nicht länger naiv anvertrauen. Sie wollte auf Augenhöhe mitreden und mitentscheiden können. Sie meint, dass die meisten Menschen nicht mit ihrem Körper leben, sondern gegen ihn. Ihr Körper ist für sie eine Art Reservat, das unter ihrem besonderen Schutz steht. Dass sie ihn so wichtig nimmt, seine Regeln achtet, ist für sie selbstverständlich. Ihr ganzes Leben ist sie ja mit ihm zusammen. Mit ihrem Wissen hofft sie, Ärztepfusch besser vermeiden zu können. Dem medizinischen Standard misstraut sie, sie kennt genügend abschreckende Beispiele für von Ärzten begangene Körperverletzungen. Diagnosen sind oft nichts anderes als medizinisch geschminkte Irrtümer. Wenn sie es könnte, würde sie sich am liebsten selbst operieren. Sie hat sich, wie sie es nennt, eine gute medizinische Allgemeinbildung zugelegt. Davon profitiert sie, sowohl privat als auch als Ärztin. Nach einigen Jahren als Oberärztin in einem Mönchengladbacher Krankenhaus, wo sie von den alltäglichen menschlichen Dramen mehr und mehr betrübt wurde, hat sie sich als Hautärztin in Neuss niedergelassen. Hautärztin zu werden, war für sie eine der wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens. Ihr Beruf hat für sie einen hohen Stellenwert. Sie genießt einen guten Ruf, weswegen Richard vor etwa einem halben Jahr ihr Patient geworden ist.

«Und? Schmeckt er dir?», fragt Birgit, nachdem sie vom Espresso gekostet hat.

«Bei dir besonders gut», antwortet Richard, der neben ihr auf dem Sofa sitzt. «Nirgendwo sonst trinke ich lieber einen Espresso.

«Du Schmeichler. Aber das gehört ja dazu. Hätte er nicht ein bisschen stärker sein können?», fragt sie mit skeptischer Miene.

«Ich finde ihn stark genug», antwortet er und nimmt bestätigend einen Schluck.

Sie sieht auf ihre Uhr.

«Fast zwölf. Aber ich bin noch ganz wach.»

«Ich auch.»

«Das ist gut so.» Sie umarmt ihn, zieht ihn an sich, küsst ihn herzhaft auf den Mund, steht dann schnell vom Sofa auf. «Lass uns noch ein bisschen Musik hören.»

Sie geht zu der CD-Sammlung im vor allem mit Büchern bestückten Regal, dreht sich strahlend zu ihm.

«Klassik oder Jazz?», fragt sie.

«Lieber Klassik», antwortet er und verfolgt, wie sie eine CD gezielt auswählt und auflegt. Ihm gefällt, wie sie dabei ihren schlanken, eher sportlich geformten Körper bewegt, der keine ins Auge springenden Reize anbietet. Es wirkt natürlich, nicht geziert, wie er es von Iris kennt. Auch wenn ihr Körper jetzt unter dem langen, weit geschnittenen Sommerkleid nur zu erahnen ist, übt sie auf ihn eine starke erotische Anziehungskraft aus. Gleich werden sie in ihrem Bett liegen. Er kann es kaum erwarten. Bis dahin ist alles andere nur eine Art Vorspiel. Er genießt die sinnlich aufgeladene Atmosphäre, merkt, wie er nur noch von Birgit bestimmt wird.

Leise Kammermusik erklingt, den Komponisten kennt er nicht. Mit beschwingten Schritten und verträumt wirkendem Gesicht kommt sie zum Sofa zurück. Sie verharrt kurz, schaltet die Deckenlampe aus. Sie setzt sich neben ihn, streichelt sein Gesicht, schmiegt sich an ihn. Die birnenförmige Tischlampe aus Glas taucht den Raum in ein mildes Licht.

Richard fährt mit der Hand durch ihr Haar. Sie legt den Kopf auf seinen Schoß, schließt die Augen, überkreuzt die Beine auf der Sofalehne. Die jetzt in schnellem Tempo gespielte Kammermusik klingt für ihn aufgeregt und erwartungsvoll zugleich. Birgit hat die Lautstärke so weit herunter geregelt, dass manche Rhythmen verhuschen. Sie rekelt sich, seufzt voller Behagen.

«Was geht es mir gut», sagt sie.

«Und mir erst mal», sagt er.

«Das haben wir prima hinbekommen.»

«Was denn, Birgit?», fragt er, obwohl er sich denken kann, was sie meint. Er möchte es aber gern von ihr hören.

«Na unsere», sie überlegt kurz, versonnen lächelnd, «dass wir ein Paar geworden sind.»

«Ja. Fabelhaft.»

«Ziemlich schnell hat sich alles entwickelt. Für meine Verhältnisse jedenfalls.»

«Erst etwas gebremst, dann mit starker Beschleunigung.»

«Immer näher. Dann sind wir bei uns angekommen.»

«Ein schöner Ort.»

«Mein Lieblingsort.»

«Zuerst saß ich in deinem Wartezimmer, dann kam ich in dein Sprechzimmer und jetzt bin ich in deinem Wohnzimmer.»

«Und gleich liegst du zusammen mit mir in meinem Bett.»

«Das ist einfach nicht mehr zu steigern.»

Sie fährt mit ihrer Hand über seinen Hals, seine Schultern, knöpft sein Hemd weiter auf, streichelt seinen Oberkörper.

«Ich mag deinen Körper. Sehr. Er ist noch so fest, so schlank. Mit plumpen oder gar dicken Körpern habe ich ein Problem. Ich könnte nicht mit einem übergewichtigen Mann zusammen sein. Ihn nackt vor mir zu sehen, würde mich befremden. Ich könnte ihn nicht umarmen.»

«Aber als Hautärztin behandelst du sicherlich nicht nur Menschen mit schlanken Körpern. Wie gehst du damit um, wenn du eine Menge Fett vor dir hast?»

«Das sehe ich dann nicht privat, sondern rein beruflich. Ich abstrahiere dann.»

«Und heute? Musstest du abstrahieren?», fragt er.

«Ging so», antwortet sie. «Nicht der Rede wert. Heute habe ich auch einen Kollegen behandelt. Einen Internisten. Hatte eine allergische Reaktion.»

«Auch Ärzte werden krank.»

«Und machen auch krank. Leider. Hüte dich vor den Ärzten.»

