Читать книгу Ende einer Ehe - Adrian Ambrer - Страница 6

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I

Ich sah sie zufällig, als ich kurz vor Ladenschluss durch Wipperfürth lief. Zuerst war es nur ein vages Erkennen, dann wurde mir klar, dass sie es sein musste. Vor sieben Jahren war ich als Freund ihres Mannes ein Gast auf ihrer Hochzeit gewesen. Vor zwei Jahren war ihre Ehe auseinander gebrochen. Nun saß sie allein an einem Tisch im Riefel, einem beliebten Straßencafé in der Innenstadt.

Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, hatte die Jacke über einen Stuhl gelegt und rauchte. Hatte sie früher schon geraucht? Ich wusste es nicht. Ihre Haare waren rotbraun gefärbt, sorgfältig frisiert und schulterlang. Auf der Hochzeit in Overath war sie eine betörend schöne Frau gewesen, mit einem klassisch geschnittenen Gesicht, mit großen braunen Augen und einem Mund, der immer ein wenig offen stand, als stockte ihr der Atem bei so viel Glück. Ob ihre Augen diesen Ausdruck behalten hatten, konnte ich nicht erkennen. Ihre Figur war noch immer gut, ihre Bewegungen waren abgerundet und harmonisch - nicht zu langsam, nicht zu schnell, als schlüge ein Metronom in ihr, das ihren Bewegungen den Takt vorgab. Einen Augenblick fühlte ich den Impuls, an ihren Tisch zu gehen und sie zu begrüßen. Doch ich ließ es, denn mir wurde klar, dass sie mich nicht wiedererkennen würde. Ich hatte sie nur auf der Hochzeit gesehen und ihr alles Gute gewünscht - einer von vielen Freunden, die der Braut an diesem Tag die Aufwartung machten und dem Bräutigam anerkennend auf die Schulter klopften. Danach war ich für mehrere Jahre durch Asien gereist, ich hatte in Hongkong, Bangkok und Goa gelebt, uninformiert über das Verhängnis, das sich über beiden zusammenbraute. In den gelegentlichen Nachrichten, die ich aus Deutschland erhalten hatte, war von der abschüssigen Bahn, auf die ihre Ehe nach zweieinhalb Jahren geraten war, nichts zu merken gewesen – im Gegenteil: in den Karten, die sie mir schickten, dominierte ein penetranter Ton des Jauchzens. Die Welt, der Resonanzboden ihres Glücks.

Meine Rückkehr aus Asien fiel zusammen mit dem Ende ihrer Ehe. Ich hatte schon kurz vor meinem Abflug eine Nachricht erhalten, dass sich die beiden getrennt hätten, und als ich in Deutschland eintraf, war eigentlich schon alles entschieden. Mir blieben nur Ralfs Aufzeichnungen und die Erzählungen unserer Freunde, um mir über das, was geschehen war, ein Bild zu machen, ein Bild, das in vielerlei Hinsicht so traurig war, dass ich mich damit lange Zeit gar nicht hatte beschäftigen wollen.

Ich setzte mich in das Straßencafé zwei Tische neben Sabrina und bestellte einen Kaffee. Sie blickte kurz zu mir herüber, aber sie erkannte mich nicht. Soweit ich sehen konnte, war sie noch immer eine auffallend attraktive Frau, aber die letzten Jahre hatten dem Alter ganz sachte die Tore geöffnet. Die Zukunft ihres Gesichtes zeigte sich schon heute in den Nasenlabialfalten, einem nicht mehr ganz so runden Kinn und einem Mund, der dabei war, seine Fülle zu verlieren. Ihre Lippen erschienen mir eine Nuance zu rot, ihre Gesichtshaut eine Spur zu stark eingecremt, und jetzt, da ich so nahe bei ihr saß, konnte ich die Ränder unter ihren Augen sehen. Eine Kellnerin trat an ihren Tisch, mit der sie einige Worte wechselte, während sie bezahlte. Die beiden schienen sich zu kennen, aber nicht zu mögen. Die Körpersprache war eindeutig.

Ein Van stoppte vor dem Café auf der Straße. Hinter dem Steuer saß ein weißhaariger Mann, der ihr zuwinkte. Sabrina stand auf ohne sich umzublicken, stieg in das Fahrzeug und fuhr davon. Ich blickte dem Wagen hinterher und wusste nicht, was ich denken sollte. So wie es aussah, hatte sie meinen Freund Ralf auf dem Gewissen.

