Читать книгу Eins, zwei, Polizei - Adam Scholler Friedrich - Страница 4
Montag: Warnzeichen
Оглавление7.30 Uhr. Es erwachte ein herrlicher Frühsommermorgen. Die Luft war angenehm mild und frisch. Eine Holztaube rief in die leichte Morgenbrise.
Torsten hatte extrem gute Laune, und das hing nicht nur mit dem Wetter zusammen. Hinter dem Polizeiobermeister lagen ein paar anstrengende Tage Streifendienst. Doch diese Woche würde sehr entspannt sein. Innendienst! Das bedeutete: absolut geregelte Arbeitszeiten. Keine Streifenfahrten, null Risiko, stattdessen von acht bis vier im meist stressfreien Büro. Den Außendienst würden diese Woche seine Kollegen Susanne und Stefan übernehmen. Torsten schwang sich auf sein Fahrrad und radelte los.
Bis zur Polizeidienststelle waren es nur zwei Kilometer. Der Begriff stellte allerdings eine euphemistische Umschreibung des Gebäudes dar. Eigentlich handelte es sich nur um einen Stützpunkt, einen Außenposten des wirklichen Reviersitzes. Dieser Umstand rührte noch von der letzten Kreisgebietsreform her, als Torstens derzeitiger Arbeitsort seine Eigenständigkeit verloren hatte. Jetzt ließ man diesen Außenposten noch etwas vor sich hin wursteln: Keine wirkliche Dienstaufsicht, weitgehende Eigenständigkeit und ein erträgliches Maß an Arbeit. Nachts und am Wochenende war die Dienststelle seit ein paar Monaten unbesetzt, dunkel und leer. Es gab nur noch Tagschichten. Irgendwann würde das Gebäude wohl geschlossen und Torstens Arbeitsweg damit erheblich weiter werden.
Am Polizeigebäude angekommen, bugsierte Torsten seinen Drahtesel in den Fahrradständer. Seit kurzer Zeit stand dort regelmäßig noch ein weiteres Fahrrad. Es gehörte Johannes, dem Bufdi, der wohl keinen Führerschein besaß. Der Junge kam wirklich bei jedem Wetter mit dem Fahrrad.
Dieser Bufdi, also ein Angehöriger des Bundesfreiwilligendienstes, war ein ziemlicher Nerd: Er trug eine dicke Hornbrille sowie einen Ziegenbart, galt als spaßbefreit, schien offenbar etwas schlicht im Geiste zu sein und war zu jedem freundlich. Torsten mochte ihn trotzdem. Johannes war ganz okay. Er lachte sogar über die derben Späße, die auf seine Kosten gingen.
Auch an diesem Morgen lächelte der junge Bufdi Torsten zu und grüßte freundlich. Er kniete gerade in einer Blumenrabatte und jätete offenbar Unkraut. Das gehörte zu seinen Aufgaben. Als Bufdi war Johannes sozusagen ein Mädchen für alles: Er kehrte den Hof, gärtnerte, putzte, wusch den Dienstwagen und übernahm diverse Hausmeisterarbeiten. Viele Behörden machten das so. Ein Bufdi kostete fast nichts und erledigte dafür alles, was eben sonst keiner tun wollte.
Torsten betrat das flache, einstöckige Dienstgebäude, einen hässlichen Betonklotz aus den 90er Jahren. Er war an diesem Morgen offenbar der letzte Ankömmling. Stefan, wie Torsten ein Mittdreißiger, sowie die etwa zehn Jahre jüngere Susi standen in der winzigen Kaffeeküche, hielten ihre Tassen in der Hand und werteten gerade den gestrigen „Tatort“ aus. Für Polizisten war das immer ein amüsantes, manchmal auch angenehm empörendes Thema, wie ihr Alltag von Drehbuchschreibern falsch dargestellt wurde…
Durch die Glasscheibe am anderen Ende des Raumes sah Torsten den alten Herbert, seines Zeichens Stützpunktleiter, der es sich in seinem Büro bequem gemacht hatte. Bestimmt hörte der wieder irgendeine Radiosendung, die keinen anderen Menschen mit gesundem Verstand interessierte. Herbert war Torstens Ansicht nach ein Schisser, der Veränderungen hasste. Sein letzter Einsatz im Außendienst musste Jahrzehnte zurückliegen. Herbert saß im Prinzip fast immer in seinem Büro. Dort kannte er sich aus. Dort war es ungefährlich, außer natürlich, er plumpste vom Drehstuhl. Für Herbert war die absehbare Schließung dieses Außenpostens wahrscheinlich eine ziemliche Katastrophe. Torsten hob nachlässig grüßend die Hand. Herbert winkte abwesend zurück.