«Mache ich. Und vor Ärztinnen.»

«Es gibt Ausnahmen. Bei mir bist du in guten Händen.»

«Zweifellos. Als Patient und auch privat.»

Körper auf Körper genießt Richard in Birgits Schlafzimmer ihr erotisches Spiel, das noch immer den Reiz des Neuen hat, aber auch schon vertrauten Abläufen der Lust folgt. Eine Sinnlichkeit, die sich leidenschaftlich und im Gleichklang äußert. Theatralisches Beiwerk haben sie nicht nötig. Sie reden wenig, flüstern.

Birgits Freude am Sex überraschte Richard, als er zum ersten Mal mit ihr schlief. Vorher, es dauerte fast drei Wochen, schien sie auszuweichen, aufflammende Lust zwischen ihnen schnell zu drosseln oder gar zu neutralisieren. Er stufte es als Zurückhaltung und Vorsicht einer Medizinerin ein, die zum Körper ein anderes Verhältnis hat als er. Analytischer, mit anatomischem Blick, mehr auf die Funktion bezogen, nüchterner und damit weniger sinnlich, ziemlich antiseptisch, so vermutete er, würde sie sich beim Sex verhalten. Weil sie weitaus besser als über den Körper Bescheid wusste, kam er sich im Vergleich dazu naiv vor. Seine Spekulationen verunsicherten ihn zunächst, lösten sich auf, als er ihre anfängliche Reserviertheit verstand.

Ihr Körper steht für sie, so nennt sie es, unter Naturschutz. Ein einmaliges, kostbares Gut, das sie lebenslang bestmöglich pflegen und erhalten will. Mit einer strengen Zugangskontrolle wacht sie darüber. Das gilt für Ärzte ebenso wie für Männer, die sie kennenlernt. Liebeleien geht sie aus dem Weg. Ihr Körper ist für sie ein Privatgelände, in dem sich diejenigen aufhalten dürfen, die ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllen und denen sie vertrauen kann. Frauen, die eine Art offenes Haus sind, in dem Männer ungeprüft verkehren, versteht sie nicht. Sie testet gründlich, wählt rigoros aus. Sie will nicht, dass ihr Körper für einen Mann ein Gebrauchsgegenstand ist. Dann würde sie sich entwertet fühlen. Sex ist für sie ein Geschenk, das sich ein Paar mit seinen Körpern macht. Er sollte ein Fest sein und dafür verlangt sie Exklusivität. Männer aus der 08/15-Liga stoßen sie ab. Von diesen Typen erwartet sie nur primitives Gestochere, Kerle, die beim Vögeln den Stier spielen und barbarisch brüllen, aber nichts anderes als lächerliche Dackel sind. Das Tierische beim Sex muss für sie menschlich verfeinert werden. Erst wenn sie von der Qualität des Mannes überzeugt ist und schon ein gewisses Vertrauen gewonnen hat, gibt sie sich hin. Wenn sie über Sex redet, neigt sie dazu, ihn mit etwas Pathos zu würzen. Richard, der sich bislang nach einem im Vergleich zu Birgit lässigeren sexuellen Auswahlverfahren gerichtet hat, schmunzelt nicht mehr darüber, sondern ist nun von ihrer Einstellung beeindruckt. Für ihn hat der Sex mit Birgit dadurch einen besonderen Reiz bekommen, in dem jetzt immer etwas Festliches mitschwingt.

Und auch heute Nacht erlebt er mit ihr zusammen wieder einen erotischen Festakt. Eine Intensität, die ihn überwältigt und alles andere vergessen lässt. Ihre Hingabe hat etwas Pures, Selbstverständliches. Sie sieht sich dabei nicht zu, wie er es schon bei anderen Frauen, besonders bei Iris, erlebt hat, sondern überlässt sich ganz ihrer Begierde, bewegt sich, als würde sie einem inneren harmonischen Rhythmus folgen. Sie redet kaum, flüstert nur einige Male seinen Namen oder kurze Sätze. Mal dirigiert sie, dann wieder er. Erotische Variationen spielen sie neugierig durch. Für Richard ist es ein scheinbar zeit- und grenzenloses Treiben in gemeinsamer Lust.

Am nächsten Morgen sieht ihn Birgit beim Frühstück prüfend an. Sie hat beide Arme auf den Tisch gestützt, den Kopf etwas zur Seite geneigt und die Stirn hochgezogen. Aus ihrem seidenen Bademantel wölben sich ihre mittelgroßen Brüste hervor. Ein schöner Anblick für Richard, an dem er sich jetzt aber nicht erfreuen kann, denn ihr Blick und ihr Schweigen verunsichern ihn. Er versucht, in ihrem Gesicht zu lesen, aber es bleibt ihm verschlossen. Es kommt ihm so vor, als würde sie bei ihm etwas diagnostizieren. Aber was? Er weicht ihrem Blick aus, nimmt ein Brötchen aus dem Brotkorb, schneidet es auf.

«Ich sehe dir an, dass dich etwas beschäftigt», sagt er.

«Es ist wegen uns. Es gibt da ein Problem», sagt sie ruhig.

«Was für ein Problem?», fragt er leise. Er ist beunruhigt, sein Herzschlag beschleunigt sich. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll, streicht Marmelade auf sein Brötchen.

Sie antwortet nicht sofort, schenkt sich eine Tasse Tee ein, trinkt einen Schluck.

«Gestern, Richard, das war ein so schöner Abend und eine noch schönere Nacht. Ich will mehr davon», sagt sie.

«Ach! Das kannst du haben. Mit Vergnügen. Nichts lieber als das», sagt Richard erleichtert.

«Wir werden also öfter zusammen sein?», fragt sie mit forschendem Blick.

«Natürlich. Was für eine Frage! Ich finde ja auch, dass wir uns zu wenig sehen. Höchste Zeit, das zu ändern», antwortet er.

«Wirklich?»

«Ja. Ich kann gar nicht genug von dir bekommen.»

«Wie meinst du das? Rein sexuell?», fragt sie und lacht leise.

«Rein sexuell», antwortet er, sich auf ihr Spielchen einlassend.

«Dachte es mir.»

«Und individuell», sagt er, ihre Hand streichelnd. Ihr Blick ist sanfter geworden.

«Gut, dass dir das noch eingefallen ist. Da hast du aber Glück gehabt. Du hast die Probe bestanden. Möchtest du noch Kaffee?»

