Читать книгу Ende einer Ehe - Adrian Ambrer - Страница 7
ОглавлениеDie erste Kladde
Sie hatten an diesem Morgen länger als gewöhnlich geschlafen, Sabrina auf der Galerie und er im Ehebett, und als er aufgewacht war, hatte er aus alter Gewohnheit den Milchkaffee zubereitet. Sabrina öffnete die Augen, als sie den Kaffeeduft roch. Sie hatte noch weiter abgenommen, ihr Gesicht wirkte ausgezehrt, was die Ausdruckskraft ihrer Augen verstärkte.
Ralf wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, sich etwas vorzumachen. Sie standen vor den Trümmern ihrer Ehe. Seit Wochen sprachen sie offen von Trennung, und erst nach langem Zögern hatten sie sich entschlossen, über Ostern noch einmal gemeinsam in Urlaub zu fahren. Übermorgen würde die Reise beginnen, und Ralf war froh, dass sie ihrer Ehe wenigstens diese letzte Chance geben wollten.
„Wann wollen wir packen?“ fragte Ralf. „Schaffen wir das heute Abend?“ Er hatte sich mit seinem Kaffee auf die andere Seite der Schlafcouch gesetzt und blickte sie an.
Sie schaute aus dem Fenster. „Kein Problem“, antwortete sie. „Außerdem haben wir doch auch noch morgen Zeit. Wann geht eigentlich das Flugzeug?“
„Am Montag in aller Frühe“, gab er zur Antwort.
Sie hatte einen Schluck Kaffee genommen und blickte ihn an. „Du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich heute nach dem Geschäft noch ein wenig durch die Stadt bummele? Ich komme auf jeden Fall am frühen Nachmittag nachhause“, sagte sie beiläufig.
„Vielleicht habe ich Lust mit zu bummeln?“
Sie lächelte. „Du und mitbummeln? Hast du vielleicht Lust, dir Röcke und Kostüme anzusehen? Lass lieber mal. Wir können dann ja noch am Nachmittag ein wenig raus fahren, wenn das Wetter schön wird.“
Ein Geräusch ertönte. Schnöfy der Hund war erwacht, reckte und streckte sich, um sofort zu Frauchen zu laufen. Er war der Rüde im Haus, der ganz und uneingeschränkt geliebt wurde. Für die Urlaubswoche war Schnöfy in einer Hundepension angemeldet, die vier Katzen des Hauses würden von Birgit versorgt werden, einer Freundin, die im Nachbarhaus wohnte.
„Wenn du mit der Zeit knapp bist, kann ich den Hund in die Pension bringen“, schlug Ralf vor.
„Nein, das mache ich selbst. Ich habe heute Morgen nur eine Behandlung. Das schaffe ich locker.“
Zwei Stunden später verließ sie das Haus. Ralf setzte frischen Kaffee auf und griff zur Zeitung. Leider war die Brille nicht zu finden, die guten Gleitsichtgläser waren spurlos verschwunden, und so sehr er auch das ganze Haus absuchte, sie waren nicht mehr aufzutreiben. Vielleicht hatte er sie im Wagen liegen lassen, doch auch eine Durchsuchung des Fahrzeuges erbrachte keinen Fund. Die Brille blieb verschwunden, und schon nach wenigen Minuten legte Ralf die Zeitung genervt zur Seite. Die Buchstaben waren einfach zu klein für eine entspannte Lektüre.
Mittags aß er ragout fin, ein Gericht, das Sabrina bereits gestern für ihn vorgekocht hatte. Es schmeckte gut wie alles, was seine Frau zubereitete. Die eheliche Krise hatte seine Versorgung bisher nicht beeinträchtigt. Sogar einen Nachtisch für ihn hatte sie vorbereitet.
Ralf öffnete das Fenster und blickte auf den Garten des Hauses. Sabrina war weit über ihre Kräfte hinaus belastet, das war der Hauptgrund für die schleichende Eskalation ihrer Ehekrise. Sabrina war die Inhaberin der „Oase“, eines kleinen Kosmetik- und Modegeschäftes in Wipperfürth, für das sie sechs Tage die Woche von frühmorgens bis spätabends arbeitete, ohne dass hinreichend Geld in die Kasse kam. Aber das war egal, denn sie hing an diesem Geschäft mit der Leidenschaft einer Kämpferin, und wer auch nur ansatzweise den Gedanken äußerte, die „Oase“ wegen ihrer Unrentabilität zu schließen, musste mit ihrer dauerhaften Ungnade rechnen. Und ihr Zorn konnte fürchterlich sein. Im Zustand der Wut erwuchs ihr eine Eloquenz und Schlagfertigkeit, über die sie ansonsten nicht verfügte. Mit einer überraschenden Bedenkenlosigkeit in der Wahl ihrer Worte machte sie jeden zur Schnecke, der ihr in dieser Frage in die Quere kam. Auch ihn hatte sie bei dergleichen Auseinandersetzungen von Anfang an so vollständig überrollt, dass er es sich abgewöhnt hatte, zu widersprechen. Dann würde er die „Oase“ eben weiter subventionieren, daran sollte seine Ehe nicht scheitern.
