Читать книгу KNIGGE: Über den Umgang mit Menschen - 279 Seiten - Adolph Freiherr von Knigge - Страница 4
Erster Teil A
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1.
Wir sehen die klügsten, verständigsten Menschen im
gemeinen Leben Schritte tun, wozu wir den Kopf
schütteln müssen.
Wir sehen die feinsten theoretischen Menschenkenner
das Opfer des gröbsten Betrugs werden.
Wir sehen die erfahrensten, geschicktesten Männer bei
alltäglichen Vorfällen unzweckmäßige Mittel wählen,
sehen, daß es ihnen mißlingt, auf andre zu wirken, daß
sie, mit allem Übergewichte der Vernunft, dennoch oft
von fremden Torheiten, Grillen und von dem Eigensinne
der Schwächeren abhängen, daß sie von schiefen Köpfen,
die nicht wert sind, ihre Schuhriemen aufzulösen, sich
müssen regieren und mißhandeln lassen, daß hingegen
Schwächlinge und Unmündige an Geist Dinge
durchsetzen, die der Weise kaum zu wünschen wagen
darf.
Wir sehen manchen Redlichen fast allgemein
verkannt.
Wir sehen die witzigsten, hellsten Köpfe in
Gesellschaften, wo aller Augen auf sie gerichtet waren
und jedermann begierig auf jedes Wort lauerte, das aus
ihrem Munde kommen würde, eine nicht vorteilhafte
Rolle spielen, sehen, wie sie verstummen oder lauter
gemeine Dinge sagen, indes ein andrer äußerst leerer
Mensch seine dreiundzwanzig Begriffe, die er hie und da
aufgeschnappt hat, so durcheinander zu werfen und
aufzustutzen versteht, daß er Aufmerksamkeit erregt und
selbst bei Männern von Kenntnissen für etwas gilt.
Wir sehen, daß die glänzendsten Schönheiten nicht
allenthalben gefallen, indes Personen, mit weniger äußern
Annehmlichkeiten ausgerüstet, allgemein interessieren. –
Alle diese Bemerkungen scheinen uns zu sagen, daß
die gelehrtesten Männer, wenn nicht zuweilen die
untüchtigsten zu allen Weltgeschäften, doch wenigstens
unglücklich genug sind, durch den Mangel einer gewissen
Gewandtheit zurückgesetzt zu bleiben, und daß die
Geistreichsten, von der Natur mit allen innern und
äußern Vorzügen beschenkt, oft am wenigsten zu
gefallen, zu glänzen verstehen.
Ich rede aber hier nicht von der freiwilligen
Verzichtleistung des Weisen auf die Bewunderung des
vornehmen und geringen Pöbels. Daß der Mann von
bessrer Art da in sich selbst verschlossen schweigt, wo er
nicht verstanden wird; daß der Witzige, Geistvolle in
einem Zirkel schaler Kopfe sich nicht so weit herabläßt,
den Spaßmacher zu spielen; daß der Mann von einer
gewissen Würde im Charakter zu viel Stolz hat, sein
ganzes Wesen nach jeder ihm unbedeutenden
Gesellschaft umzuformen, die Stimmung anzunehmen,
wozu die jungen Laffen seiner Vaterstadt den Ton mit
von Reisen gebracht haben, oder den grade die Laune
einer herrschenden Kokette zum Konversations-,
Kammer- und Chorton erhebt; daß es den Jüngling
besser kleidet, bescheiden, schüchtern und still, als, nach
Art der mehrsten unsrer heutigen jungen Leute, vorlaut,
selbstgenügsam und plauderhaft zu sein; daß der edle
Mann, je klüger er ist, um desto bescheidener, um desto
mißtrauischer gegen seine eigenen Kenntnisse, um desto
weniger zudringlich sein wird; oder daß, je mehr innerer,
wahrer Verdienste sich jemand bewußt ist, er um desto
weniger Kunst anwenden wird, seine vorteilhaften Seiten
hervorzukehren, so wie die wahrhafte Schönheit alle
kleinen anlockenden, unwürdigen Buhlkünste, wodurch
man sich bemerkbar zu machen sucht, verachtet, – das
alles ist wohl sehr natürlich! – Davon rede ich also nicht.
Auch nicht von der beleidigten Eitelkeit eines Mannes
voll Forderungen, der unaufhörlich eingeräuchert,
geschmeichelt und vorgezogen zu werden verlangt und,
wo das nicht geschieht, eine traurige Figur macht; nicht
von dem gekränkten Hochmute eines abgeschmackten
Pedanten, der das Maul hängen läßt, wenn er das
Unglück hat, nicht aller Orten für ein großes Licht der
Erden bekannt und als ein solches behandelt zu sein,
wenn nicht jeder mit seinem Lämpchen herzuläuft, um es
an diesem großen Lichte der Aufklärung anzuzünden.
Wenn ein steifer Professor, der gewöhnt ist, von seinem
bestaubten Dreifuße herunter, sein Kompendium in der
Hand, einem Haufen gaffender, unbärtiger Musensöhne
stundenlang hohe Weisheit vorzupredigen und dann zu
sehn, wie sogar seine platten, in jedem halben Jahre
wiederholten Späße sorgfältig nachgeschrieben werden;
wie jeder Student so ehrerbietig den Hut vor ihm abzieht,
und mancher, der nachher seinem Vaterlande Gesetze
gibt, ihm des Sonntags im Staatskleide die Aufwartung
macht; wenn ein solcher einmal die Residenz oder
irgendeine andre Stadt besucht, und das Unglück nun
will, daß man ihn dort kaum dem Namen nach kennt,
daß er in einer feinen Gesellschaft von zwanzig Personen
gänzlich übersehn oder von irgendeinem Fremden für
den Kammerdiener im Hause gehalten und Er genannt
wird, er dann ergrimmt und ein verdrossenes Gesicht
zeigt; oder wenn ein Stubengelehrter, der ganz fremd in
der Welt, ohne Erziehung und ohne Menschenkenntnis
ist, sich einmal aus dem Haufen seiner Bücher
hervorarbeitet, und er dann äußerst verlegen mit seiner
Figur, buntscheckig und altväterisch gekleidet, in seinem
vor dreißig Jahren nach der neuesten Mode verfertigten
Bräutigamsrocke dasitzt und an nichts von allem, was
gesprochen wird, Anteil nehmen, keinen Faden finden
kann, um mit anzuknüpfen, so gehört das alles nicht
hierher.
Ebensowenig rede ich von dem groben Zyniker, der
nach seinem Hottentottensysteme alle Regeln verachtet,
welche Konvenienz und gegenseitige Gefälligkeit den
Menschen im bürgerlichen Leben vorgeschrieben haben,
noch von dem Kraftgenie, das sich über Sitte, Anstand
und Vernunft hinauszusetzen einen besondern Freibrief
zu haben glaubt.
Und wenn ich sage, daß oft auch die weisesten und
klügsten Menschen in aller Welt, im Umgange und in
Erlangung äußerer Achtung, bürgerlicher und andrer
Vorteile ihres Zwecks verfehlen, ihr Glück nicht machen,
so bringe ich hier weder in Anschlag, daß ein widriges
Geschick zuweilen den Besten verfolgt, noch daß eine
unglückliche leidenschaftliche oder ungesellige Gemütsart
bei manchem die vorzüglichsten, edelsten Eigenschaften
verdunkelt.
Nein! meine Bemerkung trifft Personen, die wahrlich
allen guten Willen und treue Rechtschaffenheit mit
mannigfaltigen, recht vorzüglichen Eigenschaften und
dem eifrigen Bestreben, in der Welt fortzukommen,
eigenes und fremdes Glück zu bauen, verbinden, und die
dennoch mit diesem allen verkannt, übersehn werden, zu
gar nichts gelangen. Woher kommt das? Was ist es, das
diesen fehlt und andre haben, die, bei dem Mangel
wahrer Vorzüge, alle Stufen menschlicher, irdischer
Glückseligkeit ersteigen? – Was die Franzosen den esprit
de conduite nennen, das fehlt jenen: die Kunst des Umgangs
mit Menschen – eine Kunst, die oft der schwache Kopf,
ohne darauf zu studieren, viel besser erlauert als der
verständige, weise, witzreiche; die Kunst, sich bemerkbar,
geltend, geachtet zu machen, ohne beneidet zu werden;
sich nach den Temperamenten, Einsichten und
Neigungen der Menschen zu richten, ohne falsch zu sein;
sich ungezwungen in den Ton jeder Gesellschaft
stimmen zu können, ohne weder Eigentümlichkeit des
Charakters zu verlieren, noch sich zu niedriger
Schmeichelei herabzulassen. Der, welchen nicht die
Natur schon mit dieser glücklichen Anlage hat geboren
werden lassen, erwerbe sich Studium der Menschen, eine
gewisse Geschmeidigkeit, Geselligkeit, Nachgiebigkeit,
Duldung, zu rechter Zeit Verleugnung, Gewalt über
heftige Leidenschaften, Wachsamkeit auf sich selber und
Heiterkeit des immer gleich gestimmten Gemüts; und er
wird sich jene Kunst zu eigen machen; doch hüte man
sich, dieselbe zu verwechseln mit der schändlichen,
niedrigen Gefälligkeit des verworfenen Sklaven, der sich
von jedem mißbrauchen läßt, sich jedem preisgibt; um
eine Mahlzeit zu gewinnen, dem Schurken huldigt, und
um eine Bedienung zu erhalten, zum Unrechte schweigt,
zum Betruge die Hände bietet und die Dummheit
vergöttert!
Indem ich aber von jenem esprit de conduite rede, der
uns leiten muß, bei unserm Umgange mit Menschen aller
Gattung, so will ich nicht etwa ein Komplimentierbuch
schreiben, sondern einige Resultate aus den Erfahrungen
ziehn, die ich gesammelt habe, während einer nicht
kurzen Reihe von Jahren, in welchen ich mich unter
Menschen aller Arten und Stände umhertreiben lassen
und oft in der Stille beobachtet habe. – Kein
vollständiges System, aber Bruchstücke, vielleicht nicht
zu verwerfende Materialien, Stoff zu weiterm
Nachdenken.
2.
In keinem Lande in Europa ist es vielleicht so schwer, im
Umgange mit Menschen aus allen Klassen, Gegenden
und Ständen allgemeinen Beifall einzuernten, in jedem
dieser Zirkel wie zu Hause zu sein, ohne Zwang, ohne
Falschheit, ohne sich verdächtig zu machen und ohne
selbst dabei zu leiden, auf den Fürsten wie auf den
Edelmann und Bürger, auf den Kaufmann wie auf den
Geistlichen nach Gefallen zu wirken, als in unserm
deutschen Vaterlande; denn nirgends vielleicht herrscht
zu gleicher Zeit eine so große Mannigfaltigkeit des
Konversationstons, der Erziehungsart, der Religions- und
andrer Meinungen, eine so große Verschiedenheit der
Gegenstände, welche die Aufmerksamkeit der einzelnen
Volksklassen in den einzelnen Provinzen beschäftigen.
Dies rührt her von der Mannigfaltigkeit des Interesses
der deutschen Staaten gegeneinander und gegen
auswärtige, von dem Unterschiede der Verbindungen mit
diesem oder jenem auswärtigen Volke und von dem sehr
merklichen Abstande der Klassen in Deutschland
voneinander, zwischen denen verjährtes Vorurteil,
Erziehung und zum Teil auch Staatsverfassung eine viel
bestimmtere Grenzlinie gezogen haben als in andern
Ländern. Wo hat mehr als in Deutschland die Idee von
sechzehn Ahnen des Adels wesentlichen moralischen und
politischen Einfluß auf Denkungsart und Bildung? Wo
greift weniger allgemein als bei uns die Kaufmannschaft
in die übrigen Klassen ein? (Soll ich die Reichsstädte
ausnehmen?) Wo macht mehr als hier das Korps der
Hofleute eine ganz eigene Gattung aus, in welche hinein,
so wie zu der Person der mehrsten Fürsten, nur Leute
von gewisser Geburt und gewissem Range sich
hinzudrängen können? Wo durchkreuzen sich mehr
Arten von Interesse? – Und das alles wird nicht durch
gewisse, dem ganzen Volke merkbare allgemeine
Nationalbedürfnisse, Volksangelegenheiten,
Vaterlandsnutzen konzentriert, wie in England, wo
Aufrechterhaltung der Konstitution, Freiheit und Glück
der Nation, Flor des Vaterlandes, der Punkt ist, in
welchem sich das Streben, Dichten und Trachten so
mancher originellen Charaktere vereinigt, noch wie in fast
allen übrigen europäischen Ländern, die entweder unter
einem einzigen Oberhaupte stehen oder durch ein
einziges, allen Gliedern wichtiges Interesse beherrscht
werden, wie die Schweiz, oder in welchen eine allein
herrschende Religion oder ein tyrannisches Klima, über
Denkungsart, Ton und Stimmung allgemein
überwiegende Gewalt hat.
Daß im ganzen unsre deutsche Verfassung, so
zusammengesetzt sie auch ist, sehr große, wesentliche
Vorzüge gewährt, das leidet keinen Zweifel; allein es ist
nicht weniger gewiß, daß dieselbe den mächtigsten
Einfluß auf die Verschiedenheit der Stimmung in den
einzelnen Provinzen und Staaten und unter den
mancherlei voneinander abgesonderten Ständen hat.
Eben daher kommt es, daß unsre Schauspieler,
Schauspieldichter und Romanschreiber ein viel
schwereres Studium haben, wenn sie alle diese Nuancen
kennen, bearbeiten und dennoch einen Anstrich von
originellem Nationalcharakter wollen durchschimmern
lassen; viel schwerer als in Frankreich, wo die Sitten der
verschiedenen Stände und einzelnen Provinzen nicht so
sehr gegeneinander abstechen. Eben daher kommt es,
daß man über wenige unsrer literarischen Produkte ein
allgemein einstimmig beifälliges Volksurteil hört, daß
überhaupt so wenig unsrer Werke als
Nationalmonumente auf die Nachwelt übergehn, und
eben daher endlich kommt es, daß es so schwer ist, mit
Menschen aus allen Ständen und Gegenden in
Deutschland umzugehn und bei allen gleichwohl gelitten
zu sein, auf alle gleich vorteilhaft zu wirken.