«Ja, gern. Eine Tasse trinke ich noch.»

«Schön, dass du bis morgen bei mir bleibst», sagt sie den Kaffee einschenkend. «Dann fühle ich mich nicht so wie deine heimliche Geliebte.»

Überrascht sieht er sie an. Was geht heute Morgen bloß in ihr vor? So kennt er sie noch nicht. Es ist ein Wechselbad der Gefühle. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll.

«Du sollst dich nicht so fühlen», sagt er.

«Wie denn?», fragt sie. Er sucht nach einer Antwort, sein Denken scheint blockiert zu sein.

«Provoziere ich dich heute Morgen?», fragt sie.

«Ziemlich», antwortet er.

«Das ist auch beabsichtigt.»

«Warum eigentlich?»

«Ich brauche Klarheit. Nennen wir es einmal so.»

«Die kannst du haben. Sollte kein Problem sein.»

«Na schön. Bin ich etwa nicht deine Geliebte?», fragt sie.

«Nein. Das bist du auf keinen Fall», antwortet er.

«Was denn?»

«Die Frau, mit der ich zusammen bin. Meine Frau, meine Noch-Frau hat –», er unterbricht sich, sucht nach Worten, die ihr gefallen könnten.

«Ich höre.»

«Birgit, du bist für mich die Frau Nummer eins.»

«Nett. Und deine Frau die Nummer zwei.» Sie überlegt kurz. «Mit der du dann hin und wieder eine Nummer schiebst.»

«So kann man’s auch ausdrücken», meint Richard, der sich in die Enge getrieben fühlt. «Schon. Aber im Grunde ist ja meine Frau meine Geliebte«, sagt er und ärgert sich sofort, dass ihm das herausgerutscht ist. Birgit lacht sarkastisch.

«Charmant. Was für ein feiner Unterschied! Eine Frage der Perspektive. Du hältst dir also deine eigene Ehefrau als Geliebte.»

«Birgit, ich kann dich ja verstehen.»

«So?»

«Es ist nicht richtig, und ich werde es ändern.»

«Schön. Aber bitte zügig.»

«Kein Problem.»

«Wenn ich für dich die einzige Frau bin, mit der du schläfst, dann fühle ich mich auch rein medizinisch gesehen wohler. Man kann ja nie wissen. Eine gute Infektionsprophylaxe. Safety first. Das verstehst du doch, oder?»

«Natürlich.»

«Ich eigne mich nicht zur Geliebten, beziehungsweise Nummer eins. Dazu habe ich kein Talent. Ich will keine fremden Weiber neben mir haben. Da gibt es noch etwas, Richard», sagt sie mit mildem Lächeln.

«Oh je! Wenn das so weitergeht, fühle ich mich noch wie im Kreuzverhör», scherzt er.

«So schlimm ist es schon?», fragt sie, steht vom Stuhl auf, legt einen Arm um ihn, küsst ihn mehrmals auf den Mund.

«Ja. Zur Geliebten hast zu kein Talent, dafür aber zur Staatsanwältin.»

«Ach, Richard. Liebster, ich verhöre dich doch nicht», sagt sie und setzt sich wieder. «Wie käme ich denn dazu? Ich sage dir nur, was ich auf dem Herzen habe. Also, am Dienstagabend bin ich wieder bei dir vorbeigefahren. Ganz langsam. Es war mir ein Bedürfnis.»

«Warum hast du mir nichts gesagt. Du hättest anrufen können oder einfach –»

«Klingeln sollen?», unterbricht sie ihn.

«Ja. Anrufen oder einfach klingeln. Ich war ja zu Hause. Ich hätte damit kein Problem gehabt. Aber du. Du möchtest ja nicht zu mir kommen, so lange mein Noch-Eheweib dort herumspukt.»

«Stimmt. Schade, dass deine Thusnelda noch nicht ausgezogen ist. Dann wäre alles noch schöner.»

«Finde ich auch.»

«Wir sind auf der Überholspur. Aber deine Frau bremst uns, weil sie mit dir noch unter einem Dach wohnt. In deiner wunderschönen Villa.»

«Das werde ich so schnell wie möglich ändern. Ich gehe nächste Woche zum Anwalt, werde alles beschleunigen, die Trennung schon mal einläuten. Es wird Zeit. Iris will sich ja auch scheiden lassen.»

«Dann dürfte es keine großen Probleme geben.»

«Eigentlich nicht.»

«Als ich gestern vom Auto aus den Park und die Villa betrachtete, kam ich mir wie eine Voyeurin vor. Und wie deine Geliebte, die aus deinem Privatleben ausgegrenzt ist. Es war schon ein eigenartiges Gefühl. Irgendwie befremdend.»

«Nur, weil ich nicht bei dir war. Dann wäre alles anders gewesen.»

«Bestimmt.» Sie streckt sich mit einem behaglichen Aufseufzen, lässt einige Sekunden verstreichen. «Schon was ich dort in der kurzen Zeit gesehen habe, war für mich faszinierend. Eine einzige Augenweide.»

«Demnächst wirst du dir alles ganz genau ansehen können. Außen und innen», sagt Richard, ihre Hand streichelnd.

«Ich kann’s kaum erwarten. Zusammen mit dir in deinem Prachtbau und deinem Park.»

«Wird Zeit. Ich freue mich auch schon darauf.»

«Ich lerne dich so besser kennen. Ich weiß dann, wie du dort lebst. Und was du aufgeben musst.» Sie trinkt einen Schluck Orangensaft, nickt nachdenklich. «Dass du auf diese Braunkohle-Connection wütend bist, kann ich gut verstehen.»

«Das werde ich auch bleiben. Es ist ein Angriff auf mein Privatleben, auf mein Eigentum, gegen den ich mich nicht mehr wehren kann. Ich fühle mich so machtlos. Als würde ich in einer Diktatur leben.»

«Riecht auch nach Diktatur. Du gehörst zu den vielen, die gehorchen müssen. Alles wird scheinbar legal entschieden. Was dir gehört, musst du gezwungenermaßen abgeben.»

«An Raubritter des Kapitalismus», sagt Richard grimmig.

«Das könnte von einem Kommunisten sein», sagt Birgit lächelnd.

«Wer weiß, vielleicht werde ich noch einer wegen dieser Braunkohlen-Clique, die schon lange gegen Menschenrechte verstößt.»