Inzwischen war es Nachmittag geworden, die Wolken hatten sich verzogen und ein strahlender Himmel wölbte sich über dem Bergischen Land. Es war Kaffeezeit, und vielleicht konnten sie, wenn Sabrina bald aus Wipperfürth zurück käme, mit dem Cabrio zur Talsperre fahren und ein wenig spazieren gehen.
Doch die Stunden vergingen, und Sabrina kam nicht. Ralf kehrte die Terrasse, fütterte die Tiere, räumte Schlafzimmer und Wohnzimmer auf und begann mit der Aussortierung der Sachen, die sie mit in die Türkei nehmen würden. Seit Weihnachten hatten sich ihre Konflikte in einer Weise radikalisiert, die er sich früher nicht hätte vorstellen können. Die tränenreichen Versöhnungen am Ende früherer Konflikte gehörten schon längst der Vergangenheit an. Vor zwei Monaten hatte sie nach einer besonders galligen Auseinandersetzung nicht mehr seine Nähe gesucht, sondern sich ihr Bettzeug gegriffen, um auf der Galerie zu schlafen. Seitdem schliefen sie getrennt. War das nicht das ideale Bühnenbild für das Erscheinen eines Liebhabers? Es waren schon Ehen nach moderateren Krisen auseinander gebrochen. Ralf schüttelte den Kopf, als befände er sich nicht allein im Haus. Das konnte er sich nicht vorstellen. Einen Dritten hineinziehen, um einer Ehekrise auszuweichen, war unter ihrem Niveau. Gerade das niemals zu tun, hatten sie sich bei ihrer Heirat in die Hand versprochen.
Aber wo blieb sie? Vielleicht war etwas passiert? Ein Unfall, ein Überfall? Sie war in Gefahr, und er hockte im Garten und unternahm nichts. Aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Wenn etwas geschehen wäre, würde man ihn benachrichtigen. Ralf glaubte weder daran, dass sich seine Frau auf Abwegen befand noch dass ihr etwas zugestoßen war – dass sie ihn den ganzen Tag ohne jede Nachricht warten ließ, war ganz einfach nur eine Unverschämtheit, ein Ausfluss jener Rücksichtslosigkeit, die ihnen schon seit Monaten den Alltag verbiesterte.
Mit jeder Stunde, die der Tag verstrich, verschlechterte sich seine Stimmung, und er wunderte sich, wie reibungslos Larmoyanz und Zorn ineinander übergehen können. Sie ließ ihn warten – nun gut, er würde sie auch warten lassen! Sie sollte nachhause kommen und ein leeres Haus vorfinden, denn er wusste: in einem leeren Haus zu warten, gehörte zu den Dingen, die Sabrina am allerwenigsten ertragen konnte. Diese Lektion hatte sie heute verdient. Er würde ohne sie essen gehen, und sie würde bis spät in die Nacht ebenso auf seine Rückkehr warten müssen wie er jetzt.
Er beschloss, Helene anzurufen, eine ehemalige Freundin, mit der er lange vor Sabrinas Zeit einige Monate zusammen gewesen war. Helene anzurufen, hatte etwas Perfides, das ihm in dieser Stunde des Zorns gut gefiel. Denn Helene verkörperte für Sabrina das Böse schlechthin, sie war die Inkarnation der erbärmlichsten Devotion, eine Kreatur, die nur existierte, um ihr ihren Ralf auszuspannen. Helenes bloße Existenz war vom ersten Tag ihrer Ehe an Anlass unzähliger Eifersuchtsszenen gewesen, bis Ralf schließlich, der Streitigkeiten müde, den Kontakt zu Helene abgebrochen hatte. Aber heute Abend sollte der Kontakt wieder aufgefrischt werden. Daran war Sabrina selbst schuld!