Der treuherzige, naive, zuweilen ein wenig bäuerische,
materielle Bayer ist äußerst verlegen, wenn er auf alle
verbindlichen, artigen Dinge antworten soll, die ihm der
feine Sachse in einem Atem entgegenschickt; dem
schwerfälligen Westfälinger ist alles hebräisch, was ihm
der Österreicher in seiner ihm gänzlich fremden Mundart
vorpoltert; die zuvorkommende Höflichkeit und
Geschmeidigkeit des durch französische Nachbarschaft
polierten Rheinländers würde man in manchen Städten
von Niedersachsen für Zudringlichkeit, für
Niederträchtigkeit halten! Man glaubt da, ein Mann, der
so äußerst untertänig und nachgiebig ist, müsse
gefährliche und niedrige Absichten haben oder müsse
falsch oder sehr arm und hilfsbedürftig sein, und oft ist
dort ein wenig zu weit getriebene äußere Höflichkeit
hinlänglich, den Mann, der sich am Rheine dadurch
allgemeine Liebe erwerben würde, an der Leine
verächtlich zu machen. Dagegen wird aber auch der nicht
kältere, nur weniger leichtsinnige, weniger
zuversichtliche, nicht so im Gedränge von Fremden,
noch auf Reisen an Leib und Seele abgeschliffene,
geglättete, sondern ernsthaftere Niedersachse, der bei der
ersten Bekanntschaft nicht sehr zuvorkommend, sondern
wohl gar ein wenig verlegen ist, an einem Hofe im Reiche
vielleicht für einen schüchternen Menschen ohne
Lebensart, ohne Welt angesehn werden.
Sich nun also nach Ort, Zeit und Umständen
umzuformen und von verjährten Gewohnheiten sich
loszumachen, das erfordert Studium und Kunst.
In Gegenden, aus welchen weder Unzufriedenheit mit
dem Vaterlande, noch Müßiggang, noch Verderbnis der
Sitten, noch unbestimmte, rastlose Tätigkeit, noch
Anekdotenjagd, noch vorwitzige Neugier die Menschen
scharenweise emigrieren macht und jeden Pinsel zum
Reisen und Wandern treibt, sind die Einwohner mit dem,
was es daheim gibt, so herzlich wohl zufrieden, daß sie
nichts Größeres kennen, nichts Größeres kennen mögen,
als was sie in ihrem Vaterlande von Jugend auf
betrachtet, schon als Knaben bewundert oder von ihren
Verwandten und Freunden haben stiften, bauen, anlegen
gesehn. Ihnen sind die kleinen jährlichen oder andern
Feste immer neu, immer gleich glänzend und
merkwürdig. – Glückliche Unwissenheit! nicht zu
vertauschen mit dem Ekel, welcher den Mann anwandelt,
der in seinem Leben so gar viel allerorten erlebt, erfahren,
gesehn, bauen und zerstören gesehn hat und zuletzt an
nichts mehr Freude finden, nichts mehr bewundern kann,
alles mit Tadel und Langerweile anblickt! Ich reiste vor
einigen Jahren im rauhesten Wetter in notwendigen
Geschäften vierzig Meilen weit von *** nach ***. Es
fügte sich, daß in letztrer Stadt am Tage meiner Ankunft
ein General mit den dabei allerorten mehr oder weniger
üblichen Feierlichkeiten sollte begraben werden. Die
ganze Stadt, die dergleichen selten gesehn, war vom
frühen Morgen an in Bewegung; alles sprach von dem
Begräbnisse des Generals. Ein Offizier von meiner alten
Bekanntschaft begegnete mir im Gasthofe: »Ei! wo
kommen Sie her?« rief er; ich sagte es ihm. Der gute
Mann vergaß in dem Augenblicke, daß *** vierzig Meilen
weit läge und daß eine solche Feierlichkeit mir wohl
schwerlich in so schlechtem Wetter eine so weite Reise
wert sein könnte: »Oh!« sagte er, »Sie kommen gewiß, um
unsern General begraben zu sehn; ja! es wird sich schön
ausnehmen.« – Nun! zu so etwas kann ich kaum lächeln;
möchten alle Menschen das am schönsten finden, was sie
haben! Doch gestehe ich auch, daß dies oft zu Intoleranz
führt; daß die Anhänglichkeit an einheimische Sitten
zuweilen ungerecht, ungeschliffen gegen Menschen
macht, die sich durch kleine Verschiedenheiten, wäre es
auch nur in Anstand, Kleidung, Ton, Mundart oder
Gebärden, unschuldigerweise auszeichnen.
In Reichsstädten ist diese Anhänglichkeit an väterliche
Sitten, Kleidertrachten u. dgl. sehr auffallend und hat
nicht selten Einfluß auf Regierungsverfassung,
Religionsverträglichkeit und andre wichtige Dinge. So
legen z.B. alle calvinistischen Kaufleute in *** ihre
Gärten nach holländischem Geschmacke an; nun hörte
ich einstens einen solchen von einem andern Negotianten
dieses Bekenntnisses, der aber in seinem Garten einige
der reformierten Gemeinde auffallende Veränderungen
vorgenommen hatte, sagen: Der Mann habe in seinem
Garten allerlei lutherische Streiche gemacht. – Daß ich
mich nicht von meinem Zwecke entferne! Ich meine, die
Verschiedenheit der Sitten und der Stimmung in den
deutschen Staaten macht es sehr schwer, außer seiner
vaterländischen Gegend, in fremden Provinzen, in
Gesellschaften zu gefallen, Freundschaften zu stiften,
Geschmack am Umgang zu finden, andre für sich
einzunehmen und auf andre zu wirken.
Aber diese Schwierigkeiten werden in Deutschland
noch größer unter Personen von verschiedenen Ständen
und Erziehungen. Wer wird nicht schon mehrmals in
seinem Leben die Erfahrung gemacht haben, in welche
Verlegenheit man kommen kann, und wie groß die
Langeweile ist, die uns befallt oder die wir andern
verursachen, wenn wir in eine Gesellschaft geraten, deren
Ton uns gänzlich fremd ist, wo alle auch noch so warmen
Gespräche an unserm Herzen vorbeigleiten, wo die Form
der ganzen Unterhaltung, alle Gebräuche und äußern
Manieren der Anwesenden weit außer unserm Systeme
liegen, nicht zu unsern Gewohnheiten passen, wo die
Minuten uns Tage scheinen, wo Zwang und
Verwünschung unsrer peinlichen Lage auf unsrer Stirne
gemalt stehen.
Man sehe nur einen ehrlichen Landedelmann aus
treuer Lehnspflicht einmal nach langen Jahren wieder an
dem Hofe seines Landesherrn erscheinen! Er hat sich
schon frühmorgens aufs beste ausgeschmückt und sich
die sonst gewöhnte liebe Pfeife Tabak versagt, um nicht
nach Rauch zu riechen. Auf den Gassen der Stadt war es
noch öde und still, als er schon in seinem Wirtshause
umherwandelte und alles in Bewegung setzte, um ihm
beizustehn bei dem beschwerlichen Geschäfte, sich
hofmäßig auszuschmücken. Jetzt ist er endlich fertig; sein
gekräuseltes und gepudertes Haar, das außerdem selten
ohne Nachtmütze auftritt, hat er der freien Luft
preisgegeben, und leidet er nun höllische
Kopfschmerzen; die seidenen Strümpfe ersetzen bei
weitem nicht, was die heute zurückgelegten Stiefel ihm
sonst gewähren; ihn friert gewaltig an den ihm nackend
scheinenden Beinen. Der besetzte Rock ist in den
Schultern nicht so bequem als sein treuer, alter, warmer
Überrock; der Degen gerät jeden Augenblick zwischen
die Beine; er weiß nicht, was er mit dem kleinen Hütchen
in der Hand anfangen soll; das Stehn wird ihm
unerträglich sauer. – In dieser grausamen Verfassung
erscheint er im Vorzimmer. Um ihn her wimmelt ein
Haufen Hofschranzen herum, die, obgleich sie wahrlich
sämtlich vielleicht nicht so viel wert als dieser ehrliche,
nützliche Mann und im Grunde ihrer Herzen nicht
weniger als er von Langerweile geplagt sind, dennoch mit
Naserümpfen und Verachtung hier, wo sie in ihrem
Elemente zu sein scheinen, ihn ansehen. Er fühlt jeden
Spott, übersieht sie und muß sich dennoch von ihnen
demütigen lassen. Sie nähern sich ihm, tun mit
zerstreuter, wichtiger Miene einige Fragen an ihn, Fragen,
an denen das Herz keinen Anteil nimmt und worauf sie
auch die Antworten nicht abwarten. Er glaubt einen
unter ihnen zu entdecken, der ihm teilnehmender scheint
als die übrigen; mit diesem fängt er ein Gespräch von
Dingen an, die ihm, vielleicht auch dem Vaterlande,
wichtig sind: von seiner häuslichen Lage, von dem
Wohlstande der Provinz, in welcher er lebt; er redet mit
Wärme; Redlichkeit atmet alles, was er sagt – aber bald
sieht er, wie sehr er sich in seiner Hoffnung getäuscht
hat; das Männchen hört ihm mit halbem Ohre zu,
erwidert irgendein paar unbedeutende Silben zur Antwort
und läßt dann den braven Hausvater da stehn. Nun
nähert er sich einem Zirkel von Leuten, die mit Interesse
und Lebhaftigkeit zu reden scheinen; an diesem
Gespräche wünscht er teilzunehmen; aber alles, was er
hört, Gegenstand, Sprache, Ausdruck, Wendung, alles ist
ihm fremd. In halb deutschen, halb französischen
Worten wird hier eine Sache abgehandelt, auf welche er
nie seine Aufmerksamkeit geschärft, von welcher er nie
geglaubt hat, daß es möglich wäre, deutsche Männer
könnten sich damit beschäftigen. Seine Verlegenheit,
seine Ungeduld steigt mit jedem Augenblicke, bis er
endlich das verwünschte Schloß weit hinter sich sieht.
Und nun, den Fall umgekehrt, lasse man einen sonst
edlen Hofmann einmal hinaus auf das Land in die
Gesellschaft biedrer Beamter und Provinzial-Edelleute
geraten! Hier herrschen ungezwungene Fröhlichkeit,
Offenherzigkeit, Freiheit; man redet von dem, was am
nächsten den Landmann interessiert; man wiegt die
Worte nicht ab; der Scherz ist naiv, gewürzt, aber nicht
zugespitzt, nicht gekünstelt. Unser Hofmann versucht es,
sich in diese Manier hineinzuarbeiten; er mischt sich in
die Gespräche; aber der Ausdruck der Offenheit und
Treuherzigkeit fehlt; was bei jenen naiv war, wird bei ihm
beleidigend. Er fühlt dies und will die Leute in seinen
Ton stimmen; in der Stadt gilt er für einen angenehmen
Gesellschafter; er spannt alle Segel auf, um auch hier zu
glänzen; allein die kleinen Anekdoten, die feinen Züge,
worauf er anspielt, sind hier gänzlich unbekannt, gehen
verloren. Man findet ihn medisant, empfindet ihn als
Lästerer, Verleumder, da in der Stadt niemand ihn einer
Verleumdung beschuldigt; seine Komplimente, die er
wahrlich gut meint, hält man für Falschheit; die
Süßigkeiten, die er den Frauenzimmern sagt und die nur
höflich und verbindlich sein sollen, betrachtet man als
Spott. – So groß ist die Verschiedenheit des Tons unter
zweierlei Klassen von Menschen! –
Ein Professor, der in der literarischen Welt eine nicht
gemeine Rolle spielt, meint in seiner gelehrten Einfalt, die
Universität, auf welcher er lebt, sei der Mittelpunkt aller
Wichtigkeit, und das Fach, in welchem er sich Kenntnisse
erworben, die einzige dem Menschen nützliche, wahrer
Anstrengung allein werte Wissenschaft. Er nennt jeden,
der sich darauf nicht gelegt hat, verächtlicherweise einen
Belletristen; einer Dame, die bei ihrer Durchreise den
berühmten Mann kennenzulernen wünscht und ihn
desfalls besucht, schenkt er seine neue, in lateinischer
Sprache geschriebene Dissertation, wovon sie nicht ein
Wort versteht; er unterhält die Gesellschaft, welche sich
darauf gefreut hatte, ihn recht zu genießen, bei der
Abendtafel mit Zergliederung des neuen akademischen
Kreditedikts, oder, wenn der Wein dem guten Manne
jovialische Laune gibt, mit Erzählung lustiger Schwänke
aus seinen Studentenjahren.
Einst speisete ich mit dem Benediktiner-Prälaten aus
I*** bei Hofe in H***; man hatte dem dicken
hochwürdigen Herrn den Ehrenplatz neben Ihrer Hoheit
der Fürstin gegeben; vor ihm lag ein großer Ragoutlöffel
zum Vorlegen; er glaubte aber, dieser größere Löffel sei,
ihm zur besondern Ehre, zu seinem Gebrauche
dahingelegt, und um zu zeigen, daß er wohl wisse, was
die Höflichkeit erfordert, bat er die Prinzessin ehrerbietig,
sie möchte doch statt seiner sich des Löffels bedienen,
der freilich viel zu groß war, um in ihr kleines Mäulchen
zu passen.
In welcher Verlegenheit ist zuweilen ein Mann, der
nicht viel Journale und neurere Modeschriften liest, wenn
er in eine Gesellschaft von schöngeisterischen Herrn und
Damen gerät!
Gleichsam wie verraten und verkauft scheint ein
sogenannter Profaner, wenn er sich unter einem Haufen
Mitglieder einer geheimen Verbindung befindet.