«Du und Kommunist? Das wirst du bestimmt nicht. Dafür bist du zu individuell gestrickt.» Sie sieht nachdenklich aus dem Wohnzimmerfenster in ihren klein, gepflegten Garten. «Es ist dein Eigentum und man vergreift sich daran.»

«Skrupellos», sagt Richard. «Etwas Vergleichbares werde ich nicht finden. Und selbst wenn, dann könnte ich es nicht mehr finanzieren. Damals passte wirklich alles. Der Super-Preis und die Großzügigkeit meines Vaters waren entscheidend.»

«Und du als Architekt hast ja einiges dazu beigetragen, dass aus dem alten Gemäuer ein Prachtbau geworden ist.»

«Dazu hätte ich heute keine Zeit mehr. Und auch keine Lust.»

«Ich weiß nicht, wie ich mich an deiner Stelle verhalten würde. Ich würde wohl auf die Barrikaden gehen. Oder sogar ausrasten.»

«Ausrasten? Du?», fragt Richard verwundert.

«Könnte doch sein», antwortet sie, die Augenbrauen zusammenziehend. «Nicht nur dann, wenn ich so eine Villa wie du hätte, sondern auch schon wegen meines bescheidenen Häuschens hier», sagt sie und unterstreicht das mit einer weit ausholenden Geste. «Es gehört mir, nur mir. Ich bin stolz darauf. Ich habe mir das alles selbst erarbeitet und musste recht sparsam leben, um es finanzieren zu können. Daraus lasse ich mich von niemandem vertreiben. Wenn es mir jemand wegnehmen wollte, würde ich zur Furie», sagt sie und hebt ihre geballte Faust, die zierlich aussieht.

«So etwas wie mir kann dir hier in Neuss ja nicht passieren. Birgit, sag doch nicht Häuschen. Mir gefällt dein Haus. Es ist auf dich maßgeschneidert. Gute Bausubstanz, gekonnte Raumaufteilung. Du kannst wirklich stolz darauf sein. Ich fühle mich hier wohl. Sehr wohl.»

«Das höre ich gern, Richard.»

«Hoffentlich wird’s dir auch bei mir gefallen.»

«Wird es. Da bin ich mir ganz sicher.»

«Dann fühle ich mich dort wieder wohler», meint Richard.

«Ich finde, du bleibst in dieser für dich verflixt schwierigen Zeit erstaunlich gelassen. Wie jemand, der einfach lässt, was nicht mehr zu ändern ist. Eine gewisse Resignation ist mit dabei. Oder?», fragt sie.

«Klar», antwortet er. «Gegen diesen Braunkohle-Irrsinn hat man ja sowieso keine Chance. Warum sollte ich mich noch wehren? Diese gemeine Bande hat gewonnen, ich und viele andere haben verloren. Damit muss ich mich abfinden. So schwer es mir fällt.»

Der über Schlaglöcher rumpelnde Bus nähert sich Anfelden. Ellen Schmitz, die missmutig aus dem Fenster blickt, wird auf ihrem Sitz durchgerüttelt, stößt dabei mit ihrer Schulter gegen die dösende Frau neben ihr. Die Berührung ist ihr unangenehm, sie rückt näher an das Fenster heran, schenkt der Frau keinen Blick, eine ungepflegte, klapperdürre Alte mit Sauerkrauthaaren.

Wie sie das alles anwidert! Der voll besetzte, müffelnde Bus, der alte Knochen dicht neben ihr, die stinklangweilige Gegend. Nicht schade drum, dass das alles verschwinden wird. So eine grässliche Pampa. Alles sieht kleinkariert aus und scheißordentlich. Anfelden ist doch nur ein Spießernest. Ein Glück, dass sie bald von hier wegzieht. Ist doch Horror. Nix wie weg.

Der Bus hält am Marktplatz. Ellen windet sich an Körpern vorbei, von denen sie sich bedrängt fühlt, steigt aufatmend aus. In der Linken hält sie eine Plastiktüte. In Erkelenz hat sie mit ihrer Freundin Beate erst für die sauschwere Mathearbeit morgen gelernt, sich dann ein paar stark herabgesetzte Sandalen gekauft. Ein Schnäppchen, mit dem sie zufrieden sein kann, wenigstens damit. Wie sie hier alles anödet! Sie geht an dem taubenbedreckten Denkmal vor dem Rathaus vorbei, aus dem zwei laut schwatzende und herumfuchtelnde Frauen, zwei richtige Bauerntrampel, kommen. Eine kleine Gruppe älterer Menschen schlendert gemächlich über den Bürgersteig, bewegt sich auf das efeubewachsene Dorfgemeinschaftshaus zu, das in der Nähe der schmucklosen evangelischen Kirche steht. Der Friedhof hat Ausgang. Gruftis können sich in diesem Nest wohlfühlen. Sie nicht. Die Schaufenster der Geschäfte mustert sie abfällig. Nichts als Kram. Was kann man denn hier schon kaufen! Die Nachmittagssonne strahlt sie an. Sie knöpft ihr Polohemd weiter auf, zupft es am Kragen auseinander, damit mehr Sonne auf ihre Haut fällt. Sie möchte gern brauner sein. So braun wie Beate. Aber die hat ja auch eine Italienerin als Mutter. Ellen blickt starr geradeaus, als ihr zwei Dorfschwengel entgegenkommen, die sie frech mit Blicken abtasten. Glotzen grinsend auf ihre Brüste. Das kennt sie. Daran muss sie sich gewöhnen. Sie beobachtet sie aus den Augenwinkeln. Wenn man sie so anstarrt, fühlt sie sich zwar entblößt, aber irgendwie ist es auch prickelnd. Ellen ist stolz auf ihre Brüste. Sie fallen natürlich auf. Wirklich schöne Dinger, die Männer anturnen. Ruckartig wendet sie ihren Kopf zur entgegengesetzten Seite, als die beiden Kerle viel zu nah an ihr vorbeigehen. Sie spiegelt sich im Schaufenster des Haushaltswarengeschäfts. Wie groß sie ist! Und was für eine super Figur sie hat! Die beiden Kerle drehen sich jetzt bestimmt nach ihr um. Das verunsichert ihren Gang. Sie macht kleinere Schritte, um sie besser kontrollieren zu können.