Torsten erreichte seinen Schreibtisch und stutzte. In die Computertastatur hatte jemand ein kleines Verkehrsschild gesteckt, wie man es für Modelleisenbahnen verwendete. Es war das Warnschild Achtung Kinder.
„Sehr lustig! Was soll das?“ rief Torsten halblaut zur Küchennische hinüber.
Susi und Stefan schauten erstaunt auf, sahen sich gegenseitig an und sagten dann beinahe völlig synchron: „Was meinst du?“
„Kommt schon! Verscheißert mich nicht!“, entgegnete Torsten. „Das Schild hier“, er zeigte es hoch.
Die beiden kamen näher, betrachteten das winzige Plastikteil und blickten ratlos drein.
„Vielleicht vom alten Herbert“, mutmaßte Stefan. „Du sollst bestimmt dein Wissen über Verkehrszeichen auffrischen“, meinte er lachend.
Susi grinste: „Oder hast du irgendeine Zufallsbekanntschaft geschwängert?“, meinte sie süffisant. „Ich war das jedenfalls nicht - das mit dem Schild, meine ich!“
„Ich habe damit auch nichts zu tun“, beeilte sich Stefan, zu versichern.
Torsten glaubte ihnen natürlich kein Wort.
Der alte Herbert, offiziell Leiter dieser Dienststelle, bekam von dem Geplänkel seiner Untergebenen nichts mit. Er hatte in diesem Moment besseres zu tun, als durch die Glasscheibe seines Büros zu starren. Herbert wusste, dass die Jungspunde da draußen ihm wenig Achtung entgegenbrachten. Sie hielten ihn für einen Schreibtischhengst, unbeweglich und senil. Nun ja, er war tatsächlich kein flinker, schlanker Jagdhund mehr. Was seine Mitarbeiter aber deutlich unterschätzten, war sein kühler, analytischer Verstand. Manchmal sah es so aus, als würde Herbert am Schreibtisch vor sich hin träumen. In Wirklichkeit durchdachte der Dienststellenleiter jedoch manche Sachverhalte einfach etwas gründlicher. Gelegentlich griff er sogar zu Stift und Papier, um komplexe Gedankengänge übersichtlich zu skizzieren. Wahrscheinlich hielten die Anderen deshalb seine Computerkenntnisse für eher schwach ausgeprägt.
In diesem Moment dachte Herbert über einen Radiobeitrag nach, der soeben zu Ende ging. Herbert hörte immer diesen Info- und Dokumentationssender, den gefühlt keiner sonst einstellte. An jedem Montagmorgen lief um diese Zeit eine Sendung, die neue Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung allgemeinverständlich erklärte. Mochten sich die anderen Polizisten ruhig etwas auf ihre Fitness einbilden. Herbert wusste, dass im Ernstfall die Fitness im Kopf ausschlaggebend war!
Die Radiosendung an diesem Morgen beschäftigte sich mit einem rätselhaften Phänomen: Manchmal vertauschten in der Tierwelt Jäger und Beute die Rollen. Es konnte zum Beispiel passieren, dass ein Schwarm Tauben beim Auftauchen einer Krähe nicht auseinanderstob, sondern sich stattdessen vereint auf den Räuber stürzte. Der aktuelle Beitrag bezog sich jedoch auf einen Löwen, den ein Wasserbüffel zu Tode gejagt hatte. Eine stichhaltige Erklärung der Wissenschaftler gab es dafür bisher nicht.