Als hätten nicht zwei Jahre Funkstille zwischen ihnen geherrscht, rief Ralf bei Helene an. Sie meldete sich kaum überrascht, als hätte sie über kurz oder lang diesen Anruf erwartet und willigte ein, mit ihm noch am gleichen Abend in Düsseldorf essen zu gehen. So einfach war das also? Ralf wunderte sich und machte sich zum Aufbruch bereit.
Er wollte gerade das Haus verlassen, da kam Sabrina zur Türe herein. Sie sah angespannt aus, denn sie erwartete eine Szene.
„Sag mal, wo kommst du jetzt her? Und warum rufst du nicht an?“
„Wieso? Ich habe doch gesagt, dass ich später komme. Ich war auf der Oldtimermesse in Düsseldorf.“
„Welche Oldtimermesse? Du hattest gesagt, das du nach dem Geschäft nur noch ein wenig shoppen und dann nachhause kommen wolltest.“
„Ich habe es mir eben anders überlegt – na und?“ gab sie zurück und ging an ihm vorbei …
„Na prima“, rief er ihr hinterher. „Ich aber esse heute Abend alleine. Vor Mitternacht komme ich nicht zurück.“
Er fuhr nach Düsseldorf und führte Helene zum Essen aus. Sie war die Blondine mit den Katzenaugen und den makellosen Zähnen geblieben, auch ihr Auftreten hatte sich nicht verändert. Sie begrüßte ihn, als hätte sie ihn gestern zum letzten Mal gesehen, war mitteilsam und heiter und erkundigte sich mit großer Anteilnahme nach dem Zustand seiner Ehe. Dass er sie vor anderthalb Jahren wie ein überflüssiges Utensil aus seinem Bekanntenkreis gestrichen hatte, schien sie ihm nicht übel zu nehmen. „Das habe ich erwartet“, sagte sie. „Auch dass du eines Tages anrufen würdest, war klar. Die Dinge waren bei euch beiden sehr durchschaubar.“
Ralf trank seinen Rotwein und fragte sich, ob sie Recht hatte. Nein, so klar war das nicht gewesen. Der Anfang, den er mit Sabrina erlebt hatte, war eine verzauberte Zeit gewesen, in der ihm plötzlich all das, wonach er sich so lange gesehnt hatte, scheinbar mühelos in den Schoß gefallen war. Fast tat es ihm leid, dass Sabrina nun alleine zuhause sitzen musste. Er wusste doch, wie ängstlich sie werden konnte, wenn sie gegen ihren Willen allein sein musste. Sie war bisher jedes Mal, wenn er gedroht hatte, nach einem Streit das Haus zu verlassen, in Panik ausgebrochen, so dass er sich fragte, ob seine Reaktion auf ihr spätes Heimkommen nicht überzogen gewesen war. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, merkte er, dass die Unruhe, die ihn schon seit dem frühen Nachmittag erfüllte, immer weiter zunahm, und als sie beim Nachtisch angekommen waren, wusste er, was er wollte: er wollte nachhause.
Helene verabschiedete ihn mit einem Wangenkuss. „Meld´ dich mal“, sagte sie.
Er stieg in den Wagen und fuhr zurück nach Overath.
Als er lange nach Mitternacht das Haus betrat, war sie nicht da. Er sah die Spuren schnell zusammengerafften Einpackens, der Kleiderschrank stand auf, Kosmetiksachen fehlten, auch einige Paar Schuhe hatte sie mitgenommen. Ralf sah es und konnte es nicht fassen.
Sie war weg.
Nachdem er durch das ganze Haus gelaufen war, fand er neben dem Telefon einen Zettel. „Es ist Zeit, den Dingen nicht mehr auszuweichen“, las er. „Du kannst mich unter meiner Handy-Nummer erreichen. Sabrina.“
Das Handy aber war abgestellt.
Er öffnete eine Flasche Rotwein und goss den Alkohol in sich hinein. Die Katastrophe war da. Sabrina war bei einem anderen Mann, beim Pharmareferenten, beim Waschbär, beim Oldtimerspezialisten oder bei einem anderen ihrer zahlreichen Verehrer - was wusste er?
Stundenlang lief er durch das Haus und durchsuchte die Räume nach Zeichen und Hinweisen, von denen er selbst nicht wusste, wie sie hätten aussehen sollen. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken. Als er sich endlich ins Bett legte, lag er mit brennenden Eingeweiden auf der Matratze wie auf einem Rost und schreckte bei jedem Geräusch hoch. Seine Sinne waren bis zum Zerreißen gespannt, und mehr als einmal stürzte er in sein Büro, weil er glaubte, dort das Klingeln des Telefons gehört zu haben.