Mit finsterer Miene blickt sie nach oben. Die Sonne ist hinter dicken Wolken verschwunden. Vor einer Ampel bleibt sie stehen, denkt an Marc. Heute trifft sie ihn nicht, erst morgen wieder. Sie vermisst ihn nicht. Der ist doch nur noch ein Auslaufmodell. Sie ist schon zu lange mit ihm zusammen. Aber leider hat sie noch nichts Besseres gefunden. Er sieht ja ganz gut aus und hat schöne Hände, von denen sie sich gern streicheln lässt. Aber er ist ihr zu bubihaft, hat auch kein Feeling beim Sex, stochert zu wüst in ihr herum, macht ein ziemlich blödes Gesicht dabei, ist meistens zu früh fertig. Er ist gerade erst 18 geworden, knapp zwei Jahre älter als sie. Ein älterer Freund wäre besser, einen so um die zwanzig braucht sie. Einen, der eben reifer ist und der’s schon richtig kann.

Die Ampel springt auf Grün. Ellen überquert die Straße. Zwei Autoschlangen bilden sich links und rechts von ihr, lärmen nervend, verstopfen den ganzen Ort. Überall Blech. Die Bürgersteige sind voller Dörfler, denen sie ihre Spießigkeit ansieht. Was für ein langweiliges Kaff! Die sollen hier doch nicht so ein Theater machen, nur weil Anfelden vom Tagebau geschluckt wird. Ist doch sowieso nur ein Friedhof. Gut, dass die Bagger kommen. Ihre Eltern wären sonst hier weiter kleben geblieben. Und sie mit ihnen. Sie freut sich schon darauf, dass sie nächstes Jahr nach Aachen ziehen. Da geht die Post ab, da muss sie hin, da ist immer was los. Vielleicht ist sie dann mit einem Studenten zusammen. Einer, der schon erwachsener ist, erfahrener als diese Schnösel, die sie bislang gehabt hat. In Aachen, eine tolle Stadt, wird sie auch studieren. Sie weiß überhaupt noch nicht, was, bestimmt nicht Mathematik.

Ein lächerlicher Dackel kläfft sie hinter einem Zaun an, als sie in die Straße kommt, wo sie wohnt. Jedes Mal, wenn sie hier entlanggeht, zieht sich alles in ihr zusammen. Eine enge Straße, wo Haus an Haus geklatscht ist, armselige Hütten, alle sehen gleich aus, richtige Gärten gibt es nicht, nur ein bisschen Rasen und ein paar mickrige Bäumchen. Hier wohnen nur Provinzler, die vor sich hindumpfen und sie ankotzen. Wenn sie könnte, würde sie sofort wegziehen.

Sie ist froh, dass sie niemandem begegnet, den sie grüßen muss. Jeder kennt jeden. Das findet sie grässlich. Sie fühlt sich beobachtet. Hinter Gardinen versteckt, verfolgt man sie jetzt mit Blicken. Da ist sie sich ganz sicher. Sie sieht, wie sich die scheußliche Rüschengardine hinter dem Wohnzimmerfenster der frommen Dahlke bewegt. Soll sie doch glotzen. Wer weiß, was diese Dörfler über sie tratschen. Aber das sollte ihr am Arsch vorbeigehen. Sie ist sowieso bald weg. Zum Teufel mit diesem Scheiß Kaff! Macht nichts, dass es ausradiert wird. Sie kann froh darüber sein, wird nichts vermissen. Erst recht nicht diese abgeschmackte Erdgeschosswohnung, in der sie noch immer mit ihren Eltern wohnt, und wo sie sich wie in einem Käfig fühlt. Alles andere als ein Zuhause, wo man sich wohlfühlen kann. Am liebsten würde sie in einer Villa wohnen. In einer wie die von den Lindners. Die sind stinkreich, haben Kohle ohne Ende. Dagegen sind sie doch bettelarm. Den Lindner hat sie vor ein paar Tagen in der Post gesehen. Ein Star-Architekt, der noch verdammt gut aussieht, vielleicht Mitte dreißig ist. Der kann’s bestimmt. Na ja, sie würde nicht Nein sagen, es einfach mal mit ihm ausprobieren.

Zwei Jungen kommen ihr entgegengetollt, stören sie bei ihren Tagträumen. Sie verzieht ihr Gesicht, weicht ihnen mit einem großen Schritt zur Seite im letzten Moment aus.

«He, ihr Rotzlöffel! Könnt ihr nicht aufpassen? Macht bloß, dass ihr wegkommt! Sonst kriegt ihr noch ein paar gelangt», schimpft sie hinter ihnen her. Die beiden hätten sie beinahe voll erwischt. Das hätte ihr auch noch gefehlt. Schlecht gelaunt geht sie weiter. Wie sie die Gegend hier anwidert! Gleich ist sie zu Hause. Sie hat kein gutes Gefühl. Was kann sie schon erwarten? Wieder nur Vorwürfe. Und blödsinnige Ratschläge. Sie hat den Schlüssel vergessen, schellt ärgerlich zweimal. Sie wirft einen abschätzigen Blick auf eines der drei Plastik-Namensschilder. Schmitz. Warum muss sie ausgerechnet Schmitz heißen? Ellen Schmitz. Wie das klingt! Ihr Familienname ist ihr peinlich. Sie würde ihn am liebsten sofort ändern. Bouvier wäre prima. So heißt ihre Freundin Brigitte. Bouvier hört sich echt gut an. Der Öffner summt, sie drückt die Tür auf, betritt den nach scharfen Putzmitteln riechenden Hausflur. Aber Ellen findet sie eigentlich ganz okay.

Wer die Macht hat, der hat auch das Recht. Dieser Satz kommt Richard immer wieder in den Sinn, seitdem er selbst damit konfrontiert wird, dass der Braunkohlentagebau hemmungslos gegen Grundrechte verstoßen kann, ohne deswegen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Im Gegenteil, die Rechtsprechung segnet ab, was Wirtschaft und Politik hier wegen des sogenannten Bodenschatzes Braunkohle anrichten und nimmt den Menschen ihren Rechtsschutz. Für Richard und viele andere ist es ein Skandal, den es sonst nur in menschenverachtenden Regimes gibt. Ohnmächtig muss er die von deutschen Gerichten vertretene Ansicht akzeptieren, dass die Rechte der vom Tagebau Betroffenen und die Umweltproblematik nachrangig seien. Nachrangig, ein für Richard widerlich verharmlosendes Wort. In den Urteilen wird die Rechtmäßigkeit der Tagbaupläne mit dem Verweis auf ihre angeblich energiepolitische Notwendigkeit begründet. Alle Klagen gegen Braunkohlenpläne wurden abgeschmettert. Dabei stützten sich die Urteile auf das vom Preußischen Berggesetz abgeleitete Bundesberggesetz. Richter brachen auf diese Weise Menschenrechte, um dem Tagebau grünes Licht zu geben und die fatalen Folgen für die Betroffenen zu legalisieren. In welchen Niederungen des Ungeistes das Bundesberggesetz wurzelt, belegen viele der dort paragrafierten Regelungen, die sich auf abgefeimte Gesetzesnovellen stützen, die 1935 während der nationalsozialistischen Diktatur im Energiewirtschaftsgesetz das Eigentumsrecht aushebelten.

