Читать книгу Nikomaus & Murmelbär - Adora Belle - Страница 6

2.

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„Wie hast du den Typen noch mal dazu gekriegt, sich mit uns zu treffen?“, frage ich missmutig und kippe mir einen großzügigen Schluck Cola in den Hals. Niko sitzt neben mir und hat seinen Latte macchiato mit Karamellsirup bereits zur Hälfte geleert. Er vibriert förmlich vor Aufregung, hibbelt auf seinem Platz hin und her und kann die Hände kaum stillhalten, während er alle paar Sekunden zur Eingangstür des kleinen Cafés schaut.

„Hm? Och, ich hab ihm eigentlich bloß ein Foto von dir gezeigt“, erwidert Niko, ohne mich dabei anzusehen.

Nett, denke ich leicht verstimmt. Echt sehr nett. Und so was schimpft sich Kumpel.

Muss ich noch großartig erklären, was passiert ist? Ne, oder?

Unser Gespräch wegen Nikos aktuellem Objekt der Begierde und seinem hirnrissigen Plan, um den Mann rumzukriegen, liegt inzwischen zwei Tage zurück und ich Blödhammel hab mich natürlich doch breitschlagen lassen.

Du meinst, noch breiter, als du ohnehin schon bist?

War ja klar, dass mein Schulterteufel diese Steilvorlage nutzt!

Scheißkerl!, denke ich grimmig, aber es beeindruckt ihn wenig.

Jedenfalls habe ich mich anfangs standhaft geweigert, doch dann hat Niko seinen patentierten Welpenblick eingesetzt, einfach, weil er weiß, dass er mich damit immer bezirzen kann. Wirklich immer! Auch wider besseres Wissen meinerseits!

Wie oft bin ich nicht schon in irgendwelche Schwierigkeiten geraten, nur weil ich diesen weit aufgerissenen, babyblauen Augen und der dramatisch zitternden Unterlippe nicht widerstehen konnte.

Ich brauche da nur an diese schwüle Sommernacht zu denken, als wir beide sechzehn waren und Niko auf die bekloppte Idee kam, heimlich ins Freibad einzusteigen, um sich abzukühlen. Da wollte ich zuerst auch nicht mitmachen, aber am Ende hat er mich mit seinen Kulleraugen natürlich rumgekriegt. Das Ende vom Lied war, dass wir vom Wachdienst erwischt wurden und abhauen mussten. Niko, der ja eine ganze Ecke schlanker und beweglicher ist, kam schneller aus dem Wasser als ich und schaffte es noch, seine Siebensachen aufzusammeln, bevor er stiften ging. Ich hab es dagegen nur mit knapper Not vom Gelände geschafft – ohne meine Sachen, triefnass und in Unterhose!

Himmel, war das peinlich, so durch die Stadt bis nach Hause laufen zu müssen! Und der Ärger am nächsten Tag! Denn natürlich hatten die meinen Kram gefunden und mich dank Personalausweis im Portemonnaie ausfindig gemacht. Von offizieller Seite gab es damals nur eine Verwarnung, aber meine Eltern waren natürlich stinksauer. Und das war ja auch nur ein Beispiel von etlichen, wo Nikos „tolle“ Ideen uns in die Bredouille gebracht haben. Vermutlich lande ich wegen ihm eines Tages noch im Knast oder gleich ganz in der Hölle, Gott verflucht!

Aber Fakt ist nun mal: Hier bin ich und dieser ominöse Wunderknabe taucht hoffentlich auch bald auf.

„Pünktlichkeit ist jedenfalls nicht seine Stärke“, stelle ich konsterniert fest. Ich blicke demonstrativ auf mein Handy-Display. „Hattest du nicht was von halb vier gesagt?“ Niko zuckt grinsend die Achseln.

„Zwischen halb und vier hab ich gesagt, Miesepeter“, korrigiert er mich gleich darauf.

„Es ist fast fünf nach vier“, stelle ich fest, hebe zuerst die Brauen und dann mein Colaglas.

„Jetzt sei mal nicht päpstlicher als der Papst, okay? Als hättest du heute noch was anderes vorgehabt als ein Date mit deiner Couch und dem Pay-TV.“

Es klingt leicht abfällig und im ersten Moment bin ich fast ein bisschen beleidigt.

„Eigentlich war es ein Date mit dem Pay-TV, meiner Couch und einer hausgemachten Lasagne“, sage ich hoheitsvoll. Niko prustet leise und stößt mich an.

„Wow!“, meint er. „Ein waschechter Dreier also. Ich gebe zu, jetzt bin ich beeindruckt.“ Okay, das reicht jetzt.

„Pfft“, mache ich abfällig und nehme einen neuerlichen Schluck Cola. „Den Dreier kannst du dir von mir aus da hinschieben, wo der Affe seine Nuss versteckt. Frag doch, wen du willst, ob er sich deinetwegen hier zum Hampelmann macht, ich für meinen Teil gehe jetzt jedenfalls nach Hause.“ Ich mache bereits Anstalten, mich zu erheben, doch da zuckt Nikos Hand nach vorn und packt mich am Ärmel meines Sweatshirts.

„Nun hab dich nicht so, du Mimose“, zischt er halblaut. „Da kommt er doch gerade!“ Im nächsten Moment setzt er ein strahlendes Lächeln auf und drückt den Rücken durch.

„Hiiieer“, trällert er und hebt eine Hand, um dem Mann zuzuwinken, der soeben das Café betreten hat und nun, nach einem Nicken in unsere Richtung, direkt auf uns zusteuert.

Okay, zugegeben, auch wenn ich das eigentlich schon wusste, aber in natura ist dieser Alexander eine glatte Zwölf auf meiner persönlichen Richterskala, eine echte Sahneschnitte. Ich schätze ihn auf ungefähr mein Alter, eventuell ein bisschen jünger, allerdings sind wir ansonsten so verschieden wie Tag und Nacht. Er ist groß, breitschultrig, mit schmalen Hüften und einem Gesicht zum Niederknien. Schwarzes Haar, braune Augen, die mich an Zartbitterschokolade erinnern, kräftige Brauen und volle Lippen unter einer scharf gezeichneten Nase. Er wirkt selbstsicher, entspannt und, zumindest auf den ersten Blick, weder prollig noch abgehoben.

Hm. Warten wir mal ab, wenn er den Mund aufmacht.

Inzwischen ist er bei uns angekommen und streckt mir lächelnd seine Rechte hin. Niko ignoriert er dagegen völlig.

„Hi. Ich bin Alexander Kleist. Und du bist dann sicher Matthias, nehme ich an?“

„Korrekt.“ Ich ergreife die dargebotene Hand und schüttle sie kurz.

„Setz dich doch“, mischt sich Niko jetzt ein und deutet auf den Stuhl neben sich. „Magst du was trinken? Oder hast du Hunger?“

Er schaut sich nach der Kellnerin um, doch Alexander kommt ihm zuvor und winkt die junge Frau heran. Die hat offenbar sowieso bloß darauf gelauert, sich ihm nähern zu dürfen, zumindest legt ihr Gesichtsausdruck und die Art, wie sie sich neben unserem Tisch lächelnd und mit den Wimpern klimpernd in Positur wirft, das nahe.

„Was darf’s denn sein?“, säuselt sie und ihr ist mehr als deutlich anzusehen, was sie gerade denkt. Wahrscheinlich hätte sie nicht das geringste Problem damit, wenn die Antwort auf ihre Frage lauten würde: Dich! Jetzt sofort! Hier auf dem Tisch und vor allen Gästen!

Pah! Weiber! Mein Schulterteufelchen schnaubt geringschätzig und ich muss ihm kopfschüttelnd beipflichten.

Dass die auch immer gleich in Begattungsstarre fallen müssen, kaum taucht ein halbwegs attraktiver Kerl in ihrem Dunstkreis auf! Aber uns Kerlen vorwerfen, wir wären oberflächlich und würden immer nur an das Eine denken! Als ob!

Und du selbst bist ja zum Glück auch kein bisschen wie sie!, höre ich meinen Schulterteufel jetzt süffisant flüstern. Gib’s doch zu, du hast doch gerade exakt dasselbe gedacht und wenn dieser Kerl dich jetzt vor aller Augen auf dem Tisch nageln wollen würde, du würdest doch auch nicht ablehnen, oder irre ich mich?

So ein Blödsinn!, wehre ich mich gegen diese Unterstellung. Erstens würde ich mich von niemandem in aller Öffentlichkeit nageln lassen, wie du das nennst, und zweitens geht’s hier um Niko, nicht um mich!