Herbert dachte aus reiner Gewohnheit über diese Information nach. Gibt es so etwas auch bei Menschen? Er fand für sich selbst die Antwort: Sicherlich! Auf diese Weise entstehen Revolutionen. Doch so unberechenbar wie bei dem tierischen Phänomen sind menschliche Revolutionen auch wieder nicht. Sie reifen schließlich heran und sind durchaus zu erahnen. Was aber wäre, wenn zum Beispiel flüchtige Verbrecher plötzlich grundlos aus ihren Verstecken kämen und Jagd auf Polizisten machten…? Das wäre dann ebenso rätselhaft und unerklärlich, ja, geradezu unvorhersehbar, wie der Fall des zu Tode gejagten Löwen. Allein der Gedanke daran war schauderhaft!
An dieser Stelle rissen Herberts Überlegungen unvermittelt ab. Er wusste selbst nicht, warum. Das passierte eben manchmal. Seufzend wandte der Dienststellenleiter sich wieder dem Verwaltungskram zu.
Inzwischen hatten Susi und Stefan das Dienstgebäude verlassen, um die erste Streifenfahrt dieses Morgens anzutreten. Wie selbstverständlich steuerte Stefan auf die linke Seite des betagten Kombis zu, während sich Susi mit dem Beifahrersitz zufrieden gab. Sie kannte ihre Jungs. Trotz des ganzen offiziellen Geschwafels von Gleichstellung und so weiter schienen viele Polizisten unbewusst immer noch totale Machos zu sein. Stefan und Torsten bildeten da keine Ausnahme. Egal, mit wem von ihnen sie gerade auf Streife war: Den Beiden wäre es nie in den Sinn gekommen, ohne Grund der Kollegin das Steuer zu überlassen. Wahrscheinlich trauten sie ihr auch den Umgang mit einer Dienstwaffe nicht wirklich zu. Susi war das ziemlich egal. Sie lebte auf diese Weise ruhiger und konnte sich ansonsten über Torsten und Stefan nicht beschweren: Keine blöde Anmache, keine dämlichen Sprüche. Sie wurde echt kollegial behandelt.
Stefan schwang sich hinter das Steuer und stutzte. Ein winziges Verkehrsschild, wie man es für Modelleisenbahnen benutzte, lehnte in der kleinen Vertiefung vor der Instrumententafel. Es war ein Warnzeichen, ein rotes Dreieck mit einem Ausrufezeichen in der Mitte: Achtung, Gefahrenstelle!
Stefan blickte zu Susi hinüber. Ein Hauch von Rot überzog ihre Wangen und ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen amüsiertem Grinsen und dem Bemühen um Ernsthaftigkeit. „Ich war das nicht, ehrlich!“, erklärte sie zum zweiten Mal an diesem Tag.
Aus irgendeinem Grund glaubte Stefan ihr sogar. Das war einfach nicht Susis Stil. Blieb doch nur der senile Dienststellenleiter als Verdächtiger übrig! Doofer Scherz!
„Der alte Herbert ist einfach nur dämlich, brummte Stefan verärgert. „Lustig geht eindeutig anders!“
Doch Susi schien ihm gar nicht richtig zuzuhören. Ihr Blick konzentrierte sich gerade auf Stefans Sitz, genauer gesagt, auf einen Punkt kurz dahinter. Mit schnellem Griff zog Susi plötzlich etwas aus der Tasche der Sitzlehne hervor. Eine Sekunde später ließ sie es angewidert fallen. Ein Herrenmagazin landete zwischen den beiden Beamten, so dass es nun auch Stefan erkennen konnte. Er erhaschte Begriffe wie Babes, blutjung und geil sowie 18 geworden. Auf dem Cover waren junge, asiatische Frauen weitgehend nackt und in mehr als eindeutigen Posen zu sehen. Ihre Mimik und die Schulmädchenzöpfe taten ein Übriges.