Für Richard ist es ein unglaublicher Skandal, dass heute noch das Bergrecht juristisch höher eingestuft wird, als das in der Verfassung verankerte Grundrecht, seinen Wohnsitz frei von staatlichen Zugriffen behalten zu dürfen. Diese alles andere als verfassungskonforme Unrechtsprechung fußt auf der haltlosen Behauptung, die Braunkohlenförderung diene dem Allgemeinwohl. In Wirklichkeit aber, und das ist für Richard eine juristische Perversion ohnegleichen, schädigt der Tagebau wegen seiner verheerenden sozialen, ökologischen und klimatischen Folgen massiv das Allgemeinwohl. An dieser Rechtsprechung ändert sich auch weiterhin nichts, obwohl wissenschaftliche Gutachten eindeutig belegt haben, dass es keine energiepolitische Notwendigkeit für den Braunkohlentagebau gibt, er weitaus mehr schadet als nutzt, unwirtschaftlich und technisch veraltet ist und von anderen Energieträgern ersetzt werden kann.

Die Gegner des Braunkohlentagebaus sind empört. Sie wissen Bescheid, können aber nur protestieren, ohne Aussicht auf Erfolg. Die rein betriebswirtschaftlichen Interessen der Tagebaubetreiber haben einen höheren Stellenwert als die von der Verfassung garantierten Grundrechte und der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen. Das Bergrecht darf weiterhin Grundrechte brechen, obwohl es keine schwerwiegendere Beeinträchtigung des Allgemeinwohls als den Tagebau gibt. Katastrophal sind die Folgen für Mensch, Natur und Umwelt.

Es gibt unabhängige Wissenschaftler, die derart besorgt und empört sind, dass sie angesichts dramatischer Umweltzerstörungen den Braunkohlentagebau nicht mehr kritisieren, sondern aufs Schärfste verurteilen. Die weder von Gesetzen noch Gutachten zu stoppende Nutzung der Braunkohle ist für sie wegen des alarmierenden Klimawandels ein ungeheuerliches, nicht mehr wiedergutzumachendes Verbrechen an der Menschheit. Braunkohle ist ein Klimakiller.

«Starke Worte. Erfreulich starke Worte. Die Wahrheit, nackt und unverfälscht», sagt Martin Radke, der neben Richard in lockerem Trab durch den Aachener Stadtwald joggt. Nach einem heftigen Regenschauer fallen noch Tropfen von den nassen Blättern. Durch die Baumkronen zeigt sich wieder blauer Himmel.

«Wenn seriöse Wissenschaftler den Tagebau derart verurteilen, müsste das schon sein Ende sein», meint Richard, langsamer laufend, um mehr Luft zum Sprechen zu haben. Sein Körper wirkt zwar sportlicher, aber er läuft schwerer als Martin, unter dessen T-Shirt sich ein Bauch noch dezent vorwölbt.

«Müsste. Aber nicht machbar. Dafür ist die altbewährte Koalition von Wirtschaft und Politik zu stark.»

«Ist eine Schweinerei», sagt Richard, sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn wischend.

«Ist es.»

«Ich bekomme es einfach nicht aus dem Kopf. Schon ein Wiederholungszwang.»

«Wiederholungszwang? Na ja, nenn’s besser Bewältigungsversuch», sagt Martin. Er blickt zu Richard, der jetzt mit gesenktem Kopf und offenem Mund läuft, schwer zu atmen beginnt. «Angesichts der Tatsachen ein ganz normales Verhalten in einer anormalen Situation. Rede dir jetzt keinen Wiederholungszwang ein. Du bist doch schon ziemlich gelassen.»

«Aber noch nicht gelassen genug. Ich muss es besser ausblenden», sagt Richard.

«Nicht so einfach», meint Martin.

«Ach, lass uns lieber nicht mehr darüber reden», sagt Richard. «Sonst verkrampfe ich noch.»

«Entspann dich und genieße es, hier zu laufen«, sagt Martin. Er zieht die Luft hörbar tief durch die Nase ein. «Wie der Wald nach dem Regen duftet! Köstlich, mein Lieblingsparfüm.»

Richard merkt, dass ihn heute Nachmittag das Laufen mehr anstrengt als sonst. Er wundert sich, er müsste doch besser in Form sein. Nach diesem schönen Wochenende mit Birgit. Der Braunkohlenterror scheint doch mehr an ihm zu zehren, als ihm lieb ist. Zu oft muss er daran denken. Als wären es geistige Widerhaken, von denen er sich nicht befreien kann.

Sie überholen ein junges Paar, das sich Händchen haltend auf dem zwischen Buchen verlaufenden Waldweg einer Bank nähert. Ein Eichelhäher stößt Warnrufe aus. Sonnenstrahlen werden vom dichten Laubwerk abgeschirmt, sie gelangen, sich zerstreuend, nur bis zu den Baumkronen, zwischen denen Flecken mit blauem Himmel zu sehen sind. Wenige Meter vom Weg entfernt wächst roter Fingerhut, der in einem langen, schmalen Streifen hinter Farnen hochragt. Dieses Waldstück hat für Richard etwas Märchenhaftes. Wie aus einem Bilderbuch. Er sieht so lange dorthin, wie es in seinem Blickfeld bleibt. Er atmet die würzige, noch regenfeuchte Luft tief ein. Ein belebender Naturduft, aber sicherlich nicht sein Lieblingsparfüm. Das verströmt jetzt Birgit. Wenn sie nackt ist, duftet sie betörend, vor allem im Schulter-Nacken-Bereich. Morgen wird er wieder bei ihr sein. Gut, dass er sie hat. Und Martin.