Gedanklich zeige ich dem winzigen Hornviech noch meinen Mittelfinger, ignoriere sein Kichern und konzentriere mich lieber wieder auf meine Umgebung. Alexander geht in keiner Weise auf die Flirtversuche der Bedienung ein, ordert für sich einen Kaffee und wendet sich dann erneut an mich.

„Also, dann erzähl doch mal“, fordert er mich ohne weitere Umschweife auf. „Warum willst du dich ausgerechnet in meine Hände begeben?“

„Ähm …“ Ich sehe zu Niko, teils Hilfe suchend, teils verärgert. Will ich wirklich wissen, was mein ach so guter Freund diesem Typen hinter meinem Rücken weisgemacht hat? Ich hätte ihn vielleicht besser vorher fragen sollen. Womöglich hat er diesem Alexander ja erzählt, dass ich einer dieser verzweifelten Dicken wäre, die zu Haus in ihrem Kämmerlein vor sich hin weinen und sich verzweifelt eine gute Fee wünschen, die ihnen die überflüssigen Pfunde mit einem einzigen Winken ihres Zauberstabes weghext?

Niko ist zwar mein bester Freund und ich würde ihm bedenkenlos mein Leben anvertrauen, aber wenn es um irgendwelche Kerle geht, die er unbedingt flachlegen will, traue ich ihm fast alles zu. Reine Erfahrungssache!

Dass ich jetzt hier seinetwegen einen auf Jammerlappen mache, kann er trotzdem vergessen! Abgesehen davon lass ich mich auch nur höchst ungern in irgendwelche Schubladen stecken.

Ich klappe also den Mund auf, um eine entsprechend flapsige Antwort rauszuhauen, doch Niko kommt mir zuvor. Kunststück, er kennt mich verdammt gut und ahnt vermutlich, was ich gerade denke.

„Matze will halt endlich was tun, um wieder in Form zu kommen, und nachdem ich ihm so viel von dir vorgeschwärmt habe, wie super du aussiehst und wie toll deine Tipps zum Thema Ernährung und Fitness sind, da gab’s für ihn ja praktisch kein Halten mehr. Und seit er deine Videos gesehen hat, erst recht! Er hat zu mir gemeint, es wäre sein Traum, dass du ihn unter deine Fittiche nimmst, aber selbst würde er sich ja nie trauen, dich drauf anzusprechen. Na ja, und weil du und ich uns ja schon persönlich kennen, dachte ich mir, ich ebne ihm einfach mal den Weg. Ich meine, was tut man nicht alles für einen guten Freund, nicht wahr?“, plappert er drauflos.

Und natürlich hat er vollkommen recht: Was tut man nicht alles …?

Ich zum Beispiel stelle mir gerade in den lebhaftesten Farben vor, Niko mit bloßen Händen zu erwürgen!

Laut sage ich jedoch, wenn auch zähneknirschend: „Stimmt. Was täte ich nur ohne meinen Kumpel Niko?“

Mein Lächeln fällt etwas gezwungen aus und in Gedanken füge ich noch eine ganze Liste mit den Dingen hinzu, die ich jetzt – im Gegensatz zu dieser Schmierenkomödie hier – wirklich gern tun würde.

Warte nur, wenn wir nachher zu Hause sind, Freundchen!

Alexander schaut zwischen uns hin und her. Sein Blick ist etwas skeptisch und Niko versetzt mir unter dem Tisch einen raschen Tritt vors Schienbein, der mich zusammenzucken lässt, lächelt aber dabei weiter in Alexanders Richtung.

„Okay“, meint der schließlich. „Dann lass uns doch zuerst mal über ein paar grundsätzliche Dinge reden. Also darüber, wie wichtig Essen für dich ist, wie deine Ernährung normalerweise aussieht, was für ein Sport dich interessiert und so was alles.“

„Na, ich würde sagen, Essen ist auf jeden Fall verdammt wichtig“, erwidere ich leicht sarkastisch, lehne mich zurück und verschränke die Arme. „Ich wüsste zumindest noch von keinem, dem es gelungen wäre, komplett damit aufzuhören. Ich hab zwar schon mal gehört, dass es den einen oder anderen Spinner geben soll, der meint, sich per Fotosynthese ernähren zu können, aber vielleicht sind diese Typen ja auch bloß die nächste Stufe der menschlichen Evolution oder so was Ähnliches. Ich bin mir jedenfalls ziemlich sicher, dass ich nicht dazugehöre.“

Niko schaut mich entsetzt an und Alexander runzelt kurz die Stirn.

Ach? Habe ich den Herrn Fitness- und Lifestyle-Guru jetzt etwa vergrätzt? Super, dann geht dieser Kelch ja womöglich an mir vorüber und der Tag ist vielleicht doch noch zu retten?

Im nächsten Moment entspannt sich Alexanders Miene wieder und dann grinst er sogar eindeutig amüsiert. Mist.

„Dein Sinn für Humor gefällt mir. Aber nein“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Das mit der Photosynthese funktioniert garantiert nicht, da bin ich mir sehr sicher. Ansonsten mach dir mal keine Sorgen. Ich kann dir versichern, dass du auch unter meiner Obhut satt werden und obendrein mit Genuss essen kannst. Wenn du meine Videos schon kennst, dann weißt du ja auch sicher, dass ich den Schwerpunkt weniger auf strikte Diät als auf Ernährungsumstellung lege.“ Er hebt bedeutungsvoll eine Braue und in seinen Augen blitzt erneut ein belustigter Funke auf.

Hm, kann es etwa sein, dass er Nikos Scharade durchschaut und längst kapiert hat, dass ich in Wahrheit nicht das geringste Interesse daran habe, meine Ernährung umzustellen? Mit anderen Worten, dass Niko und ich hier gerade vorgeführt werden?

„Aber das war es eigentlich nicht, worauf ich mit meiner Frage abgezielt habe“, fährt er fort und wird wieder ernst. Dann verschränkt er die Finger vor sich auf der Tischplatte und ergänzt: „Mir ging es eher darum, ob du dich zum Beispiel mit Essen belohnst oder tröstest. Der Grundstein für solche Mechanismen wird ja häufig schon in der Kindheit oder frühen Jugend gelegt und später fällt es dann extrem schwer, diese Gewohnheiten wieder loszuwerden. Was würdest du sagen – ist es bei dir so?“

Jetzt bin ich derjenige, der die Stirn runzelt. Aber gleich darauf ertappe ich mich dabei, dass ich tatsächlich über die Frage nachdenke.

„Na ja“, sage ich schließlich achselzuckend. „Als kleiner Junge war ich eher zu dünn. Meine Mutter war immer besorgt, ich würde nicht genug essen. Später änderte sich das aber leider und in der Mittelstufe nannten mich dann schon alle Klößchen.“

Alexander nickt mit ernster Miene.

„Klößchen? Wie nett“, kommentiert er ironisch. „Wurdest du darüber hinaus gemobbt? Wegen deiner Figur, meine ich?“, will er wissen und plötzlich regt sich Trotz in mir. Was geht ihn das denn überhaupt an? Ich meine, ich bin ihm vor fünf Minuten zum allerersten Mal begegnet, muss er mich da jetzt schon solche persönlichen Dinge fragen? Und vor allem: Muss er die wirklich wissen, nur um mir seine sogenannte Ernährungsumstellung schmackhaft machen zu können?

Oder geht es ihm in Wahrheit vielleicht nur darum, sich genug Material zu verschaffen, um sich später bei seinen Freunden über mich lustig machen zu können und die Lacher auf seiner Seite zu haben? Denn ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass ein Kerl wie er einen riesigen Freundeskreis hat und in meiner Einbildung sind das natürlich auch alles solche Traumkerle wie er selbst einer ist.

Was liegt da näher als die Vorstellung, dass diese imaginären Schönlinge sich geradezu ausschütten vor Lachen, wenn Alexander ihnen von dem bedauernswerten Klops erzählt, der ihm tränenreich das Herz ausgeschüttet hat und sich nichts sehnlicher wünscht als das, was er nie und nimmer haben kann? Nämlich endlich dazuzugehören, einer von ihnen zu sein und auszusehen wie Mr. Schön und Sexy himself, Alexander Kleist?

Klar, meint mein Schulterteufelchen und schwenkt lässig seinen Dreizack in Alexanders Richtung. Guck dir den Typen doch nur an! Der schaut doch garantiert jeden Morgen in den Spiegel und würde sich am liebsten selbst ficken!

Ja, vermutlich, denke ich mir meine Erwiderung in seltener Eintracht mit meinem persönlichen Dämon. Und witzig ist er auch noch! Man denke nur an dieses gelungene Wortspiel: Ernährungsumstellung und schmackhaft machen!

„Ich glaube nicht, dass das hier irgendwas zur Sache tut“, erkläre ich entsprechend kühl.