Freilich kann nichts ungesitteter, den wahren
Begriffen einer feinen Lebensart mehr entgegen sein, als
wenn eine Anzahl Menschen, die sich auf diese Art
untereinander verstehen, einem Fremden, der gutmütig
unter sie tritt, um an den Freuden der Geselligkeit
teilzunehmen, durch ununterbrochene Lenkung des
Gesprächs auf Gegenstände, wovon dieser gar nichts
versteht, jeden Genuß der Unterredung rauben. Auf diese
Art habe ich zuweilen in meiner ersten Jugend in
Familienzirkeln, wo die Unterhaltung beständig mit
Anspielungen auf mir gänzlich unbekannte Anekdoten
durchflochten und durch gewisse mir fremde
Redensarten und Bonmots, womit ich gar keinen Begriff
verbinden konnte, gewürzt war, tötende Langeweile
gehabt. Man sollte wohl mehr Rücksicht nehmen; allein
selten sind ganze Gesellschaften so billig, sich nach
einzelnen zu richten; auch läßt sich das nicht immer mit
Recht fordern; folglich ist es wichtig für jeden, der in der
Welt mit Menschen leben will, die Kunst zu studieren,
sich nach Sitten, Ton und Stimmung andrer zu fügen.
3.
Über diese Kunst will ich etwas sagen. – Aber habe ich
denn auch wohl Beruf, ein Buch über den esprit de
conduite zu schreiben, ich, der ich in meinem Leben
vielleicht sehr wenig von diesem Geiste gezeigt habe?
Ziemt es mir, Menschenkenntnis auszukramen, da ich so
oft ein Opfer der unvorsichtigsten, einem Neulinge kaum
zu verzeihenden Hingebung gewesen hin? Wird man die
Kunst des Umgangs von einem Manne lernen wollen, der
beinahe von allem menschlichen Umgange abgesondert
lebt? – Lasset doch sehn, meine Freunde! was sich darauf
antworten läßt!
Habe ich widrige Erfahrungen gemacht, die mich von
meiner eigenen Ungeschicklichkeit überzeugt haben –
desto besser! Wer kann so gut vor der Gefahr warnen, als
der, welcher darin gesteckt hat? Haben Temperament
und Weichlichkeit (oder darf ich es nicht Fühlbarkeit
eines so gern sich anschließenden Herzens nennen?),
haben Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft, nach
Gelegenheit, andern zu dienen und sympathische
Empfindungen zu erregen, mich oft unvorsichtig handeln
gemacht, oft die kalkulierende Vernunft weit
zurückgelassen; so war es wahrlich nicht Blödsinnigkeit,
Kurzsichtigkeit, Unbekanntschaft mit Menschen, was
mich irreleitete, sondern Bedürfnis, zu lieben und geliebt
zu werden, Verlangen, tätig zu sein, zum Guten zu
wirken. Übrigens werden vielleicht wenig Menschen in
einem so kurzen Zeitraume in so manche sonderbare
Verhältnisse und Verbindungen mit andern Menschen
aller Art geraten, als ich seit ungefähr zwanzig Jahren;
und da hat man denn schon Gelegenheit, wenn man
nicht ganz von der Natur und Erziehung verwahrlost ist,
Bemerkungen zu machen, und vor Gefahren zu warnen,
die man selbst nicht hat vermeiden können. Daß ich aber
jetzt einsam und abgezogen lebe, geschieht weder aus
Menschenhaß noch Blödigkeit; ich habe sehr wichtige
Gründe dazu; allein diese hier weitläufig zu entwickeln,
das hieße zu viel von mir selbst reden, da ich ohnehin
noch, zum Schlusse dieser Einleitung, etwas über meine
eigenen Erfahrungen werde sagen müssen, bevor ich zum
Zwecke komme. – Also nur noch dieses:
4.
Ich trat als ein sehr junger Mensch, beinahe noch als ein
Kind, schon in die große Welt und auf den Schauplatz
des Hofes. Mein Temperament war lebhaft, unruhig,
bewegsam, mein Blut warm; die Keime zu mancher
heftigen Leidenschaft lagen in mir verborgen; ich war in
der ersten Erziehung ein wenig verzärtelt und durch
große Aufmerksamkeit, deren man meine kleine Person
früh gewürdigt hatte, gewöhnt worden, sehr viel
Rücksichten von andern Leuten zu fordern. In einem
freien Vaterlande auf gewachsen, wo Schmeichelei,
Verstellung und ein gewisses kriechendes Wesen nicht
sehr zu Hause sind, hatte man mich freilich auch nicht zu
jener Geschmeidigkeit vorbereitet, deren ich bedurfte,
um, unter mir ganz fremden Leuten, in despotischen
Staaten große Fortschritte zu machen; auch ist der
theoretische Unterricht in wahrer Weltklugheit bei der
Jugend teils selten mit Erfolge, teils nicht immer ohne
Gefahr zu erteilen; eigene Erfahrung muß da in der Folge
das Beste tun. Diese Lektionen, wenn man das Glück hat,
wohlfeil daran zu kommen, sind von der heilsamsten
Wirkung und prägen sich tief ein. Noch erinnere ich mich
einer kleinen Szene von der Art, die mich auf eine
Zeitlang vorsichtig machte: Ich saß in C*** in der
italienischen Oper, in der herrschaftlichen Loge; ich war
früher als der Hof gekommen, weil ich mittags nicht auf
dem Schlosse, sondern in der Stadt zu Gaste gespeist
hatte; noch waren wenig Menschen da; in der ganzen
Reihe des ersten Rangs saß nur der einzige
Landkommandeur, Graf J***, ein würdiger Greis. Er
hatte, wie es scheint, auch darauf gerechnet, daß es schon
später wäre, als es wirklich war; weil er nun Langeweile
hatte und mich gleichfalls einsam da sitzen sah, so trat er
zu mir herein und fing eine Unterredung mit mir an. Er
schien sehr zufrieden mit dem, was ich ihm über
verschiedene Gegenstände, von denen ich einige
Kenntnis besaß, sagte; der Greis wurde immer
freundlicher und herablassender, und dies kitzelte mich
so sehr, daß ich darauf allerlei Seitensprünge in meinem
Gespräche machte und zuletzt ein wenig medisant wurde.
Endlich entwischte mir eine mir gegenwärtig nicht mehr
erinnerliche grobe Unvorsichtigkeit im Reden; der Graf
sah mir ernsthaft in das Gesicht, und ohne weiter ein
Wort zu verlieren, ließ er mich stehn und ging zurück in
seine Loge. Ich fühlte die ganze Stärke dieses Verweises,
aber die Arzenei half nicht lange. Meine Lebhaftigkeit
verleitete mich zu großen Inkonsequenzen; ich übereilte
alles, tat immer zu viel oder zu wenig, kam stets zu früh
oder zu spät, weil ich immer entweder eine Torheit
beging oder eine andere gutzumachen hatte. Daher
kamen unendliche Widersprüche in meinen Handlungen,
und ich verfehlte fast bei allen Gelegenheiten des
Zwecks, weil ich keinen einfachen Plan verfolgte. Zuerst
war ich zu sorglos, zu offen, gab mich zu unvorsichtig
hin und schadete mir dadurch; alsdann nahm ich mir vor,
ein feiner Hofmann zu werden; mein Betragen wurde
gekünstelt, und nun trauten mir die Bessern nicht; ich
war zu geschmeidig und verlor dadurch äußere Achtung
und innere Würde, Selbständigkeit und Ansehn. Erbittert
gegen mich und andre riß ich mich dann los und wurde
bizarr. Dies erregte Aufsehn; die Menschen suchten mich
auf, wie sie alles Sonderbare aufsuchen. Dadurch aber
erwachte mein Trieb zur Geselligkeit wieder; ich näherte
mich aufs neue, lenkte wieder ein, und nun verschwand
der Nimbus, den nur meine Abgezogenheit von der Welt
um mich her gezogen hatte. In einer andern Periode
spottete ich der Torheiten, zuweilen nicht ohne Witz;
man fürchtete mich, aber man liebte mich nicht; dies
schmerzte mich; um das wieder gutzumachen, zeigte ich
mich von der unschädlichen Seite, entfaltete mein
liebevolles, wohlwollendes Herz, unfähig zu schaden und
zu verfolgen – und die Wirkung davon war, daß
jedermann, der noch einen Rest von Groll auf mich oder
irgendeinen lustigen Einfall von mir auf seine Rechnung
geschrieben hatte, mir jetzt auf der Nase spielte, sobald er
sah, daß ich nur mit Rapieren und nicht mit Schwertern
focht, daß meine Waffen nicht zum Morde geschliffen
waren. Oder wenn meine satirische Laune durch den
Beifall lustiger Gesellschafter aufgeweckt wurde, hechelte
ich große und kleine Toren durch; die Spaßvogel lachten
dann; aber die Weisern schüttelten die Köpfe und
wurden kalt gegen mich. Um zu zeigen, wie wenig
bösartig meine Laune wäre, hörte ich auf zu medisieren
und entschuldigte alle Fehler, und nun hielten einige
mich für einen Pinsel, andre für einen Heuchler. Wählte
ich mir meinen Umgang unter den ausgesuchtesten,
aufgeklärtesten Männern, so erwartete ich vergebens
Schutz von dem am Ruder stehenden Dummkopf; gab
ich mich elenden Leuten preis, so wurde ich mit diesen in
eine Klasse gesetzt. Menschen ohne Erziehung, von
niederm Stande mißbrauchten mich, wenn ich mich
ihnen zu sehr näherte; mit Vornehmern verdarb ich es,
sobald sie meine Eitelkeit beleidigten. Bald ließ ich zu viel
Übergewicht den Dummen fühlen und wurde verfolgt;
bald war ich zu bescheiden und wurde übersehn. Bald
richtete ich mich nach den Sitten der Leute, nach dem
Ton aller unbedeutenden Gesellschaften, in welche ich
lief, verlor goldene Zeit, Achtung der Weisen und
Zufriedenheit mit mir selber; dann wurde ich zu einfach
und spielte eine schiefe Rolle, da, wo ich hätte glänzen
können und sollen, durch Mangel an Zuversicht zu mir
selber. Zu einer Zeit ging ich zu selten aus; man hielt
mich für stolz oder menschenscheu; zu einer andern
zeigte ich mich überall und wurde ein Alltagsgesicht. In
den ersten Jünglingsjahren gab ich mich unbedachtsam
jedem ausschließlich, einzeln und ganz hin, der sich
meinen Freund nannte und mir einige Zuneigung bewies,
wurde oft schändlich betrogen und in den süßesten
Erwartungen getäuscht; nachher war ich jedermanns
Freund, bereit jedem zu dienen, und dann schloß sich
niemand mit ganzer Seele an mich, weil niemand mit dem
kleinen, in so viel Partikeln geteilten Stückchen Herzen
vorliebnehmen wollte. Wenn ich zu viel erwartete, wurde
ich getäuscht; wenn ich ohne allen Glauben an Freue und
Redlichkeit unter den Menschen umherrannte, hatte ich
gar keinen Genuß, nahm an gar nichts teil. Nie aber
verbarg ich meine schwachen Seiten so sorgfältig, als ich
hätte tun sollen. – Und so vergingen dann die Jahre, in
welchen ich hätte mein Glück machen können, wie man
das gewöhnlich nennt. Jetzt, da ich die Menschen besser
kenne, da Erfahrung mir die Augen geöffnet, mich
vorsichtig gemacht und vielleicht die Kunst gelehrt hat,
auf andre zu wirken, jetzt ist es zu spät für mich, diese
Wissenschaft in Anwendung zu bringen. Mein Rücken
krümmt sich mit Mühe zu Reverenzen; ich habe nicht
viel unnütze Zeit mehr zu verschwenden, die ich
preisgeben könnte; das Wenige, was ich noch in dem
Reste meines Lebens auf solchen Wegen erlangen
konnte, lohnt die Mühe und Anstrengung nicht, die mich
das kosten würde, und es ziemt dem Mann, dessen
Grundsätze Alter und Erfahrung befestigt haben,
ebensowenig, jetzt erst anzufangen, den Geschmeidigen
wie den Stutzer zu spielen. – Es ist zu spät, sage ich, mit
der Ausübung anzuheben, aber nicht zu spät, Jünglingen
zu zeigen, welchen Weg sie wandeln müssen – und so
lasset uns denn den Versuch machen und der Sache
näherrücken!
Erstes Kapitel
Allgemeine Bemerkungen und Vorschriften über den
Umgang mit Menschen
1.
Jeder Mensch gilt in dieser Welt nur so viel, als wozu er
sich selbst macht. Das ist ein goldener Spruch, ein reiches
Thema zu einem Folianten über den esprit de conduite
und über die Mittel, in der Welt seinen Zweck zu
erlangen; ein Satz, dessen Wahrheit auf die Erfahrung
aller Zeitalter gestützt ist. Diese Erfahrung lehrt den
Abenteurer und Großsprecher, sich bei dem Haufen für
einen Mann von Wichtigkeit auszugeben, von seinen
Verbindungen mit Fürsten und Staatsmännern, mit
Männern, welche nicht einmal von seiner Existenz
wissen, in einem Tone zu reden, der ihm, wo nichts
mehr, doch wenigstens manche freie Mahlzeit und den
Zutritt in den ersten Häusern erwirbt. Ich habe einen
Menschen gekannt, der auf diese Art von seiner
Vertraulichkeit mit dem Kaiser Joseph und dem Fürsten
Kaunitz redete, obgleich ich ganz gewiß wußte, daß diese
ihn kaum dem Namen nach, und zwar als einen
unruhigen Kopf und Pasquillanten kannten. Indessen
hatte er hierdurch, da niemand genauer nachfragte, sich
auf eine kurze Zeit in ein solches Ansehn gesetzt, daß
Leute, die bei des Kaisers Majestät etwas zu suchen
hatten, sich an ihn wendeten. Dann schrieb er auf so
unverschämte Art an irgendeinen Großen in Wien und
sprach in diesem Briefe von seinen übrigen vornehmen
Freunden daselbst, daß er zwar nicht Erlangung seines
Zwecks, aber doch manche höfliche Antwort erschlich,
mit welcher er dann weiter wucherte.