Richard überspringt eine Pfütze mit breitmatschigen Rändern. Er sieht zu Martin, der noch erstaunlich leichtfüßig neben ihm läuft und ganz entspannt aussieht. Sein Hemd klebt schweißnass an seinem Körper, dessen übergewichtige Rundungen sich jetzt stärker abzeichnen. Er isst zu gern. Sein größtes Problem sind seine überflüssigen Pfunde, gegen die er bislang wenig erfolgreich mit Sport anzukämpfen versucht. Zwei bis dreimal pro Woche joggen sie beide durch den Aachener Stadtwald. Das ist für ihn sinnvoller als jede Diät, die er nur als Folter empfinden und schon nach wenigen Tagen abbrechen würde. Auch wenn er es nicht schafft, abzunehmen, nur kurzfristig Pfunde verliert, verbrennt er beim Joggen so viele Kalorien, dass er, wie er meint, sein Gewicht recht gut in Schach hält.

Seit ihrer Schulzeit sind sie miteinander befreundet. Beinahe wäre Martin auch Richards Schwager geworden. Seine sieben Jahre jüngere, ihm in vielem ähnliche Schwester und Richard hatten sich ineinander verliebt und in ihrem Gefühlstaumel eingebildet, füreinander geschaffen zu sein. Sie hatten sich schon darin verrannt, das mit einer Heirat zu besiegeln. Ein explosiver Streit jedoch, der sich erst an ihren unterschiedlichen Vorstellungen zur Familienplanung entzündete, dann starke Zweifel aufflammen ließ, Illusionen zerstörte, beendete alle Hochzeitsvorbereitungen und ihre Liebesepisode.

Martin bedauert es noch immer, meint, dass alles hätte ganz anders kommen können, wenn sie damals nicht ebenso stolz wie töricht gewesen wären, sich nicht wie zwei Sensibelchen verhalten hätten, die sich narzisstisch gekränkt fühlten. Für Richard jedoch war es die plötzliche Einsicht in trennende Gegensätze, die ihren Bruch verursachte. Es war eine überhitzte Liebesillusion, die nach acht Monaten erkaltete. Richard hat Gundula, die seit neun Jahren mit Mann und zwei Kindern in Hamburg lebt, ins Archiv der Erinnerung eingeordnet. Für Martin ist seine Schwester noch immer ein Problem, das ihm zu schaffen macht. Ihre frühere innige Beziehung ist stark abgekühlt, was er als großen Verlust empfindet und als willkürliche Abgrenzungsmaßnahme von ihr zu erklären versucht.

Von Lebenserfahrungen ernüchtert, hat sich Martin im Laufe der Zeit eine seelische Schutzschicht zugelegt, die eine variable Mischung aus Gleichgültigkeit und Zynismus ist. Damit fühlt er sich gegen die, wie er es nennt, tief verwurzelte Verkommenheit der menschlichen Gesellschaft besser gewappnet als früher. Martin war ziemlich lange ein zeitkritischer Heißsporn, der sich bis zur geistigen Erschöpfung für eine bessere Gesellschaft einsetzte. Als Journalist provozierte er, eckte an, ärgerte die Heuchler. Es war für ihn eine Jagd, bei der er die Gemeinheit zur Strecke bringen wollte. Er schonte sich dabei nicht, ging bis an die Grenzen tolerierter Meinungsfreiheit, nahm finanzielle Einbußen in Kauf. Doch schließlich merkte er, dass er sich mit wenig Erfolg verausgabte. Zu oft musste er seine Ohnmacht eingestehen, mit seinen Artikeln änderte er nichts. Er kam sich töricht vor, wie jemand, der mit Fäusten gegen massive Mauern schlägt. Er änderte seine Einstellung, wurde gleichgültiger, schaffte es nach mehreren Rückschlägen, sich ein inneres Gleichgewicht anzueignen, das er sorgsam pflegt. Er verspürt keine Resignation, die ihn bedrückt, sondern ihm hilft eine große Dosis Gleichgültigkeit, die er sich als Stärkungsmittel verordnet hat. Seine Abwehrkräfte gegen Zeitkrankheiten schützen ihn mittlerweile so gut, dass er davon nicht mehr infiziert werden kann. Eine Immunisierung für ihn. Er hat es sich jetzt im Leben recht bequem gemacht. Während er früher politischen Murks so nah an sich herankommen ließ, dass er davon bestimmt wurde, hat er heute dazu einen großen Abstand gewonnen. Als würde er alles nur noch durch ein umgedrehtes Fernglas betrachten. Seine frühere Engagiertheit wertet er als eine Art geistiges Laster, das er durch strenge Selbstdisziplin glücklicherweise überwunden hat. Ausgerüstet mit einem scharfen Verstand, würzt er seine Sätze gern mit beißendem Spott. Er arbeitet noch immer als Journalist, weil er, wie er sagt, nichts besser kann. An die Macht des Wortes glaubt er nicht mehr. Worte sind für ihn jetzt nur noch stumpfe Waffen. Trotzdem schreibt er weiter, um sich einzumischen und die menschliche Dummheit und Gemeinheit bloßzustellen. Es hat für ihn einen geistigen Reiz, der zu seinem Leben gehört. Mit Zynismus federt er seine Einsicht ab, dass er an Missständen nichts ändern kann. Die Tagespolitik, die er früher mit leidenschaftlichem Interesse verfolgte, womit er Richard manchmal auf die Nerven fiel, ist für ihn heute zu läppischer Public Relations verkommen, für die er nur noch ein Achselzucken übrighat. Was auf der politischen Bühne geschieht, betrachtet er oft als unfreiwilliges Kabarett von Leuten, die ihre Lächerlichkeit und Beschränktheit stets von Neuem beweisen und unverdrossen weiterwursteln. Mit den Politikern ist kein Staat zu machen. Er glaubt, dass sich daran nichts ändern wird. Mit fatalen Folgen.

Martin, der schon immer gern gut gegessen hat, ist in den letzten Jahren zu einem begeisterten Feinschmecker geworden. Ein erstklassiges Essen gehört für ihn zu den Genüssen, die er braucht, um es sich im Leben möglichst angenehm einzurichten. Als Feinschmecker ist ihm das Essen wichtiger als die Kritik an der menschlichen Gesellschaft, deren selbstgefälliger Stumpfsinn und verabscheuungswürdige Gemeinheit ihn nicht mehr empört, sondern nur noch zum Sarkasmus reizt. Wenn er gut isst, dann ist er ganz bei sich und seinem Körper, ein, wie er sagt, kultivierter Akt der Selbstbefriedigung. Kulinarische Genüsse, die er höher einschätzt als Sex, bieten ihm Spitzenwerte der Lebensfreude. So zufrieden wie heute hat er sich noch nie gefühlt. Er hat sich einen sehr gesunden Egoismus zugelegt, der ihn wie ein Bollwerk vor negativen Einflüssen schützt.