Alexander erwidert meinen Blick stumm, wirkt regelrecht nachdenklich, und ich merke, dass Niko neben mir ganz unruhig wird. Vermutlich sieht er schon seine Felle wegschwimmen. Soll mir aber egal sein, ich wollte schließlich von Anfang an diesen Scheiß nicht machen. Hätte ich mich doch bloß nicht von ihm dazu überreden lassen!

„Ähm, vielleicht … sollten wir diesen Punkt … Ähm, ich weiß nicht, erst mal überspringen oder so?“, stottert er jetzt, während ich schon drauf und dran bin, die ganze Farce zu beenden, indem ich einfach verschwinde. Doch plötzlich kommt Leben in Alexander. Er lehnt sich nach vorn und greift in seine Gesäßtasche, holt seinen Geldbeutel raus und klappt ihn auf. Ich erwarte halb, dass er einen Schein auf den Tisch legt oder der Bedienung winkt, um zu zahlen und dann einfach abzuhauen, aber stattdessen zieht er ein reichlich mitgenommen wirkendes Foto aus einem der Fächer und legt es zwischen uns auf den Tisch.

„Das war ich“, sagt er und deutet darauf. „Mit achtzehn. Zu der Zeit wog ich 125 Kilo und wurde von allen in meiner Klasse nur Fettsack, Schwabbel oder Tonne genannt. Damals hatte ich schon unzählige Diätversuche hinter mir und jedes Mal hat anschließend der Jo-Jo-Effekt ein bisschen härter zugeschlagen. Das Foto hier ist zwei Wochen vor einem Suizidversuch entstanden.“ Er grinst schief.

„Na ja, Suizidversuch ist ein großes Wort für das, was ich gemacht habe. Ich wollte halt einfach nicht mehr so weiterleben und bin eines schönen Tages aufs Dach meiner Schule gestiegen, um runterzuspringen. Aber als ich dann an der Kante stand und runterschaute, hab ich plötzlich Angst bekommen. Um es kurz zu machen: Ich bin nicht gesprungen, aber ich hab mir selbst ein Versprechen gegeben. Ich hab mir gesagt, dass ich mir noch eine letzte Chance gebe, mein Leben komplett ändere und endlich dauerhaft abnehme. Ein letzter Versuch noch, und wenn der wieder misslingt, mache ich ernst und blase mir endgültig das Licht aus.“

Er zuckt die Achseln.

„Und da ich heute hier vor euch sitze, könnt ihr euch denken, dass es tatsächlich geklappt hat. Vielleicht lag es ja daran, dass ich im Grunde gar nicht sterben wollte, keine Ahnung, auf jeden Fall hab ich diesen letzten Versuch zum ersten Mal völlig anders angefangen. Ich wollte es richtig machen und hab deshalb nicht wieder irgendeine Diät ausprobiert, die schnelle Erfolge verspricht, sondern bin als Erstes zu meinem Hausarzt gegangen. Der war sehr verständnisvoll, hat mich ausführlich untersucht und schließlich zu einer Ernährungsberatung geschickt. Von da an ging es tatsächlich nicht nur abwärts mit meinem Gewicht, sondern ich schaffte es auch, die Abnahme zu halten, indem ich meine Ernährung und meine Lebensgewohnheiten total umgekrempelt habe. Es war verflucht mühsam, keine Frage, und natürlich gab es auch Rückschläge, aber ich hab mich letzten Endes durchgebissen, bin zum Sport gegangen und habe mir irgendwann auch Unterstützung durch einen Psychologen geholt. Denn eins hab ich in dieser Zeit begriffen: Ich war nicht einfach dick, weil ich so verfressen war, sondern ich habe mit Essen versucht, andere Bedürfnisse zu befriedigen. Essen kann eine Sucht sein, so wie jede andere auch, darum hat das bei mir auch bis zu einem gewissen Punkt funktioniert. Ich hab gegessen und fühlte mich damit im ersten Moment zufrieden, aber der Effekt war nie dauerhaft. Und wie bei jedem anderen Suchtmittel hat mein Körper mit der Zeit immer mehr verlangt, also hab ich immer weitergegessen, immer mehr. Irgendwann hat es auch gar keine Rolle mehr gespielt, was es war, Hauptsache, mein Magen war voll. Das zu verstehen, das war für mich persönlich das Allerwichtigste und ich denke, ohne diese Erkenntnis wäre ich heute immer noch fett. Oder eben tot.“

Er schweigt einen Moment und fügt dann hinzu: „Das war es, worauf meine Frage abzielte. Denn wenn es bei dir auch so ist, dass du irgendwelche Dinge mit Essen zu kompensieren versuchst, dann ist eine Umstellung der Ernährung und Sport nur die halbe Miete. Ich würde dich zwar trotzdem coachen, aber nur unter der Bedingung, dass du parallel dazu auch die anderen Baustellen angehst. Sonst rutschst du über kurz oder lang zurück in die Spirale der schlechten Gewohnheiten und nimmst wieder zu.“

Verblüfft starre ich ihn an. Okay, das hatte ich ehrlich nicht erwartet und das Wort „dumm“ in Verbindung mit Alexander streiche ich wohl auch besser aus meinem Bewusstsein. Der Typ ist weit weniger oberflächlich, als ich erwartet hatte, und vage dämmert mir die unbequeme Erkenntnis, dass ich selbst offenbar auch nicht frei bin vom Schubladendenken.

Entsprechend verlegen kratze ich mich am Kinn, sehe noch mal auf das Foto und sage: „Na ja, ich denke, bei mir ist es eher so, dass ich einfach ein Genussmensch bin. Ich esse halt gern. Gut, ich hab einen Job, der mich manchmal ziemlich stresst, aber dass ich da mit Essen irgendwas kompensiere … Ne, also das Gefühl hab ich nicht. Okay“, schränke ich gleich darauf ein, „gelegentlich passiert es schon mal, dass ich denke, ich müsste mir was gönnen, zum Beispiel, wenn der Dienst echt Scheiße war oder sonst irgendwas. Aber dann stelle ich mich nicht in die Küche, um mir einfach irgendwas zu essen zu machen, damit der Magen schnell voll wird, sondern eher, weil ich mich beim Kochen total gut entspanne.“

Alexander hat aufmerksam zugehört und nickt jetzt lächelnd.

„Das ist schon mal gut. Und früher? Wie war das da? Du hast vorhin gesagt, du wurdest ungefähr ab der Mittelstufe Klößchen genannt, hab ich das richtig verstanden?“

„Ja. Schon“, gebe ich zu. „Da gab es tatsächlich eine Phase, wo ich mich ziemlich beschissen gefühlt habe und dass die anderen mich immer wegen meiner Figur gedisst haben, hat es nicht gerade besser gemacht. Im Gegenteil. Aber zum Glück kam dann ja Niko in meine Klasse und hat nicht lockergelassen, bis wir Freunde geworden sind. Ab da war es einigermaßen erträglich für mich.“

„Ja, nicht wahr?“ Niko strahlt übers ganze Gesicht und klimpert mit den Wimpern in Richtung seines Schwarms.

„Freut mich, das zu hören.“ Alexander nickt ihm zu. „Und dass du, zumindest was das angeht, keine dieser oberflächlichen Arschkrampen bist.“

Könnte man Nikos anschließendes Strahlen zur Gewinnung von Energie nutzen, wäre der Kohle- und Atomausstieg längst Geschichte. Allerdings dauert das nur einen Moment. Dann scheint der „zumindest was das angeht“-Teil von Alexanders Satz in seinem Kopf anzukommen und das Grinsen erlischt schlagartig.

Hm. Scheint ja fast so, als wäre dieser Kerl wirklich mehr als bloß ein hübsches Gesicht, Muskeln und Sixpack. Wobei …

Ich lasse meinen Blick über Alexander gleiten und stelle fest, dass das Gesamtpaket – nachdem ich jetzt weiß, dass er wohl doch kein arrogantes, von sich selbst eingenommenes Arschloch ist – eigentlich sehr reizvoll auf mich wirkt. Ich glaube zwar, kaum ein schwuler Mann würde ein Sahnestück wie diesen Alexander ernsthaft von der Bettkante schubsen wollen, aber die Tatsache, dass er nicht nur ausnehmend attraktiv ist, sondern noch dazu ganz offensichtlich Empathie und Intelligenz besitzt, erhöht seinen Attraktivitätsfaktor mindestens noch um das Doppelte. Für mich jedenfalls.

Aber schon im nächsten Moment rufe ich mich energisch zur Ordnung. Es gibt einfach so viele gute Gründe, Alexander nicht spontan auf irgendein Podest zu stellen, dass ich kaum weiß, wo ich da anfangen soll.