Oder hatte er sie auf dem Gewissen, wenngleich auf einer ungewöhnlicheren und subtileren Art, von der die meisten Zeugen des damaligen Geschehens nichts ahnten? Ich hatte mit Ralf gemeinsam studiert, wir waren zusammen gereist, und ich wusste nur zu gut, dass er kein einfacher Charakter war. Er konnte gesellig und charmant sein, aber auch gehemmt und bockig, er hatte brillante und kleinliche Züge, und in seinem Verhältnis zu Frauen hatte er nur ganz selten etwas anbrennen lassen. Er war ein Vagabund gewesen, der sich an fremden Ländern und Frauen labte, ohne wirklich glücklich zu sein. Gaby, Brigitte, Charlotte, Helene, Sarah, Irene, Tahiti, Peru, Malawi, Tibet und Kuba – er kam und ging, und der Wechsel von Kommen und Gehen, Anfang und Ende, Lust und Versagung würzte sein Leben hinlänglich mit jener Prise Unsicherheit, die verhinderte, dass er den Überdruss des Alltags wirklich schmecken musste. Dabei war er auch so noch wohlhabend geworden, dass allen, die seinen späteren Niedergang beobachten mussten, diese Jahre als das goldene Zeitalter seines Lebens erschienen.

Sabrina kam also zur rechten Zeit. In ihren späten Dreißigern war sie eine bildschöne Frau gewesen, ein Abbild der Vollkommenheit in einer hässlichen Welt, bei deren Anblick jedermann unruhig wurde. Die Kombination von Erotik und Verschämtheit, die sie ausdünstete wie eine Madonna mit Strapsen raubte Ralf auf der Stelle den Verstand. In ihrer Sanftheit, die aus der unauslotbaren Empfindsamkeit einer zarten Seele zu entspringen schien, ihrer Verständigkeit, Verlässlichkeit und Lebenstüchtigkeit erkannte er das Ufer, an dem er für den Rest seiner Tage bleiben wollte Als sie sich trafen, verwandelte sich die Welt von einem auf den anderen Tag in einen großen Gabentisch, und es dauerte nur wenige Wochen, da waren sie sich einig, nie wieder voneinander zu lassen. All die Taktiererei, Zweideutigkeiten und Halbwahrheiten, die das Singleleben prägen wie ein schlechter Geruch, gab es bei ihnen nicht. Er, der ewige Junggeselle, mit dessen Heirat niemand mehr gerechnet hatte, verließ seine Behausung in Köln und zog ins Bergische Land. Eine Hochzeit, ein Haus mit Garten, ein Hund und vier Katzen wurden die Ornamente einer spät errungenen, aber nun umso mehr genossenen Reputierlichkeit. Alles stimmte: Sabrina war nicht nur häuslich, sondern auch kreativ und wusste das neue Heim in ein kleines Paradies zu verwandeln. Sie war gastlich und überaus einfallsreich in der Zubereitung raffinierter Speisen, mit denen nach und nach der gesamte Sani´sche Bekanntenkreis verköstigt wurde. Sabrina und Ralf waren ein Traumpaar, spät gefreit und nie gereut.

Ich blieb im Café sitzen und nahm einen Mokka. In der Zeitung las ich eine Geschichte über einen Mann, der seine Frau angezündet hatte, weil sie ihn wegen eines anderen Mannes verlassen wollte. Sie hatte überlebt, und er war für drei Jahre im Gefängnis verschwunden. Als er entlassen worden war, hatte ihn sein erster Weg wieder zu seiner ehemaligen Frau geführt, die sich inzwischen von ihm hatte scheiden lassen, und er hatte sie niedergestochen. Sie hatte wieder überlebt, und er musste für weitere zehn Jahre hinter Gittern. Nun stand seine Entlassung bevor, und seine Frau war untergetaucht, weil sie sicher war, dass er es ein drittes Mal und diesmal vielleicht erfolgreich versuchen würde.

Es begann zu regnen, ich zahlte und fuhr in meine Wohnung zurück. Andrea aus Bremen hatte angerufen, sie hatte an diesem Wochenende Zeit, außer der Reihe nach Köln zu kommen. Ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter klang warm und herzlich. Ich beschloss, morgen zurückzurufen.

