Читать книгу Igor – Eine nicht alltägliche Vampirgeschichte - Achim Kaschel - Страница 5
Kapitel 1 - Barfly
ОглавлениеEs war kurz nach 22:00 Uhr, als Igor seine Stammkneipe, den Rebstock, betrat. Er bestellte sich ein Bier und einen Korn, fischte ein paar Münzen aus seiner schwarzen Jeans und warf sie in den Spielautomaten, der im Raucherbereich aufgestellt war. Er setzte sich daneben. Aus seiner dunklen Lederjacke holte er eine Packung Zigaretten und steckte sich eine an. Er schaute sich um. An diesem Abend hatten nicht sehr viele Gäste den Weg hierher gefunden, lediglich zwei alte Kerle saßen an der Bar, nippten an ihrem Hefeweizen und schwiegen sich an.
Theresa trat zu ihm und stellte ihm seine Getränke auf den Tisch. „Na, Archie, wieder nüchtern?“ Sie lächelte und entblößte dabei ihre gelben Zahnreihen.
„Ja, leider, aber ich bin dabei, diesen Fehler zu korrigieren.“ Igor prostete ihr zu und trank einen großen Schluck. Dann stellte er das Bier ab und rülpste lauthals in Richtung Theke. Die zwei Alten zuckten zusammen und warfen ihm böse Blicke zu. Igor grinste zurück und schickte einen zweiten Rülpser auf die Reise zur Bar.
Er zog seine Jacke aus und legte sie über den Stuhl. Ein blaues T-Shirt mit einem zähnefletschenden Werwolf darauf bedeckte seinen schmächtigen Oberkörper. Darunter war in großen, roten Lettern American Werewolf geschrieben. Igor liebte Filme und kannte sich dementsprechend gut aus. Nachdem er beide Gläser geleert hatte, winkte er Theresa her, um noch mal dasselbe zu bestellen. Wieder brachte sie ihm einen Korn und ein Bier, und wieder kippte er einen großen Schluck, um die alten Säcke an der Bar geräuschvoll anzurülpsen. Dieser Vorgang wiederholte sich im Laufe des Abends noch einige Male.
Nachdem er noch ein paar Münzen in den Automaten geschmissen und wider Erwarten nichts gewonnen hatte, ging er zur Toilette, um seine gut gefüllte Blase zu leeren. Ein Gefühl der Erleichterung überkam ihn, während er die Klobrille, den gefliesten Boden und seine schwarzen Stiefel mit braungelbem Urin besprenkelte. Er ging zum Waschbecken und blickte in den Spiegel. Die Tür ging auf und einer der alten Kerle torkelte hinter ihm vorbei. Der Alte war so mit sich selbst beschäftigt, dass er gar nicht merkte, dass Igor am Waschbecken stand, geschweige denn, dass er gar kein Spiegelbild hatte.
Ich muss jetzt noch mal kurz abschweifen. Wieso wird eigentlich allgemein von jedem akzeptiert, dass Vampire kein Spiegelbild haben? Klingt das irgendwie logisch? Ist das plausibel? Meiner Meinung nach nicht, aber mache ich einen Aufstand deswegen? Nein, mach ich nicht. Ich hab keine Ahnung, warum Vampire kein Spiegelbild haben. Vielleicht sind sie zu schön und der Spiegel würde vor Scham zerspringen, oder vielleicht liegt es an speziellen Vampiratomen, die zur Spiegelunsichtbarkeit führen? Ich kann es leider nicht erklären. Genauso wenig kann ich in wenigen Worten erklären, warum Igors Vater diesen Job bei der Bank bekommen hat, der ja voraussetzt, dass er auch tagsüber dort arbeitet, obwohl wir doch alle wissen, dass Vampire im Sonnenlicht besser brennen als jeder Scheißgrillanzünder. Okay, zurück zur Geschichte.
Igor stand also am Waschbecken und wusch sich die Hände. Er ließ das Wasser über seine kleinen, speckigen Pratzen laufen und fuhr sich damit über sein schütteres Haar, zog ein paar Strähnen über die Stirn herunter und machte sich auf den Weg zurück zum Automaten.
Dort stand ein fremder Mann. Igor nickte ihm zu, ging an seinen Platz und trank sein Bier aus. Dann wandte er sich zur Theke und rülpste dem einen verbliebenen alten Sack zu. Der schüttelte den Kopf und genehmigte sich seinerseits einen kräftigen Schluck.