Vielleicht der Einfachheit halber damit, dass ich den Typen doch eigentlich überhaupt nicht kenne, und ihn im Geist mit Heiligenschein und Engelsflügeln auszustaffieren, bloß weil er fünf Minuten nach unserer ersten Begegnung eine rührselige Anekdote aus seiner Jugend erzählt, wäre nicht nur naiv, sondern schlicht und ergreifend dumm. Ich meine, vielleicht stimmt das ja alles überhaupt nicht. Fotos kann man mit Computerprogrammen verfälschen und vielleicht benutzt er die Story über sein eigenes Dicksein bloß als Köder?

Sicher!, meint mein Miniatur-Luzifer ironisch. Weil er das ja auch bestimmt nötig hat, um irgendeinen bedauernswerten Fettwanst zu finden, der bei seiner Video-Serie mitmacht! Davon laufen schließlich kaum welche in freier Wildbahn rum und die wenigen, die es gibt, wollen auch ums Verrecken nicht ausgerechnet von diesem Adonis gecoacht werden. Völlig logisch!

Okay, da ist sicher was dran, aber wenn wir das mal außen vor lassen, wäre da auch noch die nicht ganz unerhebliche Tatsache, dass der Weg zwischen Verklärung und Verknalltsein meistens ziemlich kurz ist. Und wenn ich eines ganz sicher nicht will, dann, mich in diesen Mann zu verknallen. Nicht allein deshalb, weil ich mir lebhaft vorstellen kann, wie nicht existent meine Chancen bei jemandem wie ihm sind, sondern vor allem, weil mein bester Freund scharf auf ihn ist. Selbst wenn der von Alexander nicht mehr will, als ihn ein oder zwei Mal in die Horizontale zu zerren, ist das trotzdem immer noch gleichbedeutend mit einem riesigen „Pfoten weg!“-Schild um seinen wohlgeformten Hals.

Und – last but not least – wer weiß denn schon, was noch alles passiert? Vielleicht ist Alexander am Ende ja genau der eine Mann, der Niko endlich von seiner Flatterhaftigkeit heilt? Bei dem er sozusagen sesshaft wird? Wer wäre denn da ich, Klößchen Matthias Klapproth, dass ausgerechnet ich versuchen dürfte, mich zwischen sie zu drängen?

Na bitte. Sag ich doch.

„Hey?“ Niko runzelt die Stirn und macht einen beleidigten Schmollmund in Alexanders Richtung. Er sieht süß aus, wenn er so schaut, und das weiß er auch, weshalb er dieses Mittel oft und gern einsetzt. „Hast du mich gerade oberflächlich genannt?“

Alexander grinst ihn an.

„Bist du das denn nicht?“

Nun blinzelt mein Kumpel, während ich mir ein spontanes Lachen verkneifen muss und mich stattdessen in ein künstliches Husten zu retten versuche. Mit der Retourkutsche hat Niko sicher nicht gerechnet und wäre die Gegenfrage in einem etwas schärferen Tonfall gestellt worden, könnte man auch zu Recht behaupten, sie wäre beleidigend.

Jetzt dreht Niko sich jedoch zu mir, schaut mich empört und gleichzeitig Hilfe suchend an, weshalb ich mich rasch auf meine Rolle als sein bester Freund besinne.

„Niko ist nicht oberflächlich“, höre ich mich denn auch pflichtschuldig sagen und kreuze dabei im Geist die Finger.

Okay, es ist nur eine halbe Lüge, aber das macht es auch nicht besser, oder?

Um mein Gewissen zu beruhigen, erinnere ich mich daran, dass Niko als mein bester Freund immer zu mir gestanden und mich verteidigt hat, egal gegen wen, und dass er jederzeit für mich da gewesen ist, wenn ich ihn brauchte. Summa summarum ist es also nur recht und billig, ihn jetzt ebenfalls in Schutz zu nehmen. Wenn ich die Wahrheit dafür ein klitzekleines bisschen zurechtbiegen muss, spielt das keine Rolle. Loyalität unter Freunden geht eindeutig vor!

Was Niko und andere Männer angeht, muss ich Alexander allerdings recht geben, denn was das betrifft, ist mein Kindheitsfreund, wie ich ja schon erzählt habe, mehr als nur ein bisschen oberflächlich. Manche würden ihn vermutlich als Schlampe bezeichnen und selbst da könnte ich nicht aus vollem Herzen widersprechen.

Andererseits ist Niko noch jung genug, er sieht verdammt gut aus und warum soll er seine Chancen denn nicht nutzen? Alt und faltig werden wir alle von allein und dann ist es zu spät. Selbst ich als ewiges Mauerblümchen weiß, wie in der Szene der Hase läuft. Der eigene Marktwert, der ohnehin schon fast nur von irgendwelchen Äußerlichkeiten abhängt, verhält sich genau entgegengesetzt zum Alter. Nimmt die Anzahl der Jahre zu – vor allem sichtbar! – geht das Interesse potenzieller Sexualpartner rapide zurück und ehe man so recht weiß, wie einem geschieht, wird man aussortiert.

Falten und graue Schläfen machen sexy? Wach auf, Opa! Die Szene ist schließlich kein Pflegeheim. Da zählt nur glatte Haut, ein straffer Körper und ein knackiger Arsch.

„Nicht?“ Alexander nimmt gelassen einen Schluck von seinem Kaffee, den die Kellnerin ihm inzwischen serviert hat – noch immer im Flirtmodus übrigens, und zu ihrem kaum verhohlenen Frust noch immer unbeachtet vom Objekt ihrer Begierde. Dann stellt er die Tasse ab und lächelt sichtlich amüsiert.

„Also, Niko, dann muss ich wohl deutlicher werden. Denkst du wirklich, ich kapiere nicht, was du hier in Wirklichkeit abziehst? Du versuchst seit vier Wochen, jedes Mal, wenn wir uns – rein zufällig“, er malt mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft, „irgendwo begegnen, mich anzubaggern und abzuschleppen und genauso lange versuche ich, dir auf die freundliche Art zu vermitteln, dass ich nicht interessiert bin. Und erzähl mir jetzt bitte nicht noch mal das Märchen, dass du nur hier bist, um deinem Freund Matthias zu helfen, weil der zu schüchtern ist, um mich selbst anzusprechen. Denn mal unter uns: Schüchtern wirkt Matthias auf mich nicht gerade und davon abgesehen fehlt ihm eindeutig jeglicher Enthusiasmus für die Sache. Ich bilde mir zwar bestimmt nicht ein, dass er aus Dankbarkeit vor mir auf die Knie fallen müssten, nur weil ich in Erwägung ziehe, ihn in mein Video-Projekt aufzunehmen, aber er macht nicht gerade den Eindruck, als hätte er auch nur einen Hauch Interesse an dem Ganzen. Wenn ich also raten müsste, was hier los ist, würde ich vermuten, du hast ihn zu dem Ganzen überredet und hergeschleppt, um einen Vorwand für weitere Zusammentreffen mit mir zu haben. Stimmt’s oder hab ich recht?“

Niko starrt ihn an, wird abwechselnd blass und flammend rot und senkt schließlich den Kopf.

„Ja“, sagt er leise. Mit einem Schlag ist sein ganzes Kokettieren, das Wimperngeklimper, der Schmollmund und die aufgesetzte Fröhlichkeit komplett verschwunden. Neben mir sitzt nicht mehr Niko, die männermordende Schlampe, sondern mein Kumpel, den ich seit Ewigkeiten kenne, der mit mir durch dick und dünn geht und mit dem man Pferde stehlen kann. Er macht eine wegwerfende Handbewegung.

„Du hast ja recht“, ergänzt er, lässt sich in seinem Stuhl zurücksinken und verschränkt seufzend die Arme vor der Brust. „Den Versuch war’s aber trotzdem wert“, schiebt er nach und hebt einen Mundwinkel. Alexander lacht leise.

„Findest du?“

„Na klar. Um einen Mann wie dich rumzukriegen, würde ich doch praktisch alles tun.“ Und da klimpern sie wieder, Nikos Wimpern.

Ich schüttle den Kopf. Der Kerl kann es doch einfach nicht sein lassen.

Jetzt wird Alexander sehr ernst. Er lehnt sich nach vorn und mustert meinen Freund eindringlich.

„Pass mal auf, Niko“, sagt er. „Du bist wirklich verdammt süß und ich kann nicht bestreiten, dass mir deine Hartnäckigkeit durchaus schmeichelt. Wenn ich bloß auf eine flüchtige Bettgeschichte aus wäre, wäre ich vielleicht sogar nicht mal abgeneigt. Allerdings ist dir sicher auch klar, dass du in der Szene kein Unbekannter bist. Man hat mich inzwischen mehr als ein Mal vor dir gewarnt und ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass du hören möchtest, was man mir alles über dich erzählt hat oder wie manche dich bezeichnen.“

Er macht eine kurze Pause und diesmal setzt sich das Rot in Nikos Wangen dauerhaft fest.