Susi rückte ein wenig von Stefan ab, lehnte sich mit einer leichten Drehbewegung an die Beifahrertür und blickte den Kollegen direkt in die Augen, ehe sie sich wieder abwandte.
„Stehst du auf sowas?“, fragte sie leise und tonlos, den Blick starr geradeaus auf die Frontscheibe gerichtet. Susi war keineswegs prüde. Sie wusste auch, dass die meisten Männer den Anblick nackter Frauen einfach mochten, so, wie sie sich eben auch für Autos oder Werkzeuge begeisterten. Das war nichts wirklich Sexuelles. Männer tickten einfach so. Doch das hier gehörte eindeutig in eine andere Kategorie. Irgendwie abartig, hart am Rande des rechtlich Erlaubten.
Stefan schoss die Röte bis zum Haaransatz. Er warf das Schmuddelheft mit unnötigem Schwung nach hinten und knurrte:
„Natürlich nicht! Vielleicht Torsten… Oder… Gib es zu! Steckst du etwa selbst hinter diesem blöden Streich? Du hast es schließlich ‚gefunden‘!“
Dann startete er den Wagen, löste die Handbremse und fuhr mit aufheulendem Motor los. Susi blies einfach nur die Luft geräuschvoll durch die halb geschlossenen Lippen und schwieg anschließend für sehr lange Zeit. Männer eben! Versaut und dann auch noch feige!
***
Nicht schlecht für den Anfang! Er war mit sich zufrieden. Die Verkehrszeichen zu platzieren, war eine Kleinigkeit gewesen. Den alten Wagen zu öffnen, stellte nun wirklich auch keine Kunst dar. Sogar die Türen des Dienstgebäudes hatten recht schnell nachgegeben. Kameras oder Alarmanlagen gab es hier außerdem nicht.
Immerhin war er ein Spezialist im schadensfreien Knacken von Schlössern. Laien glauben immer, man bräuchte dafür einen so genannten Diedrich. Tatsächlich gibt es so einen mysteriösen Generalschlüssel nicht. Es gibt vielmehr eine ganze Menge davon! Experten nennen sie Lockpicking-Tools. Fast jedes Schloss lässt sich bei etwas Geschick und Übung damit knacken. Nicht nur Einbrecher beherrschen diese Kunst. Für manche Typen ist das einfach ein Sport. Es werden sogar regelrechte Meisterschaften darin abgehalten. Die Besten schaffen nahezu jedes Schloss in ein paar Sekunden.
Er war zwar nicht ganz so gut. Aber mehr als zwei Minuten brauchte er auch nicht. Immerhin konnte er ungestört „arbeiten“. Das Gebäude war schließlich nachts verlassen. Nicht einmal eine Wachschutzfirma kümmerte sich darum.
Die kleinen Verkehrszeichen stammten von einer Modelleisenbahn-Ausstellung. Das war ganz einfach: Man beugte sich interessiert vor, als wolle man mit dem Smartphone etwas fotografieren. Eine schnelle Handbewegung, durch den Körper und das Gerät verdeckt, und schon verschwand das Verkehrszeichen in der fest geschlossenen Faust. Er hatte die Teile nicht kaufen wollen. Das hinterließ nur Spuren.
Mit dem Pornoheft verhielt sich das schon etwas anders. Solche speziellen Magazine wurden von einem eher überschaubaren Kundenkreis konsumiert. Jeder Kioskbesitzer hätte sich an ihn erinnert, falls er dieses Magazin überhaupt führte. Tankstellen schieden auch aus, denn dort gab es ja Überwachungskameras. Er war deshalb extra nach Tschechien gereist. Mit dem Bus, das war anonymer. Die grenznahen Sexshops lebten ganz gut von deutscher Kundschaft und führten daher auch entsprechende Artikel.
Die nun vor ihm liegende Aufgabe war ungleich leichter. Er konnte sie aus der Ferne erledigen. Dennoch musste er vorsichtig sein. Diese Polizisten waren keine Deppen. Das Spiel hatte gut begonnen. Doch morgen würde es erst richtig interessant werden!