Diese Erfahrung macht den frechen Halbgelehrten so
dreist, über Dinge zu entscheiden, wovon er nicht früher
als eine Stunde vorher das erste Wort gelesen oder gehört
hat, aber so zu entscheiden, daß selbst der anwesende
bescheidene Literator es nicht wagt, zu widersprechen,
noch Fragen zu tun, die des Schwätzers Fahrzeug aufs
Trockene werfen könnten.
Diese Erfahrung ist es, durch welche der
empordringende Dummkopf sich zu den ersten Stellen
im Staat hinaufarbeitet, die verdienstvollsten Männer zu
Boden tritt und niemand findet, der ihn in seine
Schranken zurückwiese.
Sie ist es, durch welche sich die unbrauchbarsten,
schiefsten Genies, Menschen ohne Talent und
Kenntnisse, Plusmacher und Windbeutel bei den Großen
der Erde unentbehrlich zu machen verstehen.
Sie ist es, die größtenteils den Ruf von Gelehrten,
Musikern und Malern bestimmt.
Auf diese Erfahrung gestützt, fordert der fremde
Künstler für ein Stück hundert Louisdor, das der
einheimische, zehnfach besser gearbeitet, um fünfzig
Taler verkaufen würde; allein man reißt sich um des
Ausländers Werke; er kann nicht so viel fertig machen,
als von ihm gefordert wird, und am Ende läßt er bei dem
Einheimischen arbeiten und verkauft das für
ultramontanische Ware.
Auf diese Erfahrung gestützt, erschleicht sich der
Schriftsteller eine vorteilhafte Rezension, wenn er in der
Vorrede zu dem zweiten Teile seines langweiligen Buchs
mit der schamlosesten Frechheit von dem Beifalle redet,
womit Kenner und Gelehrte, deren Freundschaft er sich
rühmt, den ersten Teil beehrt haben.
Diese Erfahrung gibt dem vornehmen Bankerottierer,
der Geld borgen will und nie wieder bezahlen kann, den
Mut, das Anlehn in solchen Ausdrücken zu fordern, daß
der reiche Wucherer es für Ehre hält, sich von ihm
betrügen zu lassen.
Fast alle Arten von Bitten um Schutz und
Beförderung, die in diesem Tone vorgetragen werden,
finden Eingang und werden nicht abgeschlagen,
dahingegen Verachtung, Zurücksetzung und nicht erfüllte
billige Wünsche fast immer der Preis des bescheidenen,
furchtsamen Klienten sind.
Diese Erfahrung lehrt den Diener, sich bei seinem
Herrn, und den, welcher Wohltaten empfangen, sich bei
dem Wohltäter so wichtig zu machen, daß der, so die
Verbindlichkeit auflegt, es für ein großes Glück rechnet,
einem solchen Manne anzugehören. – Kurz! der Satz: daß
jedermann nicht mehr und nicht weniger gelte, als wozu er sich
selbst macht, ist die große Panacee für Aventuriers, Prahler,
Windbeutel und seichte Köpfe, um fortzukommen auf
diesem Erdballe – ich gebe also keinen Kirschkern für
dieses Universalmittel. – Doch still! sollte denn jener Satz
uns gar nichts wert sein? Ja, meine Freunde! Er kann uns
lehren, nie ohne Not und Beruf unsre ökonomischen,
physikalischen, moralischen und intellektuellen
Schwächen aufzudecken. Ohne also sich zur Prahlerei
und zu niederträchtigen Lügen herabzulassen, soll man
doch nicht die Gelegenheit verabsäumen, sich von seinen
vorteilhaften Seiten zu zeigen.
Dies muß aber nicht auf eine grobe, gar zu merkliche,
eitle und auffallende Weise geschehn, denn sonst
verlieren wir viel mehr dadurch; sondern man muß die
Menschen nur mutmaßen, sie von selbst darauf kommen
lassen, daß doch wohl etwas mehr hinter uns stecke, als
bei dem ersten Anblicke hervorschimmert. Hängt man
ein gar zu glänzendes Schild aus, so erweckt man dadurch
die genauere Aufmerksamkeit; andre spüren den kleinen
Fehlern nach, von denen kein Erdensohn frei ist, und so
ist es auf einmal um unsern Glanz geschehn. Zeige Dich
also mit einem gewissen bescheidenen Bewußtsein
innerer Würde, und vor allen Dingen mit dem auf Deiner
Stirne strahlenden Bewußtsein der Wahrheit und
Redlichkeit! Zeige Vernunft und Kenntnisse, wo Du
Veranlassung dazu hast! Nicht so viel, um Neid zu
erregen und Forderungen anzukündigen, nicht so wenig,
um übersehn und überschrien zu werden! Mache Dich
rar, ohne daß man Dich weder für einen Sonderling,
noch für scheu, noch für hochmütig halte!
2.
Strebe nach Vollkommenheit, aber nicht nach dem
Scheine der Vollkommenheit und Unfehlbarkeit! Die
Menschen beurteilen und richten Dich nach dem
Maßstabe Deiner Prätensionen, und sie sind noch billig,
wenn sie nur das tun, wenn sie Dir nicht Prätensionen
aufbürden. Dann heißt es, wenn Du auch nur des
kleinsten Fehlers Dich schuldig machst: »Einem solchen
Manne ist das gar nicht zu verzeihn«; und da die
Schwachen sich ohnehin ein Fest daraus machen, an
einem Menschen, der sich verdunkelt, Mängel zu
entdecken, so wird Dir ein einziger Fehltritt höher
angerechnet als andern ein ganzes Register von Bosheiten
und Pinseleien.
3.
Sei aber nicht gar zu sehr ein Sklave der Meinungen andrer
von Dir! Sei selbständig! Was kümmert Dich am Ende
das Urteil der ganzen Welt, wenn Du tust, was Du sollst?
Und was ist Deine ganze Garderobe von äußern
Tugenden wert, wenn Du diesen Flitterputz nur über ein
schwaches, niedriges Herz hängst, um in Gesellschaften
Staat damit zu machen?
4.
Enthülle nie auf unedle Art die Schwächen Deiner
Nebenmenschen, um Dich zu erheben! Ziehe nicht ihre
Fehler und Verirrungen an das Tageslicht, um auf ihre
Unkosten zu schimmern!
5.
Schreibe nicht auf Deine Rechnung das, wovon andern
das Verdienst gebührt! Wenn man Dir, aus Achtung
gegen einen edlen Mann, dem Du angehörst, Vorzug
oder Höflichkeit beweist, so brüste Dich damit nicht,
sondern sei bescheiden genug zu fühlen, daß dies alles
vielleicht wegfallen würde, wenn Du einzeln aufträtest!
Suche aber selbst zu verdienen, daß man Dich um
Deinetwillen ehre! Sei lieber das kleinste Lämpchen, das
einen dunklen Winkel mit eigenem Lichte erleuchtet als
ein großer Mond einer fremden Sonne oder gar Trabant
eines Planeten!
6.
Fehlt Dir etwas, hast Du Kummer, Unglück, leidest Du
Mangel, reichen Vernunft, Grundsätze und guter Wille
nicht zu, so klage Dein Leid, Deine Schwäche niemand
als dem, der helfen kann, selbst Deinem treuen Weibe
nicht! Wenige helfen tragen; fast alle erschweren die
Bürde; ja! sehr viele treten einen Schritt zurück, sobald sie
sehen, daß Dich das Glück nicht anlächelt. Sobald sie
aber gar wahrnehmen, daß Du ganz ohne Hilfsquellen
bist, daß Du keinen geheimen Schutz hast, niemand, der
sich Deiner annimmt- o! so rechne auf keinen mehr! Wer
hat den Mut, einzig und fest als die Stütze des von aller
Welt Verlassenen öffentlich aufzutreten? Wer hat den
Mut, zu sagen: »Ich kenne den Mann; er ist mein Freund;
er ist mehr wert als ihr alle, die ihr ihn schmähet«? Und
fändest Du ja einen solchen, so würde es doch nur etwa
ein andrer armer Teufel sein, der selbst in elenden
Umständen, aus Verzweiflung sein Schicksal an das
Deinige knüpfen wollte, dessen Schutz Dir mehr
schädlich als nützlich wäre.
7.
Rühme aber auch nicht zu laut Deine glückliche Lage!
Krame nicht zu glänzend Deine Pracht, Deinen
Reichtum, Deine Talente aus! Die Menschen vertragen
selten ein solches Übergewicht ohne Murren und Neid.
Lege daher auch andern keine zu große Verbindlichkeit
auf! Tue nicht zu viel für Deine Mitmenschen! Sie fliehen
den überschwenglichen Wohltäter, wie man einen
Gläubiger flieht, den man nie bezahlen kann. Also hüte
Dich, zu groß zu werden in Deiner Brüder Augen, auch
fordert jeder zu viel von Dir, und eine einzige
abgeschlagene Wohltat macht tausend wirklich erzeigte in
einem Augenblick vergessen.
8.
Vor allen Dingen wache über Dich, daß Du nie die
innere Zuversicht zu Dir selber, das Vertrauen auf Gott,
auf gute Menschen und auf das Schicksal verlierst! Sobald
Dein Nebenmann auf Deiner Stirne Mißmut und
Verzweiflung liest – so ist alles aus. Sehr oh aber ist man
im Unglücke ungerecht gegen die Menschen. Jede kleine
böse Laune, jede kleine Miene von Kälte deutet man auf
sich; man meint, jeder sehe es uns an, daß wir leiden, und
weiche vor der Bitte zurück, die wir ihm tun könnten.
9.
Gegenwart des Geistes ist ein seltenes Geschenk des
Himmels und macht, daß wir im Umgange in sehr
vorteilhaftem Lichte erscheinen. Dieser Vorzug nun läßt
sich freilich nicht durch Kunst erlangen; allein man kann
an sich arbeiten, daß, wenn er uns fehlt, wir wenigstens
nicht durch Übereilung uns und andre in Verlegenheit
setzen. Sehr lebhafte Temperamente haben hierauf
vorzüglich zu achten. Ich rate daher, wenn eine
unerwartete Frage, ein ungewöhnlicher Gegenstand oder
irgend etwas anders uns überrascht, nur eine Minute still
zu schweigen und der Überlegung Zeit zu lassen, uns zu
der Partei vorzubereiten, die wir nehmen sollen. So wie
ein einziges rasches, unvorsichtiges Wort oder ein in der
Verwirrung unternommener Schritt zu späte Reue und
unglückliche Folgen wirken können, so kann ein schnell
auf der Stelle gefaßter und ausgeführter rascher
Entschluß in entscheidenden Augenblicken, in welchen
man so leicht den Kopf verliert, Glück, Rettung, Frost
bringen.
10.
So wenig als möglich lasset uns von andern Wohltaten
fordern und annehmen! Man trifft gar selten Leute an,
die nicht früh oder spät für kleine Dienste große
Rücksichten forderten, und das hebt dann das
Gleichgewicht im Umgange auf, raubt Freiheit, hindert
uneingeschränkte Wahl, und wenn auch unter zehnmal
nicht einmal der Fall einträte, daß dies uns in
Verlegenheit setzte oder Verdruß zuzöge, so ist es doch
weislich gehandelt, dies mögliche Einmal zu vermeiden
und lieber immer zu geben, jedem zu dienen als von
andern Dienste oder sonst etwas anzunehmen. Auch gibt
es wenig Menschen, die mit guter Art Wohltaten
erzeigen.
Versuchet es, meine Freunde! wie viele unter Euren
Bekannten nicht auf einmal, mitten in der fröhlichsten,
höflichsten Gemütsstimmung, ihr Gesicht in feierliche
Falten ziehen, wenn Ihr Eure Anrede mit den Worten
anhebet: »Ich muß eine große Bitte an Sie wagen; ich bin
in einer erschrecklichen Verlegenheit.«
Um nun fremden Beistandes entbehren zu können,
dazu ist das beste Mittel, wenig Bedürfnisse zu haben,
mäßig zu sein und bescheidene Wünsche zu nähren; wer
aber von unzähligen Leidenschaften in rastlosem Taumel
umhergetrieben wird, bald Ehrenstellen, bald Wucher,
bald Erwerb, bald wollüstigen Genuß verlangt; wer von
dem Luxus des Zeitalters angesteckt, alles begehrt, was
seine Augen sehen, wen vorwitzige Neugier und ein
unruhiger Geist treiben, sich in jeden unnützen Handel
zu mischen, der wird freilich nie der Hilfe und
Unterstützung fremder Leute zur Befriedigung seiner
zahllosen Wünsche sich entäußern können.
11.
Keine Regel ist so allgemein, keine so heilig zu halten,
keine führt so sicher dahin, uns dauerhafte Achtung und
Freundschaft zu erwerben, als die: unverbrüchlich, auch
in den geringsten Kleinigkeiten, Wort zu halten, seiner
Zusage treu, und stets wahrhaftig zu sein in seinen
Reden. Nie kann man Recht und erlaubte Ursache haben,
das Gegenteil von dem zu sagen, was man denkt,
wenngleich man Befugnis und Gründe haben kann, nicht
alles zu offenbaren, was in uns vorgeht. Es gibt keine
Notlügen; noch nie ist eine Unwahrheit gesprochen
worden, die nicht früh oder spät nachteilige Folgen für
jedermann gehabt hätte; der Mann aber, der dafür
bekannt ist, streng Wort zu halten und sich keine
Unwahrheit zu gestatten, gewinnt gewiß Zutrauen, guten
Ruf und Hochachtung.
12.
Sei streng, pünktlich, ordentlich, arbeitsam, fleißig in
Deinem Berufe! Bewahre Deine Papiere, Deine Schlüssel
und alles so, daß Du jedes einzelne Stück auch im
Dunkeln finden könntest! Verfahre noch ordentlicher mit
fremden Sachen! Verleihe nie Bücher oder andre Dinge,
die Dir geliehen worden; hast Du von andern dergleichen
geliehn, so bringe oder schicke sie zu gehöriger Zeit
wieder und erwarte nicht, daß sie oder ihre Domestiken
noch Wege darum tun, um diese Dinge abzuholen! –
Jedermann geht gern mit einem Menschen um und treibt
Geschäfte mit ihm, wenn man sich auf seine
Pünktlichkeit in Wort und Tat verlassen kann.
