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Kapitel 1

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Ella - 2014

Hier hat sich kaum etwas verändert. Mein früheres Lieblingslokal brodelt um diese Uhrzeit. Durcheinanderwirbelnde Stimmen und dumpfes Licht sorgen für die vertraute Atmosphäre. Da ich nicht reserviert habe, stehen die Chancen, einen Tisch zu bekommen, gleich null. Aber ich habe ohnehin nicht vor, allzu lange zu bleiben. Zu viele Erinnerungen sind mit diesem Ort verknüpft, weshalb ich in den letzten vier Jahren nur zweimal hier war. Heute Abend ging es nicht anders. Andrea, eine gute Bekannte und Mitarbeiterin der Hotelgruppe, für die ich tätig bin, wollte sich unbedingt hier auf einen Cocktail treffen, um ganz zwanglos mit mir über meine beruflichen Möglichkeiten zu sprechen. Auf diese Gelegenheit warte ich seit Wochen. Also muss es mir egal sein, dass unser Treffen hier stattfindet. Nur ist es mir nicht egal.

Ich dränge mich vorbei an einer langen Menschenschlange, die auf ihren Tisch wartet, und kämpfe mich bis zur Bar vor, die genauso voll ist. Kein Wunder. Hier ist das Essen gut, die Cocktails phänomenal und es ist eines der wenigen tollen Lokale in Wien, die das nicht gänzlich an ihren Preisen auslassen. Erleichtert erspähe ich zwei leere Sitze am Ende der Bar. Sie ist in einem Rundbogen angelegt. Die letzten Plätze in der Ecke bieten zumindest etwas Ruhe, um sich unterhalten zu können. Die chillige Musik läuft derzeit noch gedämpft vom Band, was sich in ein oder zwei Stunden ändern wird. Dann herrscht hier eine völlig andere Atmosphäre mit dem gedimmten Licht, den Farbstrahlern und der lauten, angesagten Musik. Feierabend wird Ausgehabend. Noch ist es nicht so weit. Ich streiche mir mein Kleid glatt. Der klassische Etuischnitt mit dem weichen Baumwollstoff trägt sich angenehm. Um nicht ganz so streng auszusehen, trage ich das Haar offen und habe einen Nietengürtel um die Taille geschlungen. Jetzt kann ich so etwas tragen. Vor zweieinhalb Jahren, als ich das letzte Mal hier war, hätte ich es bestimmt nicht getan. Was sehr viel Arbeit im Hotel und ein wenig Selbstdisziplin ausmachen. Dennoch, selbst jetzt habe ich kaum etwas mit den bis zur Perfektion gestylten Hungerhaken, die an der Bar reichlich zu finden sind, gemeinsam. Inzwischen fühle ich mich wohl in meinem Körper und habe akzeptiert, was ich bin und was ich nie sein werde. Zufrieden lächle ich dem Kellner entgegen, der mich knapp und freundlich nach meiner Bestellung fragt.

Ein paar Minuten später habe ich einen halb geleerten Mai Tai vor mir stehen und von Andrea fehlt noch immer jede Spur. Meine Armbanduhr zeigt an, dass es schon Viertel nach neun ist. Wir waren für neun Uhr verabredet. Sie hat mir keine Nachricht auf dem Handy hinterlassen.

Wo steckt sie nur? Ich nippe weiter an meinem Cocktail.

Mein Smartphone piept. Na endlich. Andrea schickt mir gerade Nachrichten via WhatsApp.

Sorry, sorry, Sorry!!!

Wir haben eine geplatzte Leitung in der Wohnung. Ich werde es heute nicht schaffen.

Schnell tippe ich eine Antwort.

Mach dir keine Sorgen. Wir holen das nach. Ich hoffe, alles kommt schnell wieder in Ordnung.

DAS hoffe ich auch. LG

PS: Wir holen das nach. Versprochen!!

Schöner Mist. Heute Abend wird sie nur noch beim Notdienst jemanden bekommen. Das wird teuer. Eigentlich könnte ich jetzt gehen, und etwas sagt mir, dass das eine gute Idee ist. Aber der vernünftige Teil meines Gehirns rät mir, dass ich zumindest den köstlichen Cocktail austrinken sollte.

Also ziehe ich an dem Strohhalm und lasse den süßen, seidigen Geschmack auf meiner Zunge zergehen. Als mir jemand auf die Schulter tippt, verschlucke ich mich fast. Hustend drehe ich mich um und blicke in Philip Fösters lächelndes Gesicht, einem sehr guten Freund meines sehr guten Grundes diese Bar zu meiden.

„Ella“, spricht er mich fröhlich an. „Ich hätte dich fast nicht erkannt.“

Ohne zu fragen, setzt er sich auf den leeren Barhocker neben mir.

„Hallo, Philip, schön, dich mal wieder zu sehen.“

Etwas Besseres fällt mir nicht ein, und es ist ja nicht seine Schuld, dass mich sein Auftauchen hier an ihn erinnert. Philip war früher, als wir uns noch regelmäßig sahen, immer nett zu mir gewesen und er war mir schon deshalb sympathisch, weil er nicht aus einem reichen Haus stammt und sich nicht wie ein Angeber benimmt. Ein wenig nervös fährt er sich über die blonden kurzen Haare.

„Du siehst fantastisch aus. Hast du früher auch, aber irgendwie doch anders“, versucht er lächelnd zu erklären.

„Na ja, vielleicht gehöre ich ja zu den wenigen Frauen, die mit dem Alter tatsächlich besser aussehen.“ Er erwidert mein Lächeln und nimmt einen Schluck aus dem Bier, das er mitgebracht hat.

„Sagt eine Sechsundzwanzigjährige.“ Er zieht mich auf. Der vertraute Ton lässt mich wachsam werden. Schließlich ist es Jahre her, seit wir derart miteinander geredet hatten. Wenn ich Philip ansehe, muss ich an ihn denken, und das macht mir etwas aus, auch wenn ich es nicht zugeben möchte. Nicht mal vor mir selbst.

„Hör mal, Ella.“ Seine Stimme klingt plötzlich so ernst.

„Vielleicht weißt du es ja schon, aber wenn nicht, sollte ich dich vorwarnen, weil es gut sein kann, dass du noch auf ihn triffst.“

Egal, was mir Philip sagen möchte, ich habe jetzt schon einen Knoten im Magen, und alleine die vage Vorstellung, ich müsste Jan, meinem Exfreund, begegnen, lässt sämtliche Nerven durchbrennen. Philips Gesicht vor mir verschwimmt etwas, als er weiterspricht.

„Jan hatte einen Autounfall, Ella, vor etwa einem Jahr. Es hat ihn ziemlich schlimm erwischt. Auch wenn es noch schlimmer hätte sein können. Er hat sichtbare Narben und sein Bein ist ziemlich hinüber.“

Tunnelblick. Mir wird schwarz vor Augen. Und mir wird übel.

Ich versuche noch immer zu begreifen, was Philip mir gerade gesagt hat. Doch irgendwie ergeben die Worte keinen Sinn. Jan, der gut aussehende und charmante Herzensbrecher. Jan, der gut gebaute Sportliebhaber. Jan, der mich so sehr beschädigt hat, ausgerechnet er soll verkrüppelt sein, von Narben gezeichnet?

Meine Vorstellungskraft schafft es nicht einmal ansatzweise, sich das auszumalen. Philip redet weiter auf mich ein, aber ich höre nur halb zu und verstehe lediglich bruchstückhaft, was er da von sich gibt. Mir dreht sich alles und ich habe das Gefühl hinter einer milchigen, dicken Plastikwand zu sitzen.

„… und erst das Humpeln … der arme Kerl geht kaum noch vor die Tür … kein Wunder … Monate bei seinen Alten daheim …“

Ein Teil von mir möchte Philip anschreien, möchte, dass er endlich still ist. Doch ich sitze weiter nur da, vermutlich mit leerem Gesichtsausdruck und Philip findet einfach kein Ende.

„… hat Tage gedauert, bis ich ihn überreden konnte, sich hier mit mir zu treffen für ein Feierabendbier.“

„Was?“

Meine Stimme klingt viel zu hoch und panisch. Heißt das, was ich denke, dass es heißt? Jan kommt hierher, heute Abend?

„Ich sagte, wir treffen uns heute auf ein Bier.“

Philip brüllt mich an, als würde ich ihn nicht verstehen.

„Wann?“, bringe ich gerade so hervor. Mein Magen stellt im Moment komische Dinge mit dem Cocktail an, den ich intus habe. Kurz sieht Philip auf seine Uhr und zuckt mit den Schultern. „Eigentlich sollte er schon da sein.“

Während er einen weiteren Schluck Bier nimmt, höre ich ihn beim Abstellen der Flasche murmeln: „Wenn er nicht wieder hinschmeißt.“ Fragend blicke ich ihn an. Doch Philip gibt sich Mühe, mich zu ignorieren. Kein Zweifel. Das ist Absicht.

Inzwischen pressen meine Finger das Glas in meiner Hand so fest, dass sie schmerzen. Ich werde Jan Herzog wiedersehen. Den Mann, den ich eigentlich nie wiedersehen wollte.

Werde ich ihn überhaupt noch erkennen? Philip sagte etwas von Narben, Verletzungen. Die Reste des Alkohols versuchen bei dem bloßen Gedanken daran wieder meine Kehle hochzukommen. Schweiß sammelt sich zwischen meinen Brüsten, als ich Philips große Armbanduhr betrachte, deren Zeiger immer weiter vorwärts zucken. Als die Tür aufgeht und kalter Wind einen neuen Gast mitbringt, muss ich mich fast übergeben.

„Ach … Äh … Philip. Entschuldigst du mich kurz? Ich muss mal …“ Lahm deute ich auf mein riesiges, leeres Cocktailglas und erhebe mich umständlich vom Hocker. Als meine Füße den Boden berühren, ist mein Stand alles andere als fest. Und das liegt bedauerlicherweise nicht an den hohen Schuhen oder an dem Mai Tai. Ich muss hier weg, zur Toilette, mich verstecken. Verhindern, Jan Herzog über den Weg zu laufen. Diesem Mann kann und darf ich nicht begegnen. Meine Absätze klacken hektisch auf dem Weg runter zu den Toiletten. Noch nie war ich so froh, das Wort „Damentoilette“ zu entdecken wie jetzt. Gott sei Dank. Ich bin alleine hier. Niemand muss mit ansehen, wie ich mich am Waschbeckenrand festhalte und meine Atmung auf Hochtouren läuft. Am liebsten würde ich mir eiskaltes Wasser ins Gesicht klatschen, aber dann sähe ich aus, als hätte ich sie nicht mehr alle. Ich begnüge mich damit, meine Hände mit kaltem Wasser abzuspülen, um sie mir fest in den Nacken zu pressen. Die Kälte erdet mich, bringt meine Gedankenflut einigermaßen zur Räson. Gut, genau das brauche ich jetzt. Mit geschlossenen Augen atme ich durch und ignoriere das Klopfen auf der anderen Seite der Tür. Als es lauter und drängender wird, öffne ich die Augen und sehe mir selbst im Spiegel entgegen. Überrascht stelle ich fest, dass ich ganz normal aussehe. Sieht man von dem ängstlich traurigen Blick mal ab. Ich sehe zu sehr aus wie ich, egal was Philip meint. Es gibt keine Chance, dass Jan mich nicht erkennt.

„Hey, jetzt mach mal! Wir müssen auch“, keift mich eine Frau durch die Tür an.

„Ja, gleich“, verspreche ich. Doch eigentlich möchte ich lieber hierbleiben, auch wenn das nicht geht.

Mit mulmigem Magen öffne ich die Tür und ernte einen vernichtenden Blick eines blonden Mädchens, dessen falsche, lange Nägel deutlich machen, dass mit ihr nicht zu spaßen ist. Sie schubst mich beinahe zur Seite, mustert mich abfällig und rennt in die Toilette. Eine schüchtern wirkende Brünette zuckt entschuldigend mit den Achseln.

Manche Schritte im Leben setzt man nur sehr ungern und vorsichtig, so wie ich jetzt. Im Schneckentempo steige ich die Treppe zum Lokal hoch. Oben angekommen, sehe ich mich um und erspähe Philip sofort. Auf meinem Platz, neben ihm sitzt ein großer Kerl, dessen Gesicht man nicht erkennen kann, da er ein Basecap tief ins Gesicht gezogen trägt. Er drückt sich am Ende der Bar regelrecht gegen die Wand und blickt ständig nach unten. Ist das etwa Jan?

Jan, der einen schlimmen Autounfall hatte. Jan, der mir gezeigt hat, was guter Sex ist. Jan, in den ich wahnsinnig verliebt war, ehe er mir das Herz gebrochen hat. Jan, den ich seit vier Jahren nicht gesehen habe. Schwer zu sagen. Ich habe eigentlich nur zwei Möglichkeiten: abhauen und nie wieder hierherkommen oder rübergehen und es herausfinden.

Leider gehöre ich zu jenen Menschen, die immer, wirklich immer, am Schorf kratzen müssen, bis es wieder zu bluten anfängt. Auch in diesem Moment bleibe ich mir und meiner Natur treu – dumm wie ich bin – und gehe rüber zu ihnen. Ohne auf meinen pochenden Herzschlag und meinen brennenden Magen zu hören, umrunde ich die Bar, bis ich vor einem um Entschuldigung blickenden Philip stehe, der mir die Sicht auf seinen Begleiter versperrt.

„Das ist kein guter Zeitpunkt, Ella“, versucht er mich flüsternd vorzuwarnen. Die Panik in seinen Augen bereitet mir mehr Sorge als die Bedeutung seiner Worte.

Der Typ, von dem ich glaube, dass es Jan ist, lehnt sich etwas vor. Doch mehr als sein bartbeschattetes Kinn und die Andeutung von Nase und Wangen erkenne ich nicht, auch wenn mir das, was ich sehe, vage vertraut vorkommt.

„Sehr gut siehst du aus, Ella. Richtig erwachsen. Wie das blühende Leben.“ Voller sarkastischer Bitterkeit spuckt er mir die Worte hin, als wolle er mich in aller Öffentlichkeit bloßstellen. Nur die inzwischen laute Musik verhindert, dass jemand außer uns dreien gehört hat, was er wie zu mir gesagt hat. Völlig erstarrt stehe ich da, erkenne langsam, dass es tatsächlich Jans Stimme ist, auch wenn ich mich nicht erinnern kann, jemals diesen Ton von ihm gehört zu haben.

„Ich …“, stammle ich, ohne es verhindern zu können.

„Du, was?“, richtet er sich schneidend an mich. Jan blickt mich nun direkt an und trotz der spärlichen Beleuchtung und dem Schatten seiner Mütze sehe ich die Narben auf seiner linken Gesichtshälfte. Zwei Furchen, die eine windet sich zackend von seiner Stirn die Schläfe entlang, die andere Narbe gräbt auf seiner Wange eine hellrosa Ader durch seine dunklen Bartstoppeln Richtung Kinn. Ansonsten sieht er aus wie eine wildere oder dünklere Version seines vier Jahre jüngeren Ichs. Abgesehen von dem kalten Blau seiner Augen, die absolut jeden zur Distanz auffordern. Ich schlucke, ehe ich mich gezwungen sehe, etwas zu sagen. Selbst Philip, ebenfalls verstummt, starrt mich an, als würde er meine Reaktion abwarten, ehe er wagt, noch etwas zu sagen.

„Es … Es ist schön, dich zu sehen.“

„Möchte ich wetten.“ Schnaubend schnappt Jan sich sein Bier und leert es in einem Zug. So langsam macht er mich wütend.

Als er sich zur Seite dreht, so als wäre er mit mir fertig, kocht etwas in mir über. Fahrig dränge ich mich an einem perplexen Philip vorbei und starre Jan von der Seite an.

„Was ist dein Problem?“

„Du“, antwortet er schnaubend und reibt sich über den Mund.

„Hey, wenn hier einer wütend auf den anderen sein müsste und sein gutes Benehmen vergessen darf, dann doch wohl ich!“ Schließlich hatte er mich belogen und unsere Beziehung zerstört.

„Na, dann müsste das hier“, er deutet auf sich, seine Narben und auf mich, „doch genau, das sein, was du dir erträumt hast.“

Verwirrt starre ich ihn an. Was soll das denn?

„Mal ehrlich, wie oft hast du mir den Tod gewünscht, als ich es mit uns versaut habe? Nun ja, ganz hat’s nicht gereicht, aber fast. Immerhin laufe ich ziemlich krumm und die meisten sehen mich nur ungern an … Genügt dir das?“ Wütend starrt er mich in Grund und Boden.

Philip ist die ganze Szene derart peinlich, dass er sich die Hand vors Gesicht hält. Ich kann gar nicht glauben, was er da von sich gibt. Glaubt er das wirklich? Was an mir macht ihn denn nur so wütend? Das Ganze ist absolut untypisch für den Jan, den ich kenne – wohl eher … kannte.

„Hey!“ Ich packe ihn an der Schulter. „Du spinnst, wenn du denkst, ich würde mich irgendwie über das freuen, was dir passiert ist. Das ist vollkommener Blödsinn! Es tut mir leid, ehrlich leid … Aber es gibt dir noch lange nicht das Recht, mich hier ohne guten Grund so anzufahren.“ Meine Stimme ist viel zu laut und ich habe Magenschmerzen. Vor allem jetzt, wo er mich mit seinen traurigen blauen Augen derart ansieht.

„Mein Grund ist nicht gut“, gibt er zu, „aber ich habe einen. Wenn ich dich ansehe, völlig unversehrt, sogar noch hübscher als damals, dann fühle ich mich um etwas betrogen … aber, vergiss es.“ Wieder fährt er sich über den Mund, als müsse er etwas abwischen. Vielleicht seine Bitterkeit?

„Das verstehst du ja doch nicht!“

Jan will immer noch aufgebracht aus dem leeren Glas trinken, was mir merkwürdigerweise einen Stich in die Brust versetzt. Mit aufeinandergepressten Lippen mustert er jeden Zentimeter meines Gesichts, das leere Glas fest in der Hand.

„Geh, lauf nach Hause, Ella! Und leb dein perfektes, kleines, unversehrtes Leben … Aber lass mich in Ruhe.“

Wieder dreht er sich von mir weg, als wäre er fertig mit mir. Doch dieses Mal schlage ich nicht kühn zurück wie vorhin, was mich selbst erstaunt hat. Dieses Mal steigen mir die Tränen in die Augen, die ich aufzuhalten versuche. Denn sein Schlag hat gesessen und tat verdammt weh, mehr, als ich zugeben möchte. Ich fühle mich elend, abgefertigt, von einem Mann mit Narben weggestoßen. Nicht seine Narben stören mich dabei, es sind seine Worte. So hat Jan nie mit mir gesprochen. So kenne ich ihn nicht. Was ist nur mit ihm geschehen, dass er mich, nach allem, was zwischen uns passiert ist, derart verletzen und demütigen muss?

Scham steigt in mir hoch, mitten in diesem vollen Lokal. Verstohlene Augenpaare mustern mich mit abschätzigen Blicken. Ich fühle Röte, die mir in die Wangen schießt. Noch wütender machen mich allerdings meine Tränen, die zu fließen beginnen, als er mich kurz von der Seite ansieht, ehe er auch Philips halbvolle Flasche runterkippt. Das laute Klirren der Flasche, die er auf die Theke knallt, weckt mich aus meiner Starre. Zornig wische ich mir dir Tränen von der Wange, bevor ich endlich richtig reagiere und aus dem verdammten Lokal stürme. Vorbei an vergnügten Männern und Frauen dränge ich mich so lange vor, bis meine Hände endlich die Glastür des Ausgangs aufstoßen.

Kalte Luft empfängt mich und lässt die Tränenspuren in meinem Gesicht brennen, was mich wütend macht. Ich brauche mein Handy, um mir schnell ein Taxi zu rufen. Nur weg von hier. Doch meine zitternden Finger sind nutzlos. Sie kramen in der winzigen Tasche und finden das ansonsten riesig wirkende Smartphone nicht. „Verdammt!“

Endlich ist es in meiner Hand. Die Namen und Nummern auf dem Display verschwimmen. Ich kann die richtige Nummer nicht entziffern, weil ich nicht aufhören kann, zu heulen. Dabei habe ich mir geschworen, dass ich mich nie wieder so fühlen würde – schon gar nicht seinetwegen.

Ohne zu wissen woher, spüre ich seine Anwesenheit hinter mir und drehe mich um. Jan steht da. Zerknirscht und blass sieht er mich an. Seine Schultern hängen herab. Keine Spur mehr von dem Mann, dessen Selbstvertrauen mich beinahe schon erschlagen hat. Der Moment kommt mir ewig vor. Endlich öffnet er den Mund. Ich bin nicht fähig, etwas zu sagen.

„Ella, es tut mir leid … Es liegt nicht an dir, nicht wirklich.“ Mehr als ein tadelndes Kopfschütteln bringe ich nicht zustande. Das hat vorhin noch ganz anders geklungen.

Jan kommt ein paar Schritte näher. Da ich ihn und sein Gesicht anstarre, fällt mir gar nicht auf, ob er nun hinkt oder nicht. Er stoppt mit einem kleinen Sicherheitsabstand und vergräbt die Hände in seiner Jackentasche.

„Seit dieser Sache komme ich nicht mehr mit Menschen aus meiner Vergangenheit klar, die den alten Jan kennen. Eigentlich … komme ich mit keinem mehr so richtig klar. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“

Die Art, wie Jan vor mir steht, nur ein Bein voll belastend, bitter und ehrlich, wirkt er verloren, so ganz anders als der harte, anklagende Kerl von vorhin. Ich kann es nicht erklären, doch am liebsten würde ich zu ihm gehen, diesen letzten Schritt zwischen uns überwinden und ihn fest umarmen, egal ob es ihm gefällt oder nicht. Und das, obwohl ich gerade noch seinetwegen weinen musste. Verrückt, aber es ist das, was ich will. Doch die vier Jahre zwischen uns, eine schmerzliche Trennung und das, was immer mit ihm passiert ist und ihn so verändert hat, halten mich davon ab. Ich sehe ihn an und wünsche mir, dass das Basecap nicht da wäre, weil ich ihn dann besser sehen könnte. Erstaunlicherweise bin ich es jetzt, die einen Schritt auf ihn zu macht, und die Worte, die ich zu ihm sage, sind einfach so da, ohne dass ich groß darüber nachdenken muss.

„Jan, ich werde nicht so tun, als wüsste ich, was du in den letzten Monaten durchgemacht hast. Du weißt ja auch nicht, wie es mir in den letzten Jahren so erging. Aber falls du, warum auch immer, mit jemandem reden willst … hier ist meine Nummer.“

Ich krame eine meiner Visitenkarten vom Hotel hervor und notiere meine private Handynummer auf der Rückseite. Als ich sie ihm hinhalte, zögert er und sieht mich vorsichtig überrascht an. Ich halte die Luft an und atme erst wieder aus, als er die Hand aus der Jacke nimmt, um nach der Karte zu fassen. Kurz berühren sich unsere Fingerspitzen. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, der mich ihm in die Augen sehen lässt. Sie sind immer noch unglaublich blau und das Einzige an ihm, das nicht dunkel und düster wirkt. Lahm versuche ich zu lächeln. Ich muss den Verstand verloren haben. Ganz klar.

„Du nimmst dir doch ein Taxi nach Hause, so spätnachts?“

Diese simple Frage löst eine Flut an Erinnerungen aus, die mich zu überwältigen drohen. Nun klingt er wie Jan, mein Jan, der vielleicht genau das nie gewesen ist. Dennoch löst es etwas in mir aus, diese Sorge um mich. Ihn so heute wiederzusehen, war unerträglich. Und damit meine ich weder seine Narben noch die Tatsache, dass er humpelt.

Das gefällt mir nicht. Kurz geht mir durch den Kopf, dass ich ihm entgegnen könnte, er wollte doch vorhin noch, dass ich nach Hause laufe, in mein kleines perfektes Leben. Als er mich besorgt ansieht und sogar meinen Oberarm umfasst, verschwindet der Drang so schnell, wie er gekommen ist.

„Ella? Du rufst doch ein Taxi, oder?“

„Ja, ja. Natürlich“, stammle ich.

„Gut.“ Jan wirkt ehrlich erleichtert, was mich nur noch mehr verwirrt – wie der ganze Abend eigentlich. Doch als er meine Antwort hat, steckt er die Karte ein und scheint sich wieder vor mir zu verschließen. Ich denke nicht, dass er anrufen wird. Und vielleicht ist das ja auch am besten so. Für uns beide. Ja, es ist besser so, auch weil ein Teil von mir das unbedingt will.

Ohne sich zu verabschieden, verschwindet Jan die Straße hinunter. Ich schlucke einen riesigen Kloß runter, als ich sehe, wie er das linke Bein nachzieht und es seinen Gang unregelmäßig macht. Mit trockenem Mund rufe ich beim Taxi-Ruf an und warte auf den Fahrer. Seltsamerweise geht mir in der Nacht dieses merkwürdigen Wiedersehens die Nacht unserer merkwürdigen ersten Begegnung nicht aus dem Kopf.

Bittersüß - davor & danach

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