„Versteh mich nicht falsch“, fährt Alexander fort. „Ich habe weiß Gott nichts dagegen, wenn jemand seine Freiheit auskostet, sich nicht festlegen mag und – zu gut Deutsch – wild in der Gegend rumvögelt. Das ist völlig okay und dein gutes Recht, wenn und solange es dich glücklich macht. Ich war eine ganze Zeit lang auch nicht anders. Es hat mir damals einen Kick verschafft, zu sehen, wie viele Männer mich plötzlich wollten, nachdem ich früher immer nur der Fettklops war, den keiner beachtet oder bestenfalls mitleidig belächelt hat. Aber heute sehe ich mich weder als Trophäe, noch bin ich scharf drauf, mir möglichst viele Kerben in meinen Bettpfosten schnitzen zu können. Das würde auf Dauer sowieso höchstens dazu führen, dass das Teil unter mir zusammenkracht.“

Er lächelt aufmunternd. „Was ich damit eigentlich sagen will, ist Folgendes: Ich will nicht ficken, sondern Liebe machen, verstehst du? Mit einem Menschen, der mir was bedeutet und dem ich ebenso sehr am Herzen liege wie er mir. Und ein Kerl, der die Männer öfter wechselt als manch anderer seine Unterwäsche – sorry, aber der ist ganz bestimmt nicht der Richtige dafür.“

Alexander hat ruhig gesprochen und obwohl seine Ansage ziemlich starker Tobak ist, liegt überhaupt nichts Abfälliges in seinem Tonfall. Seine Miene drückt sogar ehrliches Bedauern aus.

Boah, ist der Kerl echt? Das gibt’s ja gar nicht! So viele gute Eigenschaften auf einem Haufen, da frage ich mich doch unwillkürlich, wo eigentlich der Haken ist. Niko beschäftigt aber offensichtlich was anderes.

„Und wenn ich dir beweise, dass ich auch ganz anders sein kann? Treu und zuverlässig?“, fragt er und sein Blick hängt bittend an Alexanders Gesicht. Doch der schüttelt den Kopf, ohne zu lächeln.

„Tu dir und mir einen Gefallen und versuch es erst gar nicht“, erwidert er. „Du bist nicht so und wenn du ehrlich zu dir selbst bist, dann weißt du das auch. Vielleicht kommst du irgendwann an den Punkt, wo sich Treue und eine feste Beziehung für dich richtig anfühlen, und dann passt es auch, aber im Augenblick würdest du dich nur verbiegen. Am Ende wären wir beide unglücklich und würden uns wünschen, wir wären einander nie begegnet. Da ist es doch besser, wir verkehren weiterhin nur auf freundschaftlicher Ebene, meinst du nicht?“

Niko hat ihm mit stetig wechselndem Gesichtsausdruck zugehört. Widerspruch und Resignation waren dabei am deutlichsten erkennbar, doch am Ende blitzt es in seinen Augen und ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich wissen will, was das bedeutet. Aber er lächelt und nickt, als Alexander verstummt, legt den Kopf schräg und sagt: „Du hast vermutlich recht. Also dann, lass uns stattdessen eben Freunde werden.“

Damit streckt er die rechte Hand aus und Alexander ergreift sie, während er eindeutig erleichtert wirkt.

Ich dagegen traue dem Frieden nicht. Es passt nicht zu Niko, dass er so leicht einknickt. Doch ich komme nicht dazu, längere Überlegungen anzustellen, denn jetzt wendet sich Alexander mir wieder zu.

„Nachdem das also geklärt wäre – wie sieht es nun mit dir aus? Hast du trotzdem Interesse, dich von mir coachen zu lassen?“

Bitte? Ich dachte, das Thema wäre jetzt endgültig vom Tisch?

„Ähm, also … eigentlich …“

„Ich glaube nämlich, wenn du ein bisschen mehr aus dir machen würdest, wärst du ein echter Hingucker“, setzt Alexander noch einen oben drauf und reizt mich damit zum Lachen.

Wenn ich …? Wie bitte? Was hat der denn geraucht?

„Guter Witz“, sage ich und schüttle den Kopf. „Ne, lass mal. Ich hab mehr als einen Spiegel zu Hause und schaue sogar gelegentlich rein, weißt du?“

Alexander hebt die Brauen.

„Wie meinst du das?“

„Na, also bitte!“ Ich schnaube und runzle die Stirn, würdige ihn aber keiner weiteren Erklärung. Was soll das Ganze jetzt noch? Will er mich verarschen, gerade nachdem ich anfing, ihn halbwegs sympathisch zu finden?

„Nein, ernsthaft, Matthias“, insistiert Alexander. „Okay, du hast etwas Übergewicht und könntest auch ein kleines Umstyling durchaus vertragen, aber ich finde, davon mal abgesehen bist du ein durchaus attraktiver Mann.“

Sprachlos starre ich ihn an und muss meine Kinnlade daran hindern, ungebremst auf die Tischplatte zu knallen. Was hat er da gerade gesagt? Alexander findet mich attraktiv? Mich?

Und das, obwohl Niko neben mir sitzt und er selbst im Vergleich zu uns beiden als absoluter Adonis durchgeht? Das kann doch wohl wirklich nur Verarsche sein!

Wütend stemme ich mich hoch und sage: „Okay, du hattest deinen Spaß. Kann ich nur leider so gar nicht drüber lachen und deshalb mach ich jetzt auch die Fliege. – Kommst du mit oder bleibst du noch hier bei Mr. Supercool?“, frage ich an Niko gewandt. Der schaut sichtlich verwirrt zwischen mir und Alexander hin und her.

„Äh …“

Na, logo. Als ob du gegen diesen Typen anstinken könntest. Mein Schulterteufel rümpft verächtlich die Nase.

„Dann mach’s gut“, knurre ich also bloß und marschiere steifbeinig aus dem Café. Draußen fällt mir ein, dass ich meine Cola nicht bezahlt habe, aber das ist mir jetzt auch schnurz. Das Ganze war schließlich Nikos beschissene Idee, also soll er auch dafür löhnen, basta.

Energisch stoße ich die Fäuste in meine Jackentaschen und ziehe den Kopf zwischen die Schultern, während ich rasch vorwärts stapfe.

In drei Wochen ist Weihnachten und das Wetter entsprechend mies. Wie praktisch jedes Jahr hat es Ende November drei Tage lang geschneit, doch mittlerweile ist davon längst nichts mehr zu sehen. Stattdessen nieselt es meistens aus einem Himmel voller dicker, dunkler Wolken, die Temperaturen dümpeln knapp über dem Gefrierpunkt, ein böiger Wind fegt durch die Straßen und alles ist grau und trist. Typisches Vorweihnachts-Pisswetter eben und selbst die festliche Beleuchtung in Schaufenstern und Einkaufspassagen macht es meiner Meinung nach nicht besser.

Kurz überlege ich, mit dem Bus nach Hause zu fahren, entscheide mich aber dagegen. In meiner Verfassung habe ich das Bedürfnis, mich abzureagieren, und ein halbstündiger Fußmarsch im Nieselregen sollte durchaus dazu geeignet sein, meinen inneren Thermostat wieder runterzukühlen.

Dabei hätte ich doch eigentlich vorher wissen müssen, was dann passiert: Nachdem ich ungefähr zehn Minuten gelaufen bin, öffnet der Himmel so richtig seine Schleusen und bis ich endlich meine Haustür aufsperren und ins Trockene schlüpfen kann, bin ich nass bis auf die Haut.

Typisch.

Das ist doch unter Garantie irgendeins dieser beschissenen Naturgesetze, die immer dann greifen, wenn man es am allerwenigsten gebrauchen kann. Das Ding hat auch bestimmt irgendeinen total abgefahrenen Namen, nur leider kenne ich ihn nicht und ehrlicherweise ist er mir auch gerade scheißegal. Aber kennen tut es bestimmt jeder hier.

Nicht?

Okay, dann noch ein Beispiel: Du hast verschlafen und wirst es nur gerade eben noch pünktlich zur Arbeit schaffen, indem du auf deine sämtlichen lieb gewonnenen Morgenrituale verzichtest. Also wirfst du dich in die nächstbesten Klamotten und sprintest los, als wäre der Teufel hinter deiner Seele her.