Die Begegnung mit Sabrina ging mir nicht aus dem Sinn, und vielleicht war das der Grund, dass ich an diesem Abend noch einmal in den Keller ging, in dem ich seit fast zwei Jahren Ralfs Manuskripte und Datenträger aufbewahrte. Ralf war ein manischer Sammler gewesen, ein Chronist seiner selbst, der seit seiner Schulzeit Tagebücher, Fotoalben und Diamagazine so akribisch gesammelt hatte, dass ein Forscher mit dem vorliegenden Material eine lückenlose Biografie von der Tanzschule bis zur Ehe hätte verfassen können. Alle Banalitäten und Höhepunkte seines Lebens waren in Dutzenden Ordnern festgehalten worden, säuberlich durchorganisiert wie das Itenear einer Existenz, dessen Höhen und Tiefen schon nach wenigen Jahren niemanden mehr interessieren würde. Ich nahm einige Ordner aus dem Kellerschrank, durchmusterte Korrespondenzen aus längst vergangenen Zeiten, fand einen Brief von mir, den ich ihm vor vielen Jahren geschrieben hatte und in dem ich ihm zu seinem Examen gratulierte, ich las Namen, die ich überhaupt nicht kannte, und entdeckte Kopien seiner Ummeldungen, Ablichtungen seines Abiturzeugnisses und schließlich sogar das Original seiner Heiratsurkunde.

Als ich die Ordner, in denen ich geblättert hatte, wieder in das Regal zurückstellen wollte, entdeckte ich eine Art Schuhkarton, der offenbar beim Einräumen hinter die Ordner gerutscht war und an den ich mich überhaupt nicht mehr erinnern konnte. Wahrscheinlich war auch er angefüllt mit den gleichen Memorabilia, die letztendlich auf einer Mülldeponie landen würden, denn ich wusste nicht mehr, warum ich all diese Überreste vor knapp zwei Jahren so komplett in meine Kellerschränke eingeräumt hatte.

Als ich den Karton aus dem Schrank herausnahm und öffnete, erwartete mich eine Überraschung. Neben zwei leeren Schreibblöcken fand ich vier schwarzrot geränderte Kladden, die so klein und handlich waren, dass sie in die Brusttasche eines Freizeithemdes passten. Ich sah, dass sie durchnummeriert waren, die beiden dünnsten Bände trugen die Nummern I und IV, die beiden umfangreicheren Kladden waren mit den römischen Ziffern II und III gekennzeichnet. Als ich sie öffnete, erkannte ich Ralfs gut leserliche Handschrift, in der die linierten Seiten der Kladden vollgeschrieben waren, und je mehr ich in diesen Kladden las, desto größer wurde mein Erstaunen. Ich hielt nicht mehr und nicht weniger als Ralfs handschriftliche Aufzeichnungen aus seinem letzten Ehejahr in Händen - ungelesen und unentdeckt war es nur jener seltsamen Verkettung der Ereignisse dieses Tages geschuldet, dass ich sie entdeckt hatte. Merkwürdigerweise gab es kaum Durchstreichungen und Korrekturen, als hätte er den Text auf der Grundlage eines Urtextes geschrieben, von dem sich aber keine Spuren fanden. Außerdem hatte er seine Aufzeichnungen in der dritten Person verfasst – so skurril es auch klingen mag, er schrieb von sich selbst in distanziert wie ein Insektenforscher, und noch nicht einmal seiner Schrift war irgendeine Ergriffenheit anzumerken.

Ich packte alle Ordner und Unterlagen wieder in die Kellerschränke, nahm aber die vier Kladden mit in mein Arbeitszimmer, wo ich sie nebeneinander auf meinen Schreibtisch platzierte. Wie merkwürdig, dass ich gerade heute auf Ralfs Aufzeichnungen gestoßen war, genau an dem Tag, an dem ich Sabrina zufällig in der Stadt gesehen hatte. Andererseits hätte ich überhaupt nicht mehr in Ralfs Unterlagen nachgeforscht, ohne Sabrina vorher in Wipperfürth gesehen zu haben. Was war hier Ursache, was war Folge? Je stärker ich mir diese Fragen stellte und über den vergangenen Tag nachdachte, desto mehr wuchs mein Wunsch, Ralfs Sichtweise seines Unterganges kennen zu lernen. Ich nahm die erste Kladde zur Hand und begann zu lesen.

Ende einer Ehe

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