13.
Interessiere Dich für andre, wenn Du willst, daß andre
sich für Dich interessieren sollen! Wer unteilnehmend,
ohne Sinn für Freundschaft, Wohlwollen und Liebe, nur
sich selber lebt, der bleibt verlassen, wenn er sich nach
fremdem Beistande sehnt.
14.
Zwei Gründe hauptsächlich müssen uns bewegen, nicht
gar zu offenherzig gegen die Menschen zu sein: zuerst die
Furcht, unsre Schwäche dadurch aufzudecken und
mißbraucht zu werden, und dann die Überlegung, daß,
wenn man die Leute einmal daran gewöhnt hat, ihnen
nichts zu verschweigen, sie zuletzt von jedem unsrer
kleinsten Schritte Rechenschaft verlangen, alles wissen,
um alles zu Rate gezogen werden wollen. Allein
ebensowenig soll man übertrieben verschlossen sein,
sonst glauben sie, es stecke hinter allem, was wir tun,
etwas Bedeutendes oder gar Gefährliches, und das kann
uns in unangenehme Verlegenheit verwickeln und
veranlassen, daß wir verkannt werden, unter anderm in
fremden Ländern, auf Reisen, bei manchen andern
Gelegenheiten, und kann uns überhaupt auch im
gemeinen Leben, selbst im Umgange mit edeln Freunden
schaden.
15.
Vor allen Dingen vergesse man nie, daß die Leute
unterhalten, amüsiert sein wollen; daß selbst der
unterrichtendste Umgang ihnen in der Länge ermüdend
vorkommt, wenn er nicht zuweilen durch Witz und gute
Laune gewürzt wird; daß ferner nichts in der Welt ihnen
so witzreich, so weise und so ergötzend scheint, als wenn
man sie lobt, ihnen etwas Schmeichelhaftes sagt; daß es
aber unter der Würde eines klugen Mannes ist, den
Spaßmacher, und eines redlichen Mannes unwert, den
niedrigen Schmeichler zu machen. Allein es gibt einen
gewissen Mittelweg; diesen rate ich einzuschlagen, und da
jeder Mensch doch wenigstens eine gute Seite hat, die
man loben darf, und dies Lob, wenn es nicht übertrieben
wird, aus dem Munde eines verständigen Mannes Sporn
zu größerer Vervollkommnung werden kann, so ist das
Wink genug für den, der mich verstehn will.
Zeige, so viel du kannst, eine immer gleiche, heitere
Stirne! Nichts ist reizender und liebenswürdiger, als eine
gewisse, frohe, muntre Gemütsart, die aus der Quelle
eines schuldlosen, nicht von heftigen Leidenschaften in
Tumult gesetzten Herzens hervorströmt. Wer immer
nach Witz hascht, wem man es ansieht, daß er darauf
studiert hat, die Gesellschaft zu unterhalten, der gefallt
nur auf kurze Zeit und wird bei wenigen Interesse
erwecken; er wird nicht aufgesucht werden von denen,
deren Herz sich nach besserm Umgange und deren Kopf
sich nach sokratischer Unterhaltung sehnt.
Wer immer Spaß machen will, der erschöpft sich nicht
nur leicht und wird matt, sondern hat auch die
Unannehmlichkeit, daß, wenn er einmal gerade nicht
aufgelegt ist, seinen Vorrat von lustigen Kleinigkeiten zu
öffnen, seine Gefährten das sehr ungnädig aufnehmen.
Bei jeder Mahlzeit, zu welcher er gebeten wird, bei jeder
Aufmerksamkeit, die man ihm erweist, scheint die
Bedingung schwer auf ihm zu liegen, daß er diese Ehre
durch seine Schwänke zu verdienen suchen solle; und will
er es einmal wagen, den Ton zu erheben und etwas
Ernsthaftes zu sagen, so lacht man ihm gerade in das
Gesicht, ehe er mit seiner Rede halb zu Ende ist. Wahrer
Humor und echter Witz lassen sich nicht erzwingen,
nicht erkünsteln, aber sie wirken, wie das Umschweben
eines höhern Genius, wonnevoll, erwärmend, Ehrfurcht
erregend.
16.
Gehe von niemand und laß niemand von Dir, ohne ihm
etwas Lehrreiches oder etwas Verbindliches gesagt und
mit auf den Weg gegeben zu haben; aber beides auf eine
Art, die ihm wohltue, seine Bescheidenheit nicht empöre
und nicht studiert scheine, daß er die Stunde nicht
verloren zu haben glaube, die er bei Dir zugebracht hat,
und daß er fühle, Du nehmest Interesse an seiner Person,
es gehe Dir von Herzen, Du verkauftest nicht bloß Deine
Höflichkeitsware ohne Unterschied jedem
Vorübergehenden! Man verstehe mich also recht! Ich
mochte gern, wenn es möglich wäre, alles leere
Geschwätz aus dem Umgange verbannt sehn; möchte,
daß man – ohne Ängstlichkeit – auf sich acht hätte, nie
etwas zu sagen, wovon der, welcher es anhören muß,
weder Nutzen noch wahres Vergnügen haben, woran er
weder mit dem Kopfe noch mit dem Herzen Anteil
nehmen könnte. Weit entfernt bin ich also, das System
solcher Leute empfehlen zu wollen, die jeden ohne
Unterlaß mit leeren Komplimenten, Schmeicheleien oder
Lobsprüchen in die Verlegenheit setzen, ihnen auf
tausend nicht eins antworten zu können. Übrigens tadle
ich auch nicht ein gut gemeintes Höflichkeitswort, ein
verdientes, bescheidenes, zu fernerm Guten
ermunterndes Lob. Ein Beispiel wird meine wahren
Grundsätze darüber deutlicher machen: Ich saß einst an
einer fremden Tafel zwischen einer hübschen,
verständigen jungen Dame und einem kleinen, buckligen,
garstigen Fräulein von etwa vierzig Jahren. Ich beging die
Unhöflichkeit, die ganze Mahlzeit hindurch, mich nur mit
jener zu unterhalten, zu dieser hingegen kein Wort zu
reden. Beim Nachtische erst erinnerte ich mich meiner
Unart; und nun machte ich den Fehler gegen die
Höflichkeit durch einen andern gegen die Aufrichtigkeit
und Wahrhaftigkeit gut. Ich wendete mich zu ihr und
redete von einer Begebenheit, die vor zwanzig Jahren
vorgegangen war. – Sie wußte nichts davon. – »Es ist kein
Wunder«, sagte ich, »Sie waren damals noch ein Kind.«
Das kleine Wesen freute sich innigst darüber, daß ich sie
für so jung hielte, und dies einzige Wort erwarb mir ihre
günstige Meinung – sie hätte mich dieser niedrigen
Schmeichelei wegen verachten sollen. Wie leicht hätte ich
einen Gegenstand zu einem Gespräche mit ihr finden
können, das ihr auf irgendeine Weise interessant gewesen
wäre, und es war meine Pflicht, daran zu denken und ihr
nicht einen ganzen Mittag hindurch die Tür der
Konversation zu verschließen. Jene elende Schmeichelei
hingegen war eine unwürdige Art, den ersten Fehler zu
verbessern.
17.
Wem es darum zu tun ist, dauerhafte Achtung sich zu
erwerben, wem daran liegt, daß seine Unterhaltung
niemand anstößig, keinem zur Last werde, der würze
nicht ohne Unterlaß seine Gespräche mit Lästerungen,
Spott, Medisance und gewöhne sich nicht an den
auszischenden Ton von Persiflage! Das kann wohl
einigemal und bei einer gewissen Klasse von Menschen
auch öfter gefallen; aber man flieht und verachtet doch in
der Folge den Mann, der immer auf andrer Leute Kosten
oder auf Kosten der Wahrheit die Gesellschaft vergnügen
will, und man hat Recht dazu; denn der gefühlvolle,
verständige Mensch muß Nachsicht haben mit den
Schwächen andrer; er weiß, welchen großen Schaden oft
ein einziges, wenngleich nicht böse gemeintes Wörtchen
anrichten kann; auch sehnt er sich nach gründlicherer
und nützlicherer Unterhaltung; ihn ekelt vor leerer
Persiflage. Gar zu leicht aber gewöhnt man sich in der
sogenannten großen Welt diesen elenden Ton an; man
kann nicht genug davor warnen.
Übrigens aber möchte ich auch nicht gern alle Satire
für unerlaubt erklären noch leugnen, daß manche
Torheiten und Unzweckmäßigkeiten im weniger vertrauten
Umgange am besten durch eine feine, nicht beleidigende,
nicht zu deutlich auf einzelne Personen anspielende
Persiflage bekämpft werden können. Endlich bin ich
auch weit entfernt zu fordern, man solle alles loben und
alle offenbaren Fehler entschuldigen, vielmehr habe ich
nie den Leuten getraut, die so merklich affektieren, alles
mit dem Mantel der christlichen Liebe bedecken zu
wollen. Sie sind mehrenteils Heuchler, wollen durch das
Gute, das sie von den Leuten reden, das Böse vergessen
machen, das sie ihnen zufügen, oder sie suchen dadurch zu
erlangen, daß man ebenso nachsichtig gegen ihre
Gebrechen sei.
18.
Erzähle nicht leicht Anekdoten, besonders nie solche, die
irgend jemand in ein nachteiliges Licht setzen, auf bloßes
Hörensagen nach! Sehr oft sind sie gar nicht auf
Wahrheit gegründet oder schon durch so viele Hände
gegangen, daß sie wenigstens vergrößert, verstümmelt
worden, und dadurch eine wesentlich andre Gestalt
bekommen haben. Vielfältig kann man dadurch
unschuldigen guten Leuten ernstlich schaden und noch
öfter sich selber großen Verdruß zuziehn.
19.
Hüte Dich, aus einem Hause in das andre Nachrichten zu
tragen, vertrauliche Tischreden, Familiengespräche,
Bemerkungen, die Du über das häusliche Leben von
Leuten, mit welchen Du viel umgehst, gemacht hast, und
dergleichen auszuplaudern! Wenn dies auch nicht
eigentlich aus Bosheit geschieht, so kann doch eine
solche Geschwätzigkeit Mißtraun gegen Dich und allerlei
Zwist und Verstimmung veranlassen.
20.
Sei vorsichtig im Tadel und Widerspruche! Es gibt wenig Dinge
in der Welt, die nicht zwei Seiten haben. Vorurteile
verdunkeln oft die Augen selbst des klügern Mannes, und
es ist sehr schwer, sich gänzlich an eines andern Stelle zu
denken. Urteile besonders nicht so leicht über kluger
Leute Handlungen, oder Deine Bescheidenheit müßte
Dir sagen, daß Du noch weiser wie sie seist! und da ist es
denn eine mißliche Sache um diese Überzeugung.
Ein kluger Mann ist mehrenteils lebhafter als ein
andrer, hat heftigere Leidenschaften zu bekämpfen,
bekümmert sich weniger um das Urteil des großen
Haufens, hält es weniger der Mühe wert, sein gutes
Gewissen durch große Apologien zu rechtfertigen.
Übrigens soll man nur fragen: »Was tut der Mann
Nützliches für andre?« und wenn er dergleichen tut, über
dies Gute die kleinen leidenschaftlichen Fehler, die nur
ihm selber schaden oder höchstens unwichtigen,
vorübergehenden Nachteil wirken, vergessen.
Vor allen Dingen maße Dir nicht an, die Bewegungsgründe zu
jeder guten Handlung abwägen zu wollen! Bei einer solchen
Rechnung würden vielleicht manche Deiner eigenen
großen Taten verzweifelt klein erscheinen. Jedes Gute
muß nach seiner Wirkung für die Welt beurteilt werden.
21.
Habe acht auf Dich, daß Du in Deinen Unterredungen,
durch einen wäßrigen, weitschweifigen Vortrag nicht
ermüdest! Ein gewisser Lakonismus – insofern er nicht in
den Ton, nur in Sentenzen und Aphorismen zu sprechen
oder jedes Wort abzuwägen, ausartet – ein gewisser
Lakonismus, sage ich, das heißt: die Gabe, mit wenig
kernigen Worten viel zu sagen, durch Weglassung kleiner
unwichtiger Details die Aufmerksamkeit wach zu
erhalten, und dann wieder, zu einer andern Zeit, die
Geschicklichkeit, einen nichtsbedeutenden Umstand
durch die Lebhaftigkeit der Darstellung interessant zu
machen – das ist die wahre Kunst der gesellschaftlichen
Beredsamkeit. Ich werde davon unten noch mehr sagen;
überhaupt aber rede nicht zu viel! Sei haushälterisch mit
Spendung von Worten und Kenntnissen, damit es Dir
nicht früh an Stoffe fehle, damit Du nicht redest, was Du
verschweigen sollst, verschweigen willst, und damit man
Deiner nicht satt werde! Laß auch andre zu Worte
kommen, ihr Teil mit hergeben zur allgemeinen
Unterhaltung! Es gibt Leute, die, ohne es selbst zu
merken, allerorten die Sprachführer sind; und wären sie
in einem Zirkel von fünfzig Personen, so würden sie sich
dennoch bald zum Meister von der ganzen Konversation
machen.
So unangenehm dies für die Gesellschaft ist, ebenso
widrige, Freude störende Eindrücke macht die Weise
mancher Leute, die stumm und gespannt horchen und
lauern, und die man leicht für gefährliche Beobachter
halten kann, denen es nur darum zu tun scheint, jedes
unvorsichtige, nicht gehörig gewählte Wort, das man in
sorgloser Redseligkeit fallen läßt, zu irgendeinem
hämischen Zwecke aufzusammeln.
22.
Es gibt Menschen, die (so wie manche sich fruges
consumere natos glauben) auch im geselligen Leben
immer nur empfangen, nie geben wollen, die vom
übrigen Teile des Publikums amüsiert, unterrichtet,
bedient, gelobt, bezahlt, gefüttert zu werden verlangen,
ohne etwas dafür zu leisten; die über Langeweile klagen,
ohne zu fragen, ob die andern weniger Langeweile
gemacht haben; die behaglich dasitzen, sich's wohl sein,
sich erzählen lassen, aber nicht daran denken, auch für
das Vergnügen der übrigen zu sorgen. – Das ist aber so
ungerecht als lästig.