Was dann passiert, unterliegt keiner festen Regel. Es kann alles Mögliche sein, was weiß ich? Die Busse streiken, wahlweise gibt dein eigenes Auto ausgerechnet an diesem Morgen den Geist auf, der Fahrstuhl zum Büro bleibt stecken oder irgendein Depp rempelt dich unterwegs an und kippt dir seinen Hipster-Karamell-Macchiato über die Klamotten, völlig egal, such dir irgendwas davon aus. Fakt ist aber: Immer wenn man denkt, schlimmer geht es nicht, tritt dir dein Karma gleich noch mal in den Arsch. Und zwar mit Anlauf.

Okay, mal so richtig nass zu werden ist nun keine Katastrophe. Einmal unter die heiße Dusche und gut ist. Aber nach der Sache von eben hätte ich trotzdem gerne drauf verzichtet, herzlichen Dank. Und meine Laune wird dadurch auch nicht gerade besser. Eher im Gegenteil.

Während ich also ausgesprochen mürrisch unter der Brause stehe und mich langsam aufwärme, male ich mir im Geist aus, was Niko und dieser Alexander jetzt wohl gerade machen. Die Abfuhr, die mein Kumpel kassiert hat, war ja mehr als deutlich, aber ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er sich davon nicht so einfach abschrecken lässt. Viel mehr rechne ich damit, dass sein Jagdtrieb, um es mal so zu nennen, jetzt noch zusätzlich angestachelt worden ist. Außerdem spricht allein die Tatsache, dass er nicht mit mir zusammen den Heimweg angetreten hat, sondern lieber ohne mich bei diesem Alexander geblieben ist, ja wohl eindeutig für sich. Und das, nachdem ich so schamlos für ihn gelogen habe! Treulose Tomate!

Eigentlich hätte er doch, nachdem ich so heldenhaft für ihn eingetreten bin und mich nur wegen ihm überhaupt zu dieser ganzen dämlichen Aktion habe breitschlagen lassen, doch wohl die moralische Verpflichtung gehabt …

Ja, ja, gib’s doch zu! Du bist einfach nur neidisch, sonst nichts!, feixt mein Schulterteufel.

Seufzend senke ich den Kopf und mache die Augen zu, während mir das Wasser übers Gesicht strömt.

Wem will ich denn hier was vormachen? Es war trotz allem meine eigene Entscheidung, Niko zu helfen, und nachdem dieser Fitness-Fuzzi nun wirklich ein echtes Sahnestück ist, kann ich ihm ja wohl kaum einen Vorwurf machen, wenn er lieber noch bei ihm bleibt und versucht, ob nicht doch noch was geht, anstatt mir Gesellschaft zu leisten, während ich mich selbst bemitleide.

An diesen Gedanken klammere ich mich, während ich zu Ende dusche, mich abtrockne und dann lustlos in die Küche schlurfe. Es ist noch früh am Tag, gerade mal kurz vor halb sechs, aber vor dem Fenster herrscht Schwärze und der Regen trommelt an die Scheibe. Wenn ich nicht sowieso schon so mies drauf wäre, könnte mich das glatt deprimieren …

Auf dem Tisch steht eine Schale mit Lebkuchen, wovon ich mir einen nehme und mit zwei hungrigen Bissen verputze. Aber das ist ja mehr was für den hohlen Zahn. Ich öffne also den Kühlschrank und inspiziere den Inhalt, mache ihn wieder zu und schaue in die Vorratsschränke.

Soll ich mir irgendwas kochen? Pasta vielleicht? Nudeln sind doch angeblich ein ausgezeichneter Seelentröster. Hab ich jedenfalls mal irgendwo gelesen.

Bah! Das erinnert mich glatt wieder an Alexanders Pseudo-Psycho-Geschwurbel. Ob ich Essen dazu benutze, um mich zu belohnen oder zu trösten?

Nein, verdammte Axt! Ich benutze Essen, um es zu genießen! Basta! Und ich will nicht bei jedem Stück Fleisch, Kartoffeln oder Kuchen überlegen müssen, wie viele Kalorien das hat und ob es gut für mich ist. Ich weiß, dass es gut für mich ist, wenn es mir schmeckt und mir in dieser kalten Welt ein Gefühl warmen Behagens vermittelt! … Aber bedeutet das nicht, dass es mich eben doch tröstet? Zumindest irgendwie?

Waaah! Was hat dieser Kerl da nur mit mir angestellt? Das ist doch wohl zum Kotzen! Jetzt kann ich nicht mal mehr bei der Vorstellung, eine köstliche, duftende Pizza zu essen, oder eine Portion Nudeln mit Käsesoße, die übliche Vorfreude empfinden. Danke sehr, Mr. Ach-so-cool!

Wütend auf Alexander, Niko, mich und die ganze Welt knalle ich die Schranktüren zu, hole mir aus lauter Trotz lediglich einen Joghurt aus dem Kühlschrank und stapfe hinüber ins Wohnzimmer, wo ich den Fernseher einschalte. Anschließend reiße ich den Foliendeckel des Joghurts ab und – erhalte eine weitere Kostprobe des vorhin erwähnten Naturgesetzes. Oben auf der blassrosa Pampe sitzt ein fetter, grüner Schimmelstöpsel und grinst mich fies an.

Mit einem unterdrückten Fluch knalle ich den Becher auf den Couchtisch. Der Appetit auf irgendwas Essbares ist mir nun endgültig vergangen, obwohl mein Magen immer noch verzweifelte Signale sendet. Ich schaue stattdessen auf die Mattscheibe und stelle fest, dass ich ausgerechnet in einer Schlagersendung gelandet bin. Humba Humba Täterä, wir schunkeln und sind alle gut gelaunt, weil der Programmdirektor das so verordnet hat …

Ja, hat sich denn heute alles gegen mich verschworen?

Wütend schalte ich um, zappe durch sämtliche Programme, finde aber nur den üblichen Schrott. Fake-Reality-Doku-Soaps und Menschen, die geskriptete Probleme wälzen. Ich könnte jetzt natürlich meine Lieblingsserie in meinem Leib-und-Magen-Streaming-Dienst aufrufen, aber irgendwie reizt mich gerade nicht mal mehr das. Ich schiebe einfach nur Frust und zwar gewaltig!

Gerade als ich einigermaßen entnervt den Fernseher komplett ausschalte und mich hochstemme, um in mein Zimmer zu gehen, auf dem PC eine Weile lang sinnlose Ballerspiele zu zocken und mich auf die Art abzureagieren, klirrt ein Schlüssel im Schloss der Wohnungstür.

Niko kommt rein und schüttelt sich demonstrativ.

„Boah, was ein Sauwetter“, sagt er, als er mich sieht. „Schon geduscht? Bist wohl nach Hause gelaufen und nass geworden, hm?“, fügt er grinsend hinzu, nachdem er mich ein Mal von oben bis unten angeschaut hat.

„Wie kommst’n da drauf?“, knurre ich ironisch und ziehe finster die Brauen zusammen. „Ein fetter Trampel wie ich bietet dem Regen halt einfach mehr Angriffsfläche als dein angebeteter Alexander!“

Niko hebt die Brauen.

„Hä?“, macht er.

„Das heißt: Wie bitte“, korrigiere ich ihn bissig. Er schüttelt den Kopf.

„Was ist denn mit dir los?“, will er wissen. „Eben im Bistro warst du auch schon so komisch drauf. Was hat Alex dir denn getan, dass du ihn so vor den Kopf stoßen musstest?“

„Ach? Jetzt ist es schon Alex?“, kontere ich pikiert. „Ich gratuliere. Dann brauchst du meine Hilfe ja sicher nicht mehr und hast auch bestimmt nichts dagegen, wenn ich mich jetzt verdünnisiere.“

„Matze!“ Niko hat sich sehr gerade aufgerichtet und die Fäuste in die Hüften gestemmt. „Jetzt hör auf mit dem Scheiß! Sag mir einfach, was los ist, anstatt hier einen auf beleidigte Diva zu machen, okay?“

Beleidigte Diva? Wie bitte? Dem geb ich gleich eine beleidigte Diva!

„Die beleidigte Diva geht jetzt einen Schokoriegel essen. … oder fünf! … oder zehn! Und jeder, der damit ein Problem hat, kann ihr mal gepflegt den Buckel runterrutschen! Du, dein Alex oder wer auch immer! Ich hab’s nämlich nicht nötig, mich von so einer dämlichen Muskeltunte beleidigen und vorführen zu lassen, kapiert?“

„Was? Aber …“ Niko reißt Mund und Augen auf.

„Und von dir auch nicht!“, fahre ich ihn an und hebe drohend den Finger. „Falls du also mal wieder einen Köder brauchst, um dir einen Kerl klarzumachen – such woanders! Ich stehe ab sofort nämlich nicht mehr zur Verfügung!“

Damit mache ich auf dem Absatz kehrt, marschiere in mein Zimmer und knalle die Tür mit Schwung hinter mir zu.