„Cooles T-Shirt“, bemerkte der Fremde, und Igor nickte ihm ein weiteres Mal zu. „Einer der besten Filme über Werwölfe. Sehr spannend, sehr gute Tricks, eine gute Portion Humor, starke Musik und überzeugende Darsteller. Und nicht zu vergessen John Landis. Ein sehr fähiger Regisseur.“
Igor nickte ein drittes Mal. „Bist wohl so was wie ein Scheißfachmann.“
Der Fremde lächelte. „Ich liebe einfach Filme.“
„Yeah, genau wie ich.“ Igor lächelte nun auch und reichte ihm die Hand. „Ich bin Archie.“
Der Fremde schlug ein. „Ich bin Abe. Freut mich.“
„Schon was gewonnen?“ Abe zeigte auf den Automaten und blickte Igor fragend an.
Igor schüttelte den Kopf. „Nee, aber man spielt ja auch nicht, um zu gewinnen, sondern des Spaßes wegen.“
Abe grinste. „Was hast du eigentlich für ein Problem mit den alten Kerlen da drüben?“ Abe zeigte zur Theke, wo sich mittlerweile der zweite Alte nach seinem Toilettengang wieder eingefunden hatte. „Ich hab kein Problem mit denen. Wieso?“
Abe winkte ab. „Schon in Ordnung, Archie. Bist mir keine Rechenschaft schuldig.“
Der restliche Abend im Rebstock verlief sehr angenehm für Igor. Er und Abe tranken noch diverse Schnäpse und philosophierten über die Filme von John Landis, die sie kannten. Die beiden alten Männer an der Bar verließen die Kneipe vor ihnen, aber nicht, ohne dass sich Igor noch entsprechend von ihnen verabschiedet hätte. Ich schätze, ihr wisst schon wie.
Gegen zwei Uhr gingen auch Abe und Igor. Sie verabschiedeten sich voneinander, und Igor taumelte die Hauptstraße entlang. Er beschloss, in dieser Nacht nicht zu fliegen. Die Gassen des kleinen Städtchens Vavrics waren viel interessanter, wenn man zu Fuß unterwegs war.
Habt ihr Vavrics schon mal besucht? Wenn nicht, so möchte ich es euch sehr ans Herz legen. Vavrics ist einfach bezaubernd, ja geradezu unbeschreiblich. Die alten Häuser, die geheimnisvolle St.-Lukic-Kirche, die urigen Kneipen, der verwitterte Friedhof … Kurz gesagt, so schön wie Prag. Wart ihr schon mal in Prag, der Goldenen Stadt? Wenn ja, dann versucht euch noch einmal vorzustellen, wie ihr durch das goldene Gässchen geschlendert seid, wie ihr ehrfürchtig vor dem St.-Veits-Dom gestanden habt, wie ihr beeindruckt auf der Karlsbrücke spaziert seid oder wie ihr nachts zu Tränen gerührt den hell erleuchteten Hradschin bewundert habt. Und jetzt ersetzt einfach den Namen Prag durch Vavrics, und schon wisst ihr, wie es in Vavrics aussieht. Wenn ihr noch nie in Prag gewesen seid, dann solltet ihr das schleunigst nachholen, oder zumindest solltet ihr im Internet unter www.prag.de ein paar Bilder dieser wundervollen Stadt anschauen. Wart ihr dagegen schon mal in Vavrics, aber noch nicht in Prag, dann müsst ihr euch einfach die dortigen Sehenswürdigkeiten ins Gedächtnis rufen und den Namen Vavrics durch Prag ersetzen. Das funktioniert natürlich auch. Solltet ihr in der glücklichen Situation sein und tatsächlich schon beide Städte bereist haben, dann werdet ihr mir sicher zustimmen und sagen: „Da gibt es keinen Unterschied.“ Mir persönlich ist es sogar schon passiert, dass ich in einer Prager Kneipe einen doppelten Wrukolaka bestellt habe, obwohl es diesen griechischen Schnaps nur in Vavrics gibt. Peinlich, peinlich.
So, nun aber weiter mit Igor. Der taumelte also durch die engen Gassen und bewunderte die vielen kleinen Skulpturen, die an den Häusern angebracht waren. Er lebte nun schon so lange in diesem Städtchen, und doch gab es noch so viel zu entdecken, was er noch nicht kannte. Unter jedem Stein, hinter jeder Tür und jeder Ecke konnte eine Überraschung lauern – so auch jetzt. Als Igor nämlich um die nächste Straßenecke torkelte, bekam er einen fürchterlichen Schlag auf den Kopf. Bevor er kapierte, was vor sich ging, folgte ein Tritt in seinen Bauch, und er erhielt noch zwei starke Schläge ins Gesicht. Er sackte zu Boden. Als er nach oben schaute, sah er die beiden alten Säcke aus dem Rebstock über sich aufragen, breit grinsend, und jeder fuchtelte wild mit einem Holzbalken herum. Die hatten sie sich offensichtlich aus einem Schuppen in der Nähe der Kolmitzerstraße geborgt. Sie schlugen noch ein paarmal auf Igor ein und erklärten, es wäre ihm hoffentlich eine Lehre und er würde sicher das nächste Mal ein bisschen netter zu ihnen sein. Dann rülpsten sie ihn noch kräftig an und zogen schließlich ab.