Was für eine lächerliche Idee, sie durch seine Abwesenheit am Samstagabend strafen zu wollen! Wahrscheinlich hatte er sie durch diese Aktion erst dazu getrieben, das Haus zu verlassen. Er wusste doch, wie misstrauisch sie war, dass sie immer nur das Schlimmste befürchtete. Erst die Befürchtung, ihr Ehemann befände sich im Bett einer anderen Frau hatte sie in die Arme irgendeines Liebhabers getrieben. So musste es gewesen sein. Was war er nur für ein Idiot!
Die Morgendämmerung setzte ein. Sanftes Licht illuminierte die Blumenbeete im Garten, ein Bilderbuchtag stand ins Haus. Ralf dröhnte der Kopf, und seine Hände zitterten, als er sich die Jogginghose überzog, um seine Unruhe durch einen Langlauf zu betäuben. Doch er war in den fetten Jahren seiner Ehe so schlapp geworden, dass er nicht mehr zustande brachte, als sich wie ein krankes Tier durch den Wald zu humpeln.
Als er zurückkam, traf er die Nachbarin Frau Droste im Hof. „Ach sie sind noch da?“ fragte sie überrascht über den Zaun hinweg. „Ich habe gestern Abend ihre Frau mit zwei Taschen das Haus verlassen sehen. Wir dachten, sie wären beide schon im Urlaub.“
Ralfs Magen krampfte sich zusammen. „Nein, meine Frau hat ein besonders günstiges Ticket erhalten. Sie ist vorgeflogen. Ich werde hinterher fliegen.“
Frau Droste zog ein langes Gesicht. Wo gab es denn so was? Mann und Frau fliegen getrennt in Urlaub?
Ralf verabschiedete sich und ging so schnell wie möglich ins Haus zurück. Kein Anruf auf dem Beantworter, keine Mail, Sabrina blieb verschwunden. Er öffnete den Kühlschrank und ihm wurde schlecht. Essen konnte er nun schon gar nichts.
Er duschte sich, zog sich an und fuhr nach Köln. Wie glitzernde Spinngewebe bewegten sich die Schatten der Blätter und Zweige über die Straße, als er durch die Täler des Bergischen Landes zur Autobahnauffahrt fuhr. Er sah die Morgenspaziergänger durch die Wälder flanieren, die ersten Heißluftballons waren bereits aufgestiegen, und alles war so unwirklich, dass er es kaum glauben konnte.
Er hatte die Autobahn erreicht und überlegte, wohin er fahren konnte. Seine Freunde waren ordentliche und bodenständige Menschen im Zustand stabiler Ehen, da konnte man zu so früher Stunde nicht wie ein angeschossener Eber aufheulend im Wohnzimmer erscheinen. Immerhin gab es seinen Tennispartner Ulrich, einen 38jährigen Studienabbrecher, der sich mit Jobs und Gelegenheitsrollen in Fernseh-Soaps durchs Leben schlug und den Ralf schon immer wegen seiner ausgeglichenen Gemütsverfassung beneidet hatte. Da musste er hin, da konnte er sich ausjammern und wenigstens einen Kaffee trinken.
Doch niemand öffnete. Er schellte Alarm, doch Ulrich schien nicht zuhause zu sein. Das war das Schlimmste, was ihm jetzt passieren konnte. Panik erfasste ihn, und er empfand eine Sekunde lang den Wunsch, sich auf der Luxemburger Straße vor einen Wagen zu werfen.
Stattdessen rief er Martin an, einen alten Freund, von dem er wusste, dass er nie bei seiner Freundin schlief. Tatsächlich war Martin zuhause und meldete sich mit belegter Stimme.
„Martin“, schrie Ralf ins Telefon, „ich muss sofort zu dir kommen. Es ist dringend. Machst du einen Kaffee?“
„Wie? Kocht dir Sabrina keinen Kaffee mehr? Muss ich das jetzt machen? Wo bist du eigentlich?“
„Ich bin in Köln. Allein. Ich bin in einer Viertelstunde da“, brüllte Ralf in den Hörer.
Martin wohnte in einer muffigen Wohnung in Köln Pulheim, in der es roch, als hätte jemand über die Jahre hinweg jeden Abend kontinuierlich Erbsensuppe hinter das Sofa gekippt. Es war unaufgeräumt und ungemütlich, und Ralf brach, kaum dass er die Wohnung betreten hatte, sofort in Tränen aus. „Sabrina ist verschwunden“, heulte er. „Sie hat mich verlassen, ich bin vollkommen fertig.“
Die Tränen schossen ihm aus den Augen, er hielt sich die Hand