„Wow“, klingt es noch gedämpft durchs Holz, aber dann herrscht Stille auf der anderen Seite. Offenbar hat Niko beschlossen, mich nicht weiter zu reizen. Eigentlich erstaunlich einfühlsam von ihm und obendrein doch genau das, was ich gerade noch wollte. Aber nun stelle ich plötzlich fest, dass mir das auch nicht passt.

Aaargh! Was bin ich eigentlich? Ein zickiges, pubertäres Mädchen?

Ich tigere in meinem Zimmer hin und her wie ein Puma im Käfig, während in meinem Kopf die Szene mit Alexander im Bistro wieder und wieder abläuft.

„Ich glaube, wenn du ein bisschen mehr aus dir machen würdest, wärst du ein echter Hingucker“, höre ich ihn quasi in einer Endlosschleife sagen.

Ich! Ein Hingucker! Und das aus dem Mund dieses Typen!

Ja, von wegen! Drauf geschissen! Das kann doch nur Verarsche gewesen sein! Oder?

Irgendwann halte ich es nicht mehr aus, öffne leise meine Tür und finde zu meiner Erleichterung den Flur leer vor. Aus Nikos Zimmer dringt gedämpfte Musik an meine Ohren, während ich rüber ins Badezimmer schleiche. Dort haben wir ein geradezu vorsintflutliches Möbelstück stehen, ein Ding aus dem Zeitalter der Dinos, oder zumindest aus den Achtzigern oder so ähnlich. Ein uraltes, potthässliches Erbstück von Nikos Oma, mit Kunststofffronten in Kackbraun und insgesamt einfach nur abscheulich, aber – und deswegen hat ausgerechnet Niko sich bisher immer vehement gegen die Entsorgung gewehrt – an der einen Tür besitzt das Erbstück einen Ganzkörperspiegel.

Meine Argumente, dass wir uns doch auch einen anderen Spiegel besorgen und den einfach an die Wand hängen könnten, wenn es ihm so wichtig ist, sich von oben bis unten betrachten zu können, hat mein Kumpel bisher immer abgeschmettert. Meistens habe ich mir irgendwann im Laufe der unweigerlich folgenden Diskussion vor Augen geführt, was für einen Haufen Krempel Niko eben hinter besagter Spiegeltür verstaut und dann habe ich stets nachgegeben. Zwar theatralisch seufzend, aber mal ehrlich: Wenn er die ganzen Tiegel, Flaschen und Tuben, die er da aufbewahrt, am Ende womöglich einfach so ins Badezimmer stellt, laufe ich ernsthaft Amok!

Was das angeht, ist Niko nämlich ein wandelndes Klischee, im Gegensatz zu mir, der sich mit Duschgel, Shampoo, Deo und Zahnpasta ausreichend versorgt fühlt. Bei geschlossener Dino-Schranktür steht wenigstens nicht alles wild in der Gegend verteilt herum und das Badezimmer ist ordentlich aufgeräumt.

Okay, zumindest so sehr, wie das in einer Wohnung mit zwei Kerlen der Fall sein kann, die beide keinen übertriebenen Ordnungsfimmel haben. Wenn ich mir allerdings vorstelle, dass nach erfolgter Entsorgung des Möbelstücks, das sich Badezimmerschrank nennt, dieses ganze Zeug ja auch irgendwo untergebracht werden muss und jetzt schon weiß, wie das endet, finde ich mich doch noch lieber mit der kackfarbenen Scheußlichkeit ab als mit der Aussicht, dass unser Männerbad sich in einen Kosmetiksalon verwandelt.

Natürlich haben wir – besser gesagt ich – auch schon den Versuch gemacht, einen adäquaten Ersatz zu finden, nur leider bisher erfolglos. Mal war der vorhandene Stauraum zu klein, bei anderen Modellen fehlte der Spiegel. Insgeheim vermute ich ja, dass es eher sentimentale Gründe sind, die Niko daran hindern, sich von dem grässlichen Schrank zu trennen, aber sei’s drum. Er könnte schlimmere Macken haben.

Jedenfalls ist haargenau dieser Schrank mit seinem Spiegel nun mein Ziel. Für gewöhnlich achte ich ja nicht groß drauf, wie ich aussehe, während ich im Bad hantiere. Ich meine, ich lege Wert auf Reinlichkeit und Körperhygiene, schon von Berufs wegen, aber ich posiere nicht selbstverliebt und teste aus, von welcher Seite mein Profil am besten zur Geltung kommt oder so. Wie ich Alexander auch schon gesagt habe: Ich weiß, wie ich aussehe und mache mir diesbezüglich keinerlei Illusionen.

Als ich jetzt allerdings im Bad vor besagtem Spiegel stehe, lasse ich nach einem tiefen Atemzug meinen Blick ein Mal an meinem Abbild rauf und wieder runter wandern und stelle praktisch augenblicklich fest, dass ich genauso aussehe wie immer. Was für eine Überraschung.

Ich trete etwas näher an das Glas und kneife die Augen zusammen bei der folgenden, intensiveren Musterung. Mein Gesicht finde ich ja so weit noch ganz in Ordnung. Nicht übermäßig auffällig und natürlich bei Weitem nicht so attraktiv wie das von diesem Fitness-Knilch, aber auch nicht hässlich. Braune Augen, ebenfalls braunes, sehr kurz geschnittenes Haar, eine normale Nase und ein eindeutig männlicher Mund mit schmalen Lippen, umrahmt von einem gepflegten Dreitagebart. Erfreulicherweise ist der Ansatz zu einem Doppelkinn zwar vorhanden, aber noch kaum zu sehen. Wenn ich mir angewöhne, den Kopf ein bisschen höher zu halten, sieht man ihn gar nicht.

Meine Arme sind kräftig, dank der körperlichen Arbeit im Krankenhaus, da schwabbelt nichts, und auch meine Beine sind ziemlich gerade, mit sichtbaren Muskeln an den richtigen Stellen. Womöglich entwickle ich später mal Krampfadern, meine Mutter hat ziemlich damit zu kämpfen, aber im Moment deutet nichts darauf hin.

So weit kann ich also durchaus einigermaßen zufrieden mit mir sein. Lediglich zwischen Kopf und Beinen, da hapert es ein wenig.

Okay, vielleicht auch etwas mehr. Aber ich bin ja auch ein Kerl und kein Hänfling.

Gott sei Dank habe ich wenigstens keine Männertitten, wenn ich allerdings noch mehr zunehme, ist es wohl lediglich eine Frage der Zeit, bis sie auftauchen. Und meine Murmel könnte sehr wohl Pate gestanden haben bei dem Spruch von wegen Sixpack oder Bierfass.

Okay, es ist nur ein sehr kleines Fass, eher ein Fässchen, aber übersehen lässt die kleine Kugel sich trotzdem nicht. Auch nicht, wenn ich den Bauch einziehe.

Aber vielleicht, wenn ich mich so drehe und … So sieht es doch eigentlich ganz okay aus, oder?

Aargh, was mache ich hier eigentlich? Bis heute hat mich meine kleine Plauze doch nie wirklich gestört, wieso fühle ich mich also jetzt plötzlich bei ihrem Anblick unwohl? Hat dieser Alex es etwa doch geschafft, mir einen Floh ins Ohr zu setzen?

Vielleicht, weil du es dir nur nie eingestanden hast?

Er nun wieder. War ja klar.

„Halt du dich da raus“, brumme ich. „Das hier ist Männersache, nix für halbe Portionen wie dich!“

Das Wunder geschieht und mein Schulterteufel verpisst sich. Allerdings mache ich mir wenig Hoffnung, dass das endgültig ist.

Mit einem missmutigen Stirnrunzeln lockere ich die angespannten Bauchmuskeln wieder und drehe mich abrupt weg, als mein Bauch mit einem unästhetischen „Flupp“ in die vorherige Form zurückrutscht. Dann jedoch wende ich mich in einer trotzigen Anwandlung noch einmal meinem Spiegelbild zu und strecke mir selbst die Zunge raus.

Da, du Blödmann! Das ist dafür, dass du dich so von diesem Typen verunsichern lässt!, denke ich vorwurfsvoll.

Der Abend ist noch lang und so allmählich wird das Hungergefühl in meinen Eingeweiden mehr als unangenehm. Eigentlich habe ich nach dieser Selbstinspektion zwar wenig Lust auf irgendwas Essbares, andererseits weiß ich aber auch, dass ich nicht einschlafen kann, wenn ich hungrig bin. Reiner Erfahrungswert.