Igor lag zusammengekrümmt auf dem Steinboden und lächelte vor sich hin. Er hatte keine Schmerzen, dafür sorgte zum einen sein hoher Alkoholpegel und zum anderen seine Fähigkeit zur Selbstheilung.
Wartet nur ab, ihr alten Säcke, dachte er. Wir sehen uns wieder. Er stand auf und streckte sich, dann schlenderte er gemütlich weiter. Er hatte Hunger, doch nirgends lag ein Betrunkener herum. Er seufzte und schlug die Richtung zum Pflegeheim Haus Himmelwärts ein.
Gegen fünf Uhr morgens traten die ersten Sonnenstrahlen hinter dem Neuntöterberg hervor. Igor saß auf der alten, ziemlich brüchigen Friedhofsmauer und beobachtete den mächtigen Hügel. Der Friedhof lag noch im Dunkeln, doch schon bald würden die Sonnenstrahlen den Weg dorthin gefunden haben. Gegenüber vom alten Friedhof stand das noch ältere Herrenhaus seines Vaters. Igor liebte es, dort zu wohnen. Das Haus schien unendlich viele Zimmer zu haben. Auch war es in den unterschiedlichsten Stilen eingerichtet und barg unzählige Geheimnisse.
Igor hüpfte von der Mauer, wobei sich ein paar Steine lösten und zu Boden fielen. Er richtete seinen Blick nach Osten, von wo die ersten Sonnenstrahlen ihm nun schon gefährlich nahekamen. Er grinste und sagte sich: „Risiko!“ Noch einen kurzen Augenblick wartete er, dann rannte er los, die Friedhofsmauer entlang, quer über die Wiese, durch das Gartentor und an den hübschen Blumen vorbei bis vor die große, schwere Eingangstür.
Er drehte sich um. Die Sonne war fast komplett hinter dem Bergmassiv emporgestiegen. Igor packte den großen, metallenen Türknauf von der Form eines Wolfes und klopfte. Augenblicklich wurde die Tür geöffnet und Igor in die schützende Dunkelheit gerissen.
„Du kommst spät! Fast hätten die Sonnenstrahlen dich erwischt! Ich wollte gerade zur Arbeit gehen. Du kannst von Glück reden, dass ich dir noch die Tür geöffnet habe.“
„Ich werde nächstes Mal früher zu Hause sein, Vater. Ich verspreche es.“
Der Vater zog eine Augenbraue hoch und antwortete mit strenger Miene: „Geh jetzt schlafen, Igor. Wir sprechen uns später.“
Igor senkte den Kopf. „Ist gut Vater. Bis später. Ich wünsch dir einen schönen Tag im Büro.“
Der Vater winkte ihm zu. „Schlaf gut, mein Sohn, schlaf gut.“
Igor ging durch die hohe Empfangshalle in sein Zimmer und direkt zu seinem Plattenspieler. Er legte eine Scheibe von Willi Rose auf, dann blickte er sich um. Die Wände waren komplett mit Filmplakaten bedeckt, sodass kein weißes Fleckchen von der Wand mehr zu sehen war. Sogar die Decke war übersät mit kleinen Filmpostkarten. Er rückte die schwere Holzplatte von seinem Sarg. Viel lieber hätte er in einem normalen Bett geschlafen, aber sein Vater bestand nun mal auf den alten Traditionen. Er stieg in den Sarg, während aus den Lautsprechern ein Gassenhauer dröhnte: „Püppchen, du bist mein Augenstern!“
So, jetzt habt ihr also einen kleinen Einblick in Igors Kosmos bekommen. Ihr wisst, dass Igors Vater, obwohl er ein Vampir ist, ein erfolgreicher Bankangestellter ist, obwohl man meint, dass er als solcher eigentlich tagsüber gar keiner normalen Beschäftigung nachgehen kann. Ihr wisst aber auch, dass der Vampirkörper, insbesondere der von Igors Vater, als eine hoch komplizierte biologische Angelegenheit ganz schwer in wenigen Worten verständlich gemacht werden kann. Eigentlich ist es unmöglich. Wir haben auch über Igors Lebensstil ein paar Dinge herausgefunden.
So wissen wir, dass er gern alkoholische Getränke zu sich nimmt und sich noch nicht für eine berufliche Laufbahn entschieden hat, dass er Filme liebt und alte Schlager aus den 20er-Jahren. Er nennt sich Archie Leach und er wohnt mit seinem Vater in einem alten Herrenhaus in dem wunderschönen Städtchen Vavrics, das einer berühmten Stadt an der Moldau ähnelt. Es handelt sich natürlich eigentlich um Prag.
Über was ich aber bisher noch kein Wort verloren habe, ist Igors Mutter. Wie wir Menschen, so haben auch Nilpferde, Katzen, Hunde und Vögel, also, allgemein gesprochen, Tiere und eben auch Vampire, Werwölfe, Hexen und Dämonen, also, allgemein gesprochen, Schattenwesen einen Vater und eine Mutter. Das bedeutet, dass auch Igor eine Mutter haben muss. Er selbst hat sie jedoch noch nie gesehen, und Igors Vater hüllt sich zu diesem Thema in Schweigen. Er blockt ab und versucht das Thema in eine andere Richtung zu lenken, so oft Igor ihn auch darauf anspricht. Auch Igors ältere Brüder Serge, Spaghatto und Kulidag geben ihm keine Auskunft, ob aus Unkenntnis oder purer Boshaftigkeit, sei dahingestellt. Letzteres ist wahrscheinlicher, denn das Verhältnis der Brüder ihm gegenüber ist recht bescheiden, was zum Teil daran liegen mag, dass sie wie ihr Vater eine große Karriere anstreben und trotzdem das Gefühl haben, dass Igor der Lieblingssohn des Alten ist – womit sie auch gar nicht so falsch liegen.
Igor hat sich schon oft bemüht, auf eigene Faust etwas über seine Mutter herauszufinden, doch bisher scheiterten seine Versuche kläglich. Es war jedes Mal dasselbe Prozedere. Igor saß im Rebstock oder, wenn der geschlossen hatte, im Anker und trank ein paar Bier. Alle Leser, die sich mit dem Einverleiben von Bier auskennen, werden mir zustimmen, wenn ich sage, dass nach etwa zwei, drei Gallonen davon ein Gefühl der Entspannung und Lässigkeit bei der betreffenden Person aufkommt. Gleichzeitig setzt eine Phase genialer Ideen ein. Man philosophiert über das Leben und ganz nebenbei hat man die besten Gedanken dazu, wie man die Welt verbessern kann. Genau in dieser Phase kommen auch Igor die besten Ideen, was die Suche nach seiner Mutter betrifft. Doch nun ist es ja so, dass schon beim vierten Glas die Phase der genialen Ideen abrupt endet und von der nächsten Phase oder, wie Computerspiel-Fans gerne sagen, dem nächsten Level abgelöst wird, für das es sehr viele Bezeichnungen gibt. Ich nenne nur die wichtigsten und treffendsten. So kann man diesen Zustand als Bonuslevel bezeichnen, aber passend finde ich auch geistige Umnachtung oder einfach nur Vollbombe. Mein Favorit allerdings ist der Ausdruck der motorischen Endplatte, obwohl ja bekannt ist, dass das etwas völlig anderes ist, nämlich ein Begriff aus der Medizin für die … äh … nun ja, es bedeutet, dass die Nerven … Ach, ist ja auch egal. Zurück zum Thema. Wenn man also das vierte Bier getrunken hat, wird man förmlich auf die motorische Endplatte zu katapultiert, das heißt, all die genialen Ideen zur Weltrettung oder in Igors Fall alle tollen Gedanken vom Suchen und Finden seiner Mutter werden beiseitegeschoben und man beginnt, sich andere Dinge zu fragen wie zum Beispiel: Warum glotzt der Typ an der Bar mich so blöde an? Will der vielleicht Ärger? Oder: Hoffentlich haben die noch genug Bier da.
Was ich eigentlich damit sagen will, ist Folgendes. Der Grat zwischen einem Fundus von genialen Ideen und der motorischen Endplatte ist verdammt schmal oder, um es mit Ewan McGregors Worten in Trainspotting auszudrücken: ein verdammter Drahtseilakt.
Man muss den richtigen Zeitpunkt erwischen, um diese guten Ideen in die Tat umzusetzen, exakt zwischen Bier Nummer drei und Bier Nummer vier, zu dem es demzufolge auf keinen Fall kommen darf. Erschwerend wirken hier die Bequemlichkeit und Lässigkeit, die sich beim Trinker eingestellt haben, und die zu überwinden eine geradezu heroische Meisterleistung erfordert. Und ehrlicherweise gestehe ich, dass ich noch niemandem begegnet bin, der das geschafft hat. Auch bei Igor ist das Gegenteil der Fall. Er dringt meist mit den Bieren Nummer fünf und sechs (und diversen Korn davor und dazwischen) in Sphären vor, die nur wenige vor ihm betreten haben.