Martin arbeitet als freiberuflicher Journalist, schreibt auch Reiseberichte, die er seit mehreren Jahren am liebsten verfasst. Im Gegensatz zu seinen politischen Artikeln sind sie von erfreulichen Erfahrungen geprägt und bieten Beispiele für die positiven Seiten des Lebens. Ein guter Ausgleich für ihn. Sein Buch über Korsika, in dem er kulinarische und kulturelle Routen beschrieb, hatte einen überraschenden Erfolg.

Er begeistert sich für Island, plant ein Buch darüber, in dem er vor allem die geologischen und kulturellen Besonderheiten würdigen will. Es soll eine wohltemperierte Liebeserklärung an dieses Land werden, das auf ihn seit einiger Zeit eine einzigartige Faszination ausübt.

Nachdem er an Kochkursen für Fortgeschrittene teilgenommen hatte, lernte er voriges Jahr an mehreren Wochenenden in der Küche eines erstklassigen Restaurants, das einem guten Bekannten gehört, auf hohem Niveau dazu. Feinschmecker, die selbst nicht kochen können, findet er geschmacklos. Das sind für ihn nur oberflächliche Genießer. Sie können ein gutes Essen gar nicht richtig würdigen. Sie wissen ja nicht, wie es gemacht wird. Martin kocht immer besser.

Körperlich vom Joggen durch den Aachener Stadtwald erschöpft und seine Kondition bemängelnd, steht Richard, die Arme auf die Oberschenkel gestützt, neben Martin auf dem Parkplatz, der von Buchen und Holunderbüschen umrandet wird. Er hat nachgelassen, zweifellos. Sein Körper sagt es ihm heute deutlich. Es muss ihn wieder mehr fordern, sonst wird er noch zu früh morsch. In den letzten Wochen hat er sich zu wenig bewegt. Er sollte mindestens dreimal pro Woche laufen. Er blickt zu Martin, der noch einige Lockerungsübungen macht, sich dann an seinen schon angejahrten Wagen lehnt. Die Sonne strahlt die Lichtung an, überzieht die geparkten Autos mit Glanz. Der Wald im Hintergrund bildet einen dunklen Kontrast.

Zwei junge Frauen, ansehnlich und in modisch knapp geschnittener Sportkleidung, ziehen ihre Blicke an. Sie sind gerade aus einem repräsentativen Jeep gestiegen, dehnen sich. Die beiden Frauen würdigen sie keines Blicks, laufen los.

«Wohl Mitte zwanzig», schätzt Richard.

«Für die sind wir schon Fallobst», vermutet Martin ihnen hinterherblickend.

«Anscheinend», sagt Richard. Er schweigt einige Sekunden. «Egal. Gut, dass ich nicht mehr so grün wie früher bin. Ich gefalle mir heute besser.» Er mustert kurz die beiden Frauen, die langbeinig steif über den Waldweg traben.

«Kann ich auch von mir behaupten. Ich bin froh, dass ich nicht mehr zwanzig bin. Mit so einem jungen Gemüse käme ich mir heute lächerlich vor.»

«Ich mir auch.»

«Bei dir passt’s ja. Mit ihren 35 Jahren hat Birgit für dich die richtige Altersklasse. Richard, was hältst du davon, wenn ich euch beide zum Essen einlade? Dann kann ich sie endlich kennenlernen.»

«Finde ich gut.»

«Was hältst du von Samstagabend? Um sieben?», fragt Martin.

«Gut. Das müsste gehen», antwortet Richard. «Das Wochenende wollten wir sowieso zusammen verbringen.»

«Mag sie lieber Fleisch oder Fisch?»

«Fisch.»

«Also werde ich euch ein leckeres Fischgericht auftischen. Natürlich mit Vor- und Nachspeise. Lasst euch überraschen.» Er macht eine Pause, streckt sich genüsslich. «Gibt es irgendein Thema, worauf sie allergisch reagiert? Irgendeine Gesprächsfalle, in die man hineingeraten könnte?»

«Nein. Du brauchst nicht vorsichtig zu sein, kannst dir freien Lauf lassen. Birgit mag sowieso keine Diplomatie.»

«Umso besser. Sehr sympathisch. Sie ist wohl ganz anders als Iris. Sag mal, Richard, wie verhält sich eigentlich zurzeit dein Eheweib. Xanthippig?», fragt Martin.

«Mal mehr, mal weniger», antwortet er. «Sie fällt mir auf die Nerven. Allein schon die Tatsache, dass ich mit ihr unter einem Dach wohne, stört mich.»

«Eine Scheidung ist überfällig.»

«Ja. Wird Zeit.»

«Wenn man vom Standesamt kommt, ist man schon auf dem Weg zum Amtsgericht.»

«Das hast du mir schon vor meiner Hochzeit gesagt», erinnert sich Richard lächelnd.

«Als freundschaftliche Mahnung. Wegen der eindeutigen Statistiken. Und weil ich sowieso nicht an dauerhafte Beziehungen glaube.»

«Ich weiß, Martin. Danach lebst du ja auch», sagt Richard und gibt ihm einen Klaps auf die Schulter. «Zu den Geschiedenen wirst du nie zählen.»

«Ausgeschlossen. So, das war der sportliche Teil des Tages. Danach kommt der kulturelle.» Er blickt auf die Uhr. «Ich gehe heute Abend ins Theater. Zur Premiere von Ibsens Peer Gynt. Bin gespannt, wie diese Odyssee auf die Bühne gebracht wird.»

«Geht Nadja mit?»

«Nein. Interessiert sie nicht. Ich sehe mir das Stück nur mit mir selbst an.»

«Dann bist du ja in bester Gesellschaft.»

Martin nickt lächelnd, gibt Richard die Hand.

«Also dann bis spätestens Samstag. Bestell Birgit einen schönen Gruß von mir.»

«Werde ich machen. Tschüss Martin.»

Gegen den Koloss

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