Na, vielleicht findet sich in unserem Kühlschrank ja ein annehmbarer Kompromiss? Also, so was wie ein halbes Schwein auf Toast, nur in der kalorienreduzierten Variante? Quasi federleicht und trotzdem sättigend.

Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, oder?

Nachdem ich mich erneut davon überzeugt habe, dass Niko noch in seinem Zimmer ist, husche ich rasch in die Küche und inspiziere den Inhalt des Kühlgerätes. Das Ergebnis dieser Bestandsaufnahme fällt ernüchternd aus, verursacht allerdings einen regelrechten Speichelsturz an meinem Zäpfchen.

Neben einem Rest meiner selbst gemachten Lasagne finden sich dort drinnen nämlich zwei Stücke Donauwellen, die gestern vom Kaffeetrinken übrig geblieben sind, außerdem ein herrlich sahniges Viertel Briekäse und ein angebrochener Becher mit dem köstlichen Fleischsalat vom Metzger, den ich so liebe. Außerdem natürlich diverse Becher mit Sahnepudding und obendrein eine Schachtel Eiskonfekt.

Mein Magen sendet begeisterte Signale der Zustimmung, doch ich schließe mit einem entschiedenen Rumms die Tür des Kühlgerätes und lehne mit geschlossenen Augen die erhitzte Stirn dagegen, während mein Hirn mir Visionen von einer Fleischsalat-Pudding-Kuchen-Orgie sendet.

Im nächsten Moment fühle ich mich jäh ernüchtert, klappe die Lider hoch und öffne erneut die Kühlschranktür. Ich habe Hunger, verdammt noch mal, und hey? Es ist mir doch scheißegal, wie viele Kalorien der Kram hat!

Ha! In your face, Alexander Kleist!, denke ich und strecke schon die Hand nach der Lasagne aus, als mich erneut ein Zögern befällt. Auf meiner Schulter materialisiert sich erneut das fiese kleine Teufelchen und flüstert mir ins Ohr: „Ich glaube, wenn du ein bisschen mehr aus dir machen würdest, wärst du ein echter Hingucker.“

Das darf doch jetzt nicht wahr sein, oder?

Wieder knalle ich die Tür des Kühlschranks zu und lasse dann meinen Kopf rhythmisch dagegen poltern.

„Was machst du denn da? Hast du verlernt, wie man den Kühlschrank aufmacht und willst die Tür stattdessen mit dem Kopf aufstemmen? Da muss ich dich enttäuschen, das wird nicht funktionieren.“

Ich fahre hoch wie von der Tarantel gebissen und wirbele herum. In der Küchentür steht – natürlich – Niko und mustert mich grinsend.

„Quatsch“, erwidere ich und will mich rasch an ihm vorbeidrängeln, aber er lässt mich nicht, packt mich am Arm und hält mich fest.

„Mann, Matze“, sagt er. „Was ist denn los mit dir?“

„Nichts“, wiederhole ich stur. „Lass mich vorbei, ich will ins Bett. Hab morgen Frühdienst.“

„Vergiss es“, knurrt er, während er mich unerwartet energisch zu einem unserer Küchenstühle bugsiert und darauf niederdrückt. „Du erklärst mir jetzt, was los ist. Vorher lass ich dich nicht in Ruhe.“

Trotzig verschränke ich die Arme vor der Brust und presse die Lippen aufeinander. Niko sitzt mir gegenüber und imitiert meine Haltung, doch ich ignoriere ihn stoisch. Als ob ich ihm gegenüber zugeben würde, dass mich die Begegnung mit Alex … äh, Alexander, dermaßen aus der Bahn geworfen hat, dass ich plötzlich so was wie Komplexe wegen meinem Gewicht entwickle! Pah!

Die entwickelst du nicht, die hast du längst, belehrt mich Luzifer junior sofort. Du hast sie lediglich bisher verdrängt.

Blödmann! Was weiß der schon, dieser fiese kleine Drecksack!

„Na schön“, seufzt Niko schließlich. „Wenn du nicht reden willst, dann mach ich es halt. – Also, nachdem du ja erst so komisch drauf bist, seit wir uns mit Alexander getroffen haben, tippe ich mal, dass dir dein Gewicht und damit dein Aussehen doch nicht ganz so schnurzegal ist, wie du immer tust, richtig?“

Ich glotze ihn stumm an. Wer hätte gedacht, dass mein flatterhafter Schlampenkumpel so aufmerksam ist? Nicht, dass er blöd wäre, Gott bewahre. Aber Niko kreist eben meistens eher um den eigenen Bauchnabel – oder den irgendeines anderen Kerls und das meine ich nicht nur im eigentlichen Wortsinn. Trotzdem …

„Quatsch“, schnappe ich erneut und schiebe schmollend das Kinn nach vorn.

„Und wieso stehst du dann hier vor dem Kühlschrank und kannst dich nicht dazu aufraffen, was zu essen? Normalerweise hättest du dir doch schon längst irgendeine leckere Mahlzeit gezaubert und wärst dabei, sie mit allen Anzeichen des Genusses drüben vor dem Fernseher zu verputzen. Stattdessen liegt hier im Müll bloß ein schimmeliger Joghurt!“

Ups, den hat er also auch noch gefunden.

„Nachdem ich den Schimmel gesehen habe, ist mir der Appetit halt vergangen“, rechtfertige ich mich schulterzuckend.

„Klar. Deswegen hast du eben den Inhalt des Kühlschranks ja auch angeschaut wie ein waidwundes Kitz“, kontert Niko prompt und schnaubt. Dann stößt er den Atem aus und fährt sich mit einer Hand über die Haare. „Matze, ich bin doch nicht blind und blöd schon gar nicht! Himmel, wenn ich geahnt hätte, was ich damit lostrete, hätte ich dich doch nie im Leben gebeten, mir mit Alexander zu helfen. Ich hab doch nicht gedacht …“ Er vollführt eine Geste mit der Hand und verstummt, was ich mir zunutze mache, um den Spieß kurzerhand umzudrehen.

„Genau das ist dein Problem, Niko“, sage ich jetzt. „Du denkst nie. Jedenfalls nicht dann, wenn es um irgendeinen Kerl geht, auf den du scharf bist.“

Er blinzelt und schaut mich nachdenklich an, schließlich nickt er.

„Könnte sein“, gibt er reumütig zu. „Aber na ja, das mit Alex hat sich ja vermutlich eh erledigt.“

„Wieso das denn?“

„Du hast ihn doch gehört, oder nicht? Er hat nix übrig für Schlampen wie mich.“

Seine Stimme wackelt ein bisschen und ich bin ehrlich überrascht. Bedeutet das jetzt, er hat die Abfuhr akzeptiert? Damit hätte ich nicht gerechnet, gebe ich zu. Niko ist eigentlich nicht der Typ, der sich so einfach von irgendwem abwimmeln lässt. Nicht, wenn er sich irgendwas, oder besser irgendwen, in den Kopf gesetzt hat. Immerhin gab es das in der Vergangenheit schon öfters, dass ein Kerl zuerst kein Interesse hatte, aus welchem Grund auch immer. Am Ende hat er sie, zumindest soweit ich weiß, trotzdem alle rumgekriegt – und anschließend fallen gelassen wie die berühmte heiße Kartoffel.

Sollte es diesmal tatsächlich anders laufen? Das sähe Niko irgendwie überhaupt nicht ähnlich. Forschend blicke ich ihm ins Gesicht.

„Hey? Alles klar?“, frage ich und runzle besorgt die Stirn. Er nickt.

„Natürlich“, sagt er. „Alex ist schließlich nicht der einzige Fisch im Teich.“ Jetzt grinst er wieder und zwinkert mir zu, wird aber gleich darauf ernst. „Jedenfalls tut es mir leid, dass ich dich vorhin im Bistro offenbar in eine unangenehme Lage gebracht habe. Entschuldige.“

„Akzeptiert“, erwidere ich, bleibe aber misstrauisch.

Als ich abgehauen bin, sah es nach meinem Empfinden ganz so aus, als würde Niko keinesfalls so einfach die Flinte ins Korn werfen. Soll ich also wirklich annehmen, er hätte seine Meinung inzwischen geändert?

Na, ich werde meinen Entschluss jedenfalls trotzdem nicht einfach so umstoßen. Ich fühle mich wohl in meiner Haut und deswegen werde ich auch den Teufel tun und meinen plötzlichen Anwandlungen nachgeben! Das legt sich schon wieder. Wie heißt es so schön: Ich bin rund, na und?

Nach dieser Devise habe ich die letzten Jahre gut gelebt und gedenke das auch weiterhin zu tun. Ganz egal, was ein Alexander Kleist oder wer auch immer dazu sagt! Und damit basta!

Nikomaus & Murmelbär

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