Noch andre findet man, die immer nur ihre eigene
Person, ihre häuslichen Umstände, ihre Verhältnisse, ihre
Taten und ihre Berufsgeschäfte zum Gegenstande ihrer
Unterredung machen und alles dahin zu drehn wissen,
jedes Gleichnis, jedes Bild von daher nehmen. So wenig
als möglich übertrage in gemischte Gesellschaften den
Schnitt, den Ton, den Dir Deine spezielle Erziehung,
Dein Handwerk, Deine besondre Lebensart geben. Rede
nicht von Dingen, die außer Dir schwerlich jemand
interessieren können. Spiele nicht auf Anekdoten an, die
Deinem Nachbar unbekannt sind, auf Stellen aus
Büchern, die er wahrscheinlich nicht gelesen hat! Rede
nicht in einer fremden Sprache, wenn es glaublich ist, daß
nicht jeder, der und Dich ist, dieselbe versteht. Lerne den
Ton der Gesellschaft annehmen, in welcher Du Dich
befindest. Nichts kann abgeschmackter sein, als wenn der
Arzt einige junge Damen mit Beschreibung seiner
Sammlung anatomischer Präparate, der Rechtsgelehrte
einen Hofmann über die unwirksame
Possessions-Ergreifung und das edictum Divi Martii, der
alte gebrechliche Gelehrte eine junge Kokette von seinem
offnen Beinschaden unterhält.
Oft aber tritt der Fall ein, daß man in Gesellschaften
gerät, wo es schwer ist, etwas vorzubringen, das Interesse
erweckte. Wenn ein verständiger Mann von leeren,
elenden Menschen umgeben ist, die für gar nichts von
beßrer Art Sinn haben, ei nun! so ist es seine Schuld
nicht, wenn er nicht verstanden wird. Er tröste sich also
damit, daß er von Dingen geredet hat, die billig
interessieren müßten .
23.
Rede also nicht zu viel von Dir selber, außer in dem
Zirkel Deiner vertrautesten Freunde, von welchen Du
weißt, daß die Sache des einen unter ihnen eine
Angelegenheit für alle ist; und auch da bewache Dich,
daß Du nicht Egoismus zeigest. Vermeide, selbst dann zu
viel von Dir zu reden, wenn gute Freunde, wie es
vielfältig geschieht, das Gespräch aus Höflichkeit auf
Deine Person, auf Deine Schriften und dergleichen leiten!
Bescheidenheit ist eine der liebenswürdigsten
Eigenschaften und macht um so vorteilhaftere
Eindrücke, je seltener diese Tugend in unsern Tagen
wird. Sei also auch nicht so bereit, jedermann Deine
Schriften unberufen vorzulesen, Deine Anlagen zu zeigen
und Deine rühmlichen Handlungen zu erzählen, noch auf
feine Art Gelegenheit zu geben, daß man Dich darum
bitten müsse. Auch drücke niemand durch Deinen
Umgang, das heißt, zeige in keiner Gesellschaft ein
solches Übergewicht, daß andre verstummen, sich in
schlechtem Lichte zeigen müssen!
24.
Widersprich Dir nicht selbst im Reden, so daß Du einen
Satz behauptest, dessen Gegenteil Du ein andermal
verteidigt hast. Man kann seine Meinung von Dingen
ändern, allein man tut doch wohl, in Gesellschaft nicht
eher, wenigstens nicht entscheidend zu urteilen, als bis
man alle Gründe vor und gegen dieselben gehörig
abgewogen hat.
25.
Hüte Dich, in den Fehler derjenigen zu verfallen, die aus
Mangel an Gedächtnis oder an Aufmerksamkeit auf sich,
oder weil sie so verliebt in ihre eigenen Einfälle sind,
dieselben Histörchen, Anekdoten, Späße, Wortspiele,
witzigen Vergleichungen und so ferner bei jeder
Gelegenheit wiederholen.
26.
Würze nicht Deine Unterhaltung mit Zweideutigkeiten,
mit Anspielungen auf Dinge, die entweder Ekel erwecken
oder keusche Wangen erröten machen. Zeige auch
keinen Beifall, wenn andre dergleichen vorbringen. Ein
verständiger Mann kann an solchen Gesprächen keine
Lust haben. Auch in bloß männlichen Gesellschaften
verleugne nicht die Schamhaftigkeit, Sittsamkeit und
Dein Mißfallen an Zoten.
27.
Flicke keine platten Gemeinsprüche in Deine Reden ein.
Zum Beispiel: daß Gesundheit ein schätzbares Gut; daß
das Schlittenfahren ein kaltes Vergnügen; daß jeder sich
selbst der Nächste sei; daß, was lange dauert, gut werde,
wovon ich das Gegenteil zu beweisen übernehme; daß
man durch Schaden klug werde, welches leider selten
eintrifft; oder daß die Zeit schnell hingehe welches, im
Vorbeigehn zu sagen, gar nicht wahr ist; denn da die Zeit
nach einem bestimmten Maßstabe berechnet wird, so
geht sie nicht schneller vorbei, als sie gerade muß, und
der, welchem ein Jahr kürzer vorkommt, als es ist, der
muß in demselben über Gebühr geschlafen haben oder
sonst seiner Sinne nicht mächtig gewesen sein. Solche
Sprichwörter sind sehr langweilig und nicht selten sinnlos
und unwahr.
28.
Belästige nicht die Leute, mit welchen Du umgehst, mit
unnützen Fragen. Es gibt Menschen, die, nicht eben aus
Vorwitz und Neugier, sondern weil sie nun einmal
gewöhnt sind, ihre Gespräche in Katechisationsform zu
verfassen, uns durch Fragen so beschwerlich werden, daß
es gar nicht möglich ist, auf unsre Weise mit ihnen in
Unterhaltung zu kommen.
29.
Lerne Widerspruch ertragen. Sei nicht kindisch
eingenommen von Deinen Meinungen. Werde nicht
hitzig noch grob im Zanke. Auch dann nicht, wenn man
Deinen ernsthaften Gründen Spott und Persiflage
entgegensetzt. Du hast, bei der besten Sache, schon halb
verloren, wenn Du nicht kaltblütig bleibst und wirst
wenigstens auf diese Art nie überzeugen.
30.
An Orten, wo man sich zur Freude versammelt, beim
Tanze, in Schauspielen und dergleichen, rede mit
niemand von häuslichen Geschäften, noch viel weniger
von verdrießlichen Dingen. Man geht dahin, um sich zu
erholen, um auszuruhn, um kleine und große Sorgen
abzuschütteln, und es ist also unbescheiden, jemand mit
Gewalt wieder mitten in sein tägliches Joch
hineinschieben zu wollen.
31.
Daß ein redlicher und verständiger Mann über
wesentliche Religionslehren, auch dann, wenn er das
Unglück haben sollte, an der Wahrheit derselben zu
zweifeln, sich dennoch keinen Spott erlauben wird, ich
meine, das versteht sich von selber; aber auch über
kirchliche Verfassungen, über die Menschensatzungen,
welche in einigen Sekten für Glaubenslehren gehalten
werden, über Zeremonien, die manche für wesentlich
halten, und dergleichen, soll man nie in Gesellschaften
spotten. Man respektiere das, was andern ehrwürdig ist.
Man lasse jedem die Freiheit in Meinungen, die wir selbst
verlangen. Man vergesse nicht, daß das, was wir
Aufklärung nennen, andern vielleicht Verfinsterung
scheint. Man schone die Vorurteile, die andern Ruhe
gewähren.
Man beraube niemand, ohne ihm etwas Besseres an
die Stelle dessen zu geben, was man ihm nimmt. Man
vergesse nicht, daß Spott nicht bessert; daß unsre hier auf
Erden noch nicht entwickelte Vernunft über so wichtige
Gegenstände leicht irren kann; daß ein mangelhaftes
System, auf welchem aber der Grund einer guten Moral
liegt, nicht so leicht umzureißen ist, ohne zugleich das
Gebäude selbst über den Haufen zu werfen, und endlich,
daß solche Gegenstände überhaupt gar nicht von der Art
sind, daß man sie in Gesellschaften abhandeln könne.
Doch dünkt mich, man vermeidet heutzutage oft zu
vorsätzlich alle Gelegenheiten, über Religion zu reden.
Einige Leute schämen sich, Wärme für Gottesverehrung
zu zeigen, aus Furcht, für nicht aufgeklärt genug gehalten
zu werden, und andre affektieren religiöse
Empfindungen, scheuen sich, auch nur im mindesten
gegen Schwärmerei zu reden, um sich bei den
Andächtlern in Gunst zu setzen. Ersteres ist
Menschenfurcht und letzteres Heuchelei, beides aber
eines redlichen Mannes gleich unwert.
32.
Wenn Du von körperlichen, geistigen, moralischen oder
andern Gebrechen redest oder Anekdoten erzählst, die
gewisse Grundsätze oder Vorurteile lächerlich machen
oder gewisse Stände in ein nachteiliges Licht setzen
sollen, so siehe Dich vorher wohl um, ob niemand
gegenwärtig sei, der das übel aufnehmen, diesen Tadel
oder Spott auf sich oder seine Verwandten ziehn könnte.
Halte Dich über niemandes Gestalt, Wuchs und Bildung auf!
Es steht in keines Menschen Gewalt, diese zu ändern. Nichts ist
kränkender, niederschlagender und empörender für den
Mann, der unglücklicherweise eine etwas auffallende
Gesichtsbildung oder Figur hat, als wenn er bemerkt, daß
diese der Gegenstand der Verspottung oder Befremdung
wird. Leuten, die ein wenig mit der großen Welt bekannt
sind und unter Menschen von allerlei Formen und
Ansehn gelebt haben, sollte man darüber billig gar nichts
mehr erinnern dürfen; aber leider trifft man hie und da,
selbst unter fürstlichen Personen, besonders unter
Damen, solche an, die so wenig Gewalt über sich oder so
wenig Begriffe von Wohlanständigkeit und Billigkeit
haben, daß sie die Eindrücke, welche ein ungewöhnlicher
Anblick von der Art auf sie macht, nicht verbergen
können. – Das ist schwach, und wenn man noch dabei
überlegt, wie relativ und dem verschiedenen Geschmacke
unterworfen die Begriffe von Schönheit und Häßlichkeit
sind, wie so wenig auf sichre Grundsätze beruhend unsre
physiognomische Wissenschaft ist und wie oft unter einer
anscheinend häßlichen Larve ein schönes, edles, warmes,
großes Herz mit einem feinen, tiefdenkenden Kopf
steckt, so sieht man leicht, daß man sehr selten Recht, auf
das äußere Ansehn eines Menschen nachteilige
Folgerungen zu bauen, und nie Befugnis haben kann, die
Eindrücke, welche ein solcher Anblick etwa auf uns
macht, zu jemandes Kränkung durch Lachen oder auf
andre Art kundwerden zu lassen.
Außer einer sonderbaren Figur können uns aber noch
andre Dinge an einem Menschen auffallend sein zum
Beispiel: lächerliche, phantastische, abgeschmackte
Gebärden, Manieren, Verzerrungen des Körpers,
Unbekanntschaft mit gewissen Sitten, Unvorsichtigkeiten
im Betragen, ungewöhnlicher, altmodischer Anzug, u.
dgl. Es gehört nicht weniger zu einer guten Lebensart,
hierüber nicht durch Lachen oder durch Zeichen, die
man einem der Anwesenden gibt, sein Befremden zu
erkennen zu geben und dadurch den armen Mann, der
sich dergleichen zuschulden kommen läßt, noch mehr in
Verlegenheit zu setzen.
33.
Briefwechsel ist schriftlicher Umgang; fast alles, was ich
vom persönlichen Umgange mit Menschen sage, leidet
Anwendung auf den Briefwechsel. Dehne also Deinen
Briefwechsel, so wie Deinen Umgang, nicht über Gebühr
aus. Das hat keinen Zweck, kostet Geld und ist
Zeitverderb. Sei ebenso vorsichtig in der Wahl derer, mit
denen Du einen vertrauten Briefwechsel anfängst, als in
der Wahl Deines täglichen Umgangs und Deiner Lektüre.
Nimm Dir auch vor, nie irgendeinen ganz leeren Brief zu
schreiben, in welchem nicht wenigstens etwas stünde, das
dem, an welchen er gerichtet ist, Nutzen oder reine
Freude gewähren könnte. Vorsichtigkeit ist im Schreiben
noch weit dringender als im Reden zu empfehlen, und
ebenso wichtig ist es, mit den Briefen, welche man erhält,
behutsam umzugehn. Man sollte es kaum glauben, was
für Verdruß, Zwist und Mißverständnis durch
Versäumung dieser Klugheitsregel entstehn können. Ein
einziges hingeschriebenes unauslöschliches Wort, ein
einziges aus Unachtsamkeit liegengebliebenes Papier hat
manches Menschen Ruhe und oft auf immer den Frieden
einer Familie zerstört.
Ich kann daher nicht genug Vorsichtigkeit in Briefen
und überhaupt im Schreiben empfehlen. Noch einmal!
Ein übereiltes mündliches Wort wird wieder vergessen,
aber ein geschriebenes kann noch nach fünfzig Jahren, in
Erben Händen, Unheil stiften. Briefe, an deren richtiger
und schneller Besorgung irgend etwas gelegen ist, muß
man immer auf die gewöhnliche Weise mit der Post oder
durch eigene Boten abgehn lassen, nie aber, etwa zur
Ersparung des Portos, sie Reisenden mitgeben oder sonst
durch Gelegenheit und in fremden Kuverts fortschicken;
man kann sich gar zu wenig auf die Pünktlichkeit der
Menschen verlassen.
Lies Deine Briefe, wenn Du es ändern kannst, nicht in
andrer Gegenwart, sondern wenn Du allein bist, sowohl
weil es die Höflichkeit also befiehlt, als aus Vorsicht, um
durch Deine Mienen den Inhalt nicht zu verraten.
34.
Suche keinen Menschen, auch den Schwächsten nicht, in
Gesellschaften lächerlich zu machen. Ist er dumm, so
hast Du wenig Ehre von dem Witze, den Du an ihn
verschwendest; ist er es weniger, als Du glaubst, so
kannst Du vielleicht der Gegenstand seines Spottes
werden; ist er gutmütig und gefühlvoll, so kränkest Du
ihn, und ist er tückisch und rachsüchtig, so kann er Dir's
vielleicht auf eine Rechnung setzen, die Du früh oder
spät auf irgendeine Art bezahlen mußt. – Und wie oft
kann man nicht, wenn das Publikum auf unsre Urteile
über Menschen achtet, einem guten Manne im
bürgerlichen Leben wahrhaften Schaden zufügen oder
einen Schwachen so niederdrücken, daß aller Ehrgeiz in
ihm erlöscht und alle Keime zu bessern Anlagen erstickt
werden, indem man ihn, durch Hervorziehn seiner uns
lächerlich scheinenden Seiten, der Verachtung preisgibt.
35.
Schrecke, zerre und necke auch niemand, selbst Deine
Freunde nicht, mit falschen Nachrichten, mit Witzeleien
oder was sonst auf einen Augenblick beunruhiget, in
Verlegenheit setzt! Es gibt der wahrhaftig,
mißvergnügten, unangenehmen, ängstlichen Augenblicke
so viele in der Welt, daß es wohl brüderliche Pflicht ist,
alles hinwegzuräumen, was die Last der wirklichen und
eingebildeten Plagen auch nur um ein Sandkorn
erschweren kann. Für ebenso unschicklich halte ich es,
einem Freunde aus Scherz, wie es die Gewohnheit
mancher Leute ist, mit selbst erfundenen erfreulichen
Neuigkeiten ein kurzes Vergnügen zu machen, das
nachher vereitelt wird. Das alles ist Neckerei, durch
welche die Freuden des Umgangs nicht gewürzt, sondern
versalzen werden. Auch soll man nicht die Neugier reizen
oder die Leute durch halb abgebrochene Worte
ängstigen, sondern lieber gänzlich schweigen, wenn man
nicht ausreden will. Es gibt Menschen, welche die
Gewohnheit haben, ihren Freunden solche mystischen
Warnungen hinzuwerfen als z.B.: »Es läuft ein böses
Gerücht von Ihnen herum, aber ich kann, ich darf Ihnen
noch nichts darüber sagen.« Dergleichen hat gar keinen
Nutzen und beunruhigt.
Überhaupt muß man so wenig als möglich die Leute
in Verlegenheit setzen, vielmehr sich bemühn, wenn auch
jemand im Begriff ist, eine Unvorsichtigkeit zu begehn
(z.B. schlecht von einem Buche zu reden, dessen
Verfasser gegenwärtig ist) oder sonst beschämt zu
werden, ihm diese Verlegenheit zu ersparen oder die
Sache auf irgendeine Weise wieder ins Feine zu bringen.
36.
Man hüte sich, bei Personen, mit denen man umgeht,
unberufen unangenehme Dinge in Erinnerung zu
bringen. Oft bewegt eine Art von unkluger Teilnehmung
die Leute, uns um die Beschaffenheit unsrer
ökonomischen und andrer verdrießlicher Sachen zu
befragen, obgleich sie uns nicht helfen können, und
zwingen sie uns dadurch, Gegenstände, die wir in
Gesellschaften, wo wir uns aufzuheitern dachten, so gern
vergessen möchten, ohne Unterlaß vor Augen zu
behalten. Man muß so viel Menschenkenntnis haben zu
unterscheiden, ob der Mann, den wir vor uns sehen,
seinem Temperamente, seiner Lage und der Art seines
Kummers nach, durch solche Gespräche erleichtert
werden kann, oder ob nicht vielmehr sein Leiden
dadurch doppelt erschwert wird.
37.
Nimm nicht teil daran, lächle nicht beifällig, tue lieber, als
hortest Du es gar nicht, wenn jemand einem Dritten
unangenehme Dinge sagt oder ihn beschämt. Die
Feinheit eines solchen Betragens wird gefühlt und oft
dankbar belohnt.
38.
Über die Gewohnheit, Paradoxa vorzubringen über
Widersprechungsgeist, Disputiersucht, Zitieren und
Berufen auf die Meinungen und Aussprüche andrer,
werde ich mich im dritten Kapitel dieses Teils erklären
und beziehe mich hier darauf.
39.
Bekümmere Dich nicht um die Handlungen Deiner
Nebenmenschen, insofern sie nicht Bezug auf Dich oder
so sehr auf die Moralität im ganzen haben, daß es
Verbrechen sein würde, darüber zu schweigen. Ob aber
jemand langsam oder schnell geht, viel oder wenig
schläft, oft oder selten zu Hause, prächtig oder lumpig
gekleidet ist, Wein oder Bier trinkt, Schulden oder
Kapitalien macht, eine Geliebte hat oder nicht – was geht
das Dich an, wenn Du nicht sein Vormund bist?
Tatsachen hingegen, die man durchaus wissen muß,
erfährt man oft am besten von dummen Leuten, weil
diese ohne Witz, ohne Konsequenzmacherei, ohne
Seitenblicke, ohne Verbrämung und ohne Leidenschaft
geradehin erzählen.
40.
Öfters sind wir in dem Falle, daß uns durch Gespräche
Langeweile gemacht wird. Vernunft, Vorsichtigkeit und
Menschenliebe gebieten uns dann, wenn nun einmal
nicht auszuweichen ist, Geduld zu fassen und nicht durch
beleidigendes Betragen unsern Überdruß zu erkennen zu
geben. Man kann ja, je seelenloser das Gespräch und je
geschwätziger der Mann ist, um desto freier nebenher an
andre Dinge denken; und wäre auch das nicht – ei nun! es
geht im menschlichen Leben so manche verträumte
Stunde verloren! Ist man denn nicht einige Aufopferung
der Gesellschaft schuldig, mit welcher man umgeht? –
Und geschieht es nicht vielleicht zuweilen, daß auch wir
dagegen, so groß auch die Meinung sein mag, die wir von
der Wichtigkeit unsrer Gespräche haben, dennoch durch
unsre Redseligkeit andern Langeweile machen?
41.
Eine der wichtigsten Tugenden im gesellschaftlichen
Leben und die wirklich täglich seltener wird, ist die
Verschwiegenheit. Man ist heutzutage so äußerst
trügerisch in Versprechungen, ja in Beteuerungen und
Schwüren, daß man ohne Scheu ein unter dem Siegel des
Stillschweigens uns anvertrautes Geheimnis
gewissenloserweise ausbreitet. Andre Menschen, die
weniger pflichtvergessen, aber höchst leichtsinnig sind,
können ihrer Redseligkeit keinen Zaum anlegen. Sie
vergessen, daß man sie gebeten hat zu schweigen, und so
erzählen sie, aus unverzeihlicher Unvorsichtigkeit, die
wichtigsten Geheimnisse ihrer Freunde an öffentlichen
Wirtstafeln. Oder, indem sie jeden, der ihnen in dem
Drange sich zu entladen in den Wurf kommt, für einen
treuen Freund ansehen, vertrauen sie das, was sie doch
nicht als ihr Eigentum betrachten sollten, ebenso
leichtsinnigen Leuten an, als sie selbst sind. Solche
Menschen gehen dann auch nicht weniger unklug mit
ihren eigenen Heimlichkeiten, Plänen und Begebenheiten
um, zerstören dadurch sehr oft ihre zeitliche
Glückseligkeit und vernichten ihre Absichten.
Welchen Nachteil überhaupt solche unvorsichtige
Bewahrung fremder und eigener Geheimnisse gewährt,
das bedarf wohl keiner weitläufigen Auseinandersetzung.
Es gibt aber eine Menge andrer Dinge, die zwar nicht
eigentlich Geheimnisse sind, wovon uns aber die
Vernunft lehrt, daß es besser sei, sie zu verschweigen,
und andre Dinge, deren Ausbreitung wenigstens für
niemand lehrreich und unterhaltend sein kann, und
wovon es doch möglich wäre, daß ihre Verplauderung
irgend jemand nachteilig sein möchte. – Ich empfehle
also eine kluge Verschwiegenheit, die jedoch nicht in
lächerliche Mysteriösität ausarten muß, als eine sehr
wichtige Tugend im Umgange. Übrigens wird man die
Bemerkung wahr finden, daß in despotischen Staaten die
Menschen im ganzen genommen verschwiegener sind, als
wo mehr Freiheit herrscht. Dort machen Furcht und
Mißtraun verschlossen und zurückhaltend, hier folgt
jeder dem Triebe seines Herzens, sich freimütig
mitzuteilen.
Wenn man auch mehreren Leuten zugleich sein
Geheimnis anvertrauen muß, so lege man doch jedem
unbedingte Verschwiegenheit auf, damit jeder von ihnen
glaube, er wisse es allein, müsse allein für die Bewahrung
haften.
42.
Gewissen Leuten ist eine Leichtigkeit im Umgange und
die Gabe, geschwind Bekanntschaften zu machen und
Zuneigung zu gewinnen, wie angeboren; andern hingegen
hängt von Jugend auf eine gewisse Blödigkeit und
Schüchternheit an, die sie nicht ab zulegen vermögen,
wenngleich sie täglich fremde Leute allerorten um sich
sehen. Diese Blödigkeit nun ist freilich sehr oft die Folge
einer fehlerhaften Erziehung, sowie auch zuweilen die
Wirkung einer heimlichen Eitelkeit, die in Verlegenheit
gerät, aus Furcht, nicht zu glänzen. Manchen Menschen
aber scheint diese Schüchternheit gegen ganz fremde
Leute wirklich von Natur eigen zu sein, und alle Mühe,
welche sie sich dagegen geben, ist verloren. Ein
regierender Fürst, einer der edelsten und verständigsten
Männer, die ich kenne, und der auch wahrlich seines
Äußern wegen sich nicht zu schämen, noch zu fürchten
braucht, nachteilige Eindrücke zu machen, hat mir
versichert, daß, obgleich ihn sein Stand von Kindheit an
in die Lage gesetzt habe, täglich große Zirkel und viel
fremde Gesichter zu sehn, er dennoch an keinem Tage in
sein Vorzimmer trete, wo der versammelte Hof seiner
wartete, ohne vor Verlegenheit auf einen Augenblick
ganz blind zu werden. Übrigens fällt bei diesem
liebenswürdigen Herrn, sobald er sich ein wenig erholt
hat, diese Schüchternheit weg, und dann redet er
freundlich und offen mit jedermann und sagt bessere
Dinge, als gewöhnlich Fürsten bei solchen Gelegenheiten
über Wetter, böse Wege, Pferde und Hunde zu sagen
wissen.
Eine gewisse Leichtigkeit im Umgange also, die Gabe,
sich gleich bei der ersten Bekanntschaft vorteilhaft
darzustellen, mit Menschen aller Art zwanglos sich in
Gespräche einzulassen und bald zu merken, wen man vor
sich hat und was man mit jedem reden könne und müsse,
das sind Eigenschaften, die man zu erwerben und
auszubauen trachten soll. Doch wünsche ich, daß dies nie
in jene den Aventuriers so eigene Unverschämtheit und
Zudringlichkeit ausarte, die oft in weniger als einer
Stunde Frist einer ganzen, fremden Tischgesellschaft im
Wirtshause ihre Lebensläufe abgefragt und dagegen den
ihrigen erzählt, Dienste und Freundschaft angeboten und
Dienste, Verwendung und Hilfe für sich erbeten haben.
43.
Ein großes Talent, und das durch Studium und
Achtsamkeit er langt werden kann, ist die Kunst, sich
bestimmt, fein, richtig, kernig, nicht weitschweifig
auszudrücken, lebhaft im Vortrage zu sein, sich dabei
nach den Fähigkeiten der Menschen zu richten, mit
denen man redet, sie nicht zu ermüden, gut und launig zu
er zählen, nicht über seine eigenen Einfälle zu lachen,
nach den Um ständen trocken oder lustig, ernsthaft oder
komisch seinen Gegenstand darzustellen und mit
natürlichen Farben zu malen. Da bei soll man sein
Äußeres studieren, sein Gesicht in seiner Gewalt haben,
nicht grimassieren, und wenn wir wissen, daß gewisse
Mienen, zum Beispiel beim Lachen, unsrer Bildung ein
widerwärtiges Ansehn geben, diese zu vermeiden suchen.
Der Anstand und die Gebärdensprache sollen edel sein;
man soll nicht bei unbedeutenden, affektlosen
Unterredungen wie Personen aus der niedrigsten
Volksklasse mit Kopf, Armen und andern Gliedern
herumfahren und um sich schlagen; man soll den Leuten
grade, aber bescheiden und sanft ins Gesicht sehn, sie
nicht bei Ärmeln, Knöpfen und dergleichen zupfen oder
immer etwas zu spielen zwischen den Fingern haben.
Kurz, alles was eine feine Erziehung, was
Aufmerksamkeit auf sich selbst und auf andre verrät, das
gehört notwendig dazu, den Umgang angenehm zu
machen, und es ist wichtig, sich in solchen Dingen nichts
nachzusehn, sondern jede kleine Regel des Anstandes,
selbst in dem Zirkel seiner Familie, zu beobachten, um
sich das zur andern Natur zu machen, wogegen wir so oft
fehlen, und was uns Zwang scheint, wenn wir uns
Nachlässigkeiten in der Art zu verzeihn gewöhnt sind.
Hierüber in diesen Blättern viel mehr zu sagen, zu lehren:
warum man den Leuten nicht in die Rede fallen dürfe;
daß wir einen Teller, oder was uns dargereicht wird, auch
dann abnehmen müssen, wenn wir nichts davon behalten
wollen, damit der andre nicht die Mühe habe, es
unsertwegen in der Hand zu tragen; daß man so wenig als
möglich in einer Gesellschaft den Leuten den Rücken
zukehren, in Titeln und Namen nicht irre werden solle;
daß man bei Personen, die das genau nehmen, den
Vornehmern immer auf der rechten Seite, oder, wenn
drei beisammen sind, in der Mitte gehn lasse; daß man,
wenn jemand, dem wir Achtung schuldig sind, vor
unserm Hause vorübergeht, wo wir am Fenster stehn und
er uns grüßt, man das Fenster auf einen Augenblick
öffnen oder wenigstens tun müsse, als wolle man es
öffnen; daß eben dies in der Kutsche, beim
Vorüberfahren zu beobachten sei; daß man dem, mit
welchem man spricht, frei und offen, doch nicht starr
und frech in das Gesicht schauen, seine Stimme in seiner
Gewalt haben, nicht schreien und doch verständlich
reden, in seinem Gange Anstand beobachten, nicht
allerorten das große Wort haben solle; daß man, wenn
man ein Frauenzimmer führt, um sie nicht zu stoßen, mit
ihr gleichen Schritt halten und mit demselben Fuße wie
sie antreten, ihr auch zuweilen seine linke Hand reichen
müsse, wenn sie an der rechten Seite nicht so bequem
gehn würde; daß man auf steilen Treppen im
Hinuntersteigen die Frauenzimmer vorausgehn, im
Hinaufsteigen aber sie folgen lassen müsse; daß, wenn
man uns nicht versteht und man voraussieht, daß eine
genauere Erklärung nichts helfen würde oder der
Gegenstand von so geringer Wichtigkeit ist, daß er keinen
großen Aufwand von Worten verdient, man dann die
ganze Sache fallenlassen müsse; daß vornehme Leute,
wenn sie nicht über Vorurteile hinaus sind, es
übelnehmen, wenn ein Geringerer von sich und ihnen in
Gemeinschaft spricht (z.B. »Als wir gestern zusammen
spazierengingen.« »Wir haben gewonnen im gestrigen
Spiele und unsre Gegner verloren«), sondern, daß sie
verlangen, man solle tun, als seien sie allein in der Welt
des Nennens wert: »Ihro Exzellenz, Ihro Gnaden haben
gewonnen« (höchstens mochte man hinzusetzen: »mit
mir«); daß man bei Tische den abgeleckten Löffel, womit
man gegessen, nicht wieder vor sich hinlegen solle, wie so
viele tun; daß es anständig sei, wenn man jemand im
Vorbeigehn grüßen will, den Hut auf der Seite abzuziehn,
wo der Fremde nicht geht, damit man ihn nicht damit
berühre und sein Gesicht nicht vor ihm verberge; daß
man, wenn man jemand etwas darreicht, es, insofern dies
zu ändern steht, nicht mit der bloßen Hand hingeben
müsse; daß es sich nicht schicke, in Gesellschaften in das
Ohr zu flüstern, bei Tafel krumm zu sitzen, unanständige
Gebärden zu machen, noch zu leiden, daß ein
Frauenzimmer oder jemand, der vornehmer ist als wir,
von einer Speise, die vor uns steht, vorlege; daß es
unartig sei, in Gesellschaften jemanden einen
unschuldigen Spaß zu verderben, z.B. wenn er
Kartenkünste zeigt und wir wissen, wie das Stück
gemacht wird, das kleine Wunder zu enthüllen, und
dergleichen Regeln mehr zu geben, dazu ist hier nicht der
Ort. Leuten von gewissem Stande und einer nicht ganz
gemeinen Erziehung ist das in der ersten Jugend schon
eingeprägt worden; nur erinnere ich, daß diese kleinen
Dinge in mancher Leute Augen keine kleinen Dinge sind
und daß oft unsre zeitliche Wohlfahrt in solcher Leute
Händen ist.
44.
Soviel über den äußern Anstand und über schickliche
Manieren. Also nur noch etwas über die Kleidung. Kleide
Dich nicht unter und nicht über Deinen Stand; nicht über
und nicht unter Dein Vermögen; nicht phantastisch;
nicht bunt; nicht ohne Not prächtig, glänzend noch
kostbar; aber reinlich, geschmackvoll, und wo Du
Aufwand machen mußt, da sei Dein Aufwand zugleich
solide und schon. Zeichne Dich weder durch
altväterische, noch jede neumodische Torheit
nachahmende Kleidung aus. Wende einige größere
Aufmerksamkeit auf Deinen Anzug, wenn Du in der
großen Welt erscheinen willst. Man ist in Gesellschaft
verstimmt, sobald man sich bewußt ist, in einer
unangenehmen Ausstaffierung aufzutreten.
45.
Es gibt noch andre kleine gesellschaftliche
Unschicklichkeiten und Unkonsequenzen, die man
vermeiden und wobei man immer überlegen muß, wie es
wohl aussehn würde, wenn jeder von den Anwesenden
sich dieselbe Freiheit erlauben wollte; zum Beispiel:
während der Predigt zu schlafen; in Konzerten zu
plaudern; hinter eines andern Rücken einem Freunde
etwas zuzuflüstern oder ihm Winke zu geben, die jener
auf sich deuten kann; überhaupt das Ins-Ohr-Reden in
Gesellschaften; wenn man lächerlich schlecht tanzt oder
ein Instrument elend spielt, sich damit sehn und hören zu
lassen und dadurch die Anwesenden zum Spotte und
zum Gähnen zu reizen; wenn uns die Leute aus dem
Wege gehn wollen, ihnen, wie Yorick der Marquise von
F*** in Mailand, zehnmal auf allen Seiten
entgegenzurennen; wenn wir ein Kartenspiel nicht
verstehn oder höchst langsam spielen, uns den noch
dabei hinzusetzen, unsrer Gegner Geduld auf die Probe
zu stellen und unsern Gehilfen durch Ungeschicklichkeit
in Verlust zu bringen; bei dem Tanze zugleich die
Melodie mitzusingen; in Schauspielen so hinzutreten, daß
man nicht über uns wegsehn kann; in jede Versammlung
später zu kommen, früher wegzugehn oder länger zu
verweilen als alle übrigen Mitglieder der Gesellschaft. –
Vermeide dergleichen Unschicklichkeiten. Blicke nicht in
fremde Papiere. Auch mag mancher nicht leiden, wenn
man ihm beim Lesen, Arbeiten u. dgl. auf die Finger
sieht. Bleibe auch nicht allein im Zimmer, wo Schriften
oder Gelder herumliegen.
46.
Wenn die Frage entsteht: ob es gut sei, viel oder wenig in
Gesellschaft zu erscheinen, so muß die Beantwortung
derselben freilich nach den einzelnen Lagen,
Bedürfnissen und nach unzähligen kleinen Umständen
und Rücksichten bei jedem Menschen anders ausfallen;
im ganzen aber kann man den Satz zur Richtschnur
annehmen: daß man sich nicht aufdrängen, die Leute
nicht überlaufen solle und daß es besser sei, wenn man es
einmal nicht allen Menschen recht machen kann, daß
gefragt werde, warum wir so selten, als geklagt, daß wir
zu oft und allerorten erscheinen. Es gibt einen feinen
Sinn dafür (wenn uns nicht übertriebene Eitelkeit und
Selbstsucht die Augen blenden), einen Sinn, der uns sagt,
ob wir gern gesehn oder überlästig sind, ob es Zeit ist
fortzugehn, oder ob wir noch verweilen sollen.
Übrigens rate ich, wenn man sich so weit in seiner
Gewalt haben kann, mit so wenig Leuten als möglich
vertraulich zu werden, nur einen kleinen Zirkel von
Freunden zu haben und diesen nur mit äußerster
Vorsicht zu erweitern. Gar zu leicht mißbrauchen oder
vernachlässigen uns die Menschen, sobald wir mit ihnen
vollkommen vertraulich werden. Um angenehm zu leben,
muß man fast immer ein Fremder unter den Leuten
bleiben. Dann wird man geschont, geehrt, aufgesucht. –
Deswegen ist das Leben in großen Städten so schön, wo
man alle Tage andre Menschen sehn kann. Für einen
Mann, der sonst nicht schüchtern ist, ist es ein
Vergnügen, unter Unbekannten zu sitzen. Da hört man,
was man sonst nicht hören würde; man wird nicht
gehütet und kann in der Stille beobachten.
47.
Man vermeide aber, in alle Zirkel große Forderungen
mitzunehmen, allen Menschen alles allein sein, mit aller
Gewalt glänzen, hervorgezogen werden zu wollen, zu
verlangen, daß aller Menschen Augen nur auf uns
gerichtet, ihre Ohren nur für uns gespitzt seien; denn
sonst werden wir freilich uns aller Orten zurückgesetzt
glauben, eine traurige Rolle spielen, uns und andern
Langeweile machen, menschenscheu und bitter die
Gesellschaft fliehn und von ihr geflohn werden. Ich
kenne viele Leute von der Art, die durchaus, wenn sie
sich in vorteilhaftem Lichte zeigen sollen, der
Mittelpunkt sein müssen, um welchen sich alles dreht,
sowie überhaupt manche Menschen im gemeinen Leben
niemand neben sich vertragen, der mit ihnen verglichen
werden könnte. Sie handeln vortrefflich, groß, edel,
nützlich, wohltätig, geistreich, sobald sie es allein sind, an
die man sich wendet, von denen man bittet, erwartet,
hofft; aber klein, niedrig, rachsüchtig und schwach,
sobald sie in Reihe und Gliedern stehn sollen, und
zerstören jedes Gebäude, wozu sie nicht den Plan
gemacht oder wenigstens die Kranzrede gehalten haben,
ja ihr eigenes Gebäude, sobald nur ein andrer eine kleine
Verzierung daran angebracht hat. Dies ist eine
unglückliche, ungesellige Gemütsart. Überhaupt rate ich,
um glücklich zu leben und andre glücklich zu machen, in
dieser Welt so wenig als möglich zu erwarten und zu
fordern.
48.
Mache einigen Unterschied in Deinem äußern Betragen
gegen die Menschen, mit denen Du umgehst, in den
Zeichen von Achtung, die Du ihnen beweisest. Reiche
nicht jedem Deine rechte Hand dar. Umarme nicht jeden.
Drücke nicht jeden an Dein Herz. Was bewahrst Du den
Bessern und Geliebten auf, und wer wird Deinen
Freundschaftsbezeigungen trauen, ihnen Wert beilegen,
wenn Du so verschwenderisch in Austeilung derselben
bist?
49.
Sei, was Du bist, immer ganz und immer derselbe. Nicht
heute warm, morgen kalt; heute grob, morgen höflich
und zuckersüß; heute der lustigste Gesellschafter, morgen
trocken und stumm wie eine Bildsäule. Mit solchen
Leuten ist übel umzugehn; sie Überhäufen uns, wenn sie
gerade in guter Laune sind oder niemand um sich haben,
der vornehmer als wir oder spaßhafter oder ein größerer
Schmeichler ist, mit allen Zeichen der herzlichsten,
vertraulichsten Freundschaft. Wir bauen darauf und
wollen wenig Tage nachher den Mann wieder besuchen,
der uns so gern bei sich sieht, der uns so freundlich
eingeladen hat, recht oft zu kommen. Wir gehen hin und
werden nun so frostig und verdrießlich empfangen, oder
man läßt uns ohne Unterhaltung in einer Ecke sitzen,
antwortet uns nur mit abgebrochenen Silben, weil man
gerade von Kreaturen umgeben ist, die mehr Weihrauch
spenden als wir. Von solchen Menschen muß man sich
unmerklich zurückziehn, und wenn sie nachher in einem
Augenblicke von Langerweile uns wieder aufsuchen,
gleichfalls gegen sie den Spröden machen und ihnen
unter den Händen fortschlüpfen.
50.
Suche weniger selbst zu glänzen als andern Gelegenheit
zu geben, sich von vorteilhaften Seiten zu zeigen, wenn
Du gelobt werden und gefallen willst. Ich habe den Ruf
eines vernünftigen und witzigen Mannes aus mancher
Gesellschaft mitgenommen, in welcher wahrlich kein
kluges Wort aus meinem Munde gegangen war und in
welcher ich nichts getan hatte, als mit exemplarischer
Geduld vornehmen und halbgelehrten Unsinn
anzuhören, oder hie und da einen Mann auf ein Fach zu
bringen, wovon er gern redete. Wie mancher besucht
mich mit der demütigen Ankündigung: (wobei ich mich
oft nicht des Lachens erwehren kann) er komme um mir
als einem gewaltigen Gelehrten und Schriftsteller seine
Ehrerbietung zu bezeugen; der Mann setzt sich dann hin
und fängt an zu reden, läßt mich, den er bewundern will,
gar nicht zu Worte kommen, und geht, entzückt über
meine lehrreiche und angenehme Unterhaltung, zu
welcher ich nicht zwanzig Worte geliefert habe, von mir,
höchst vergnügt, daß ich Verstand genug gehabt habe –
ihm zuzuhören. Habe Geduld mit allen Schwächen dieser
Art! Wenn daher auch jemand ein Geschichtchen oder
sonst etwas vorbringt, das er gern erzählt, und Du hättest
es auch schon mehr gehört und es wäre vielleicht ein
Märchen, das Du selbst ihm einst mitgeteilt hättest, so laß
es ihn doch nicht auf unangenehme Weise merken, daß
die Sache Dir alt und langweilig ist, wenn die Person
anders Schonung verdient. Was kann unschuldiger sein,
als solche Ausleerungen zu befördern, wenn man
dadurch andern Erleichterung und sich einen guten Ruf
verschafft? Und wenn die Leute unschuldige
Liebhabereien haben, z.B. gern von Pferden reden, es
gern sehen, daß man eine Pfeife Tabak mit ihnen raucht,
ein Glas Wein mit ihnen trinkt, so erzeige man ihnen
diese kleine Gefälligkeit, wenn es ohne große
Ungemächlichkeit und ohne Falschheit geschehn kann.
Desfalls habe ich nie die Gewohnheit der Hofleute von
gemeinerm Schlage gut finden können, die jedermann
nur mit halbem Ohre und zerstreuter Miene anhören, ja
gar mitten in einer Rede, die sie veranlaßt haben,
einfallen, ohne das Ende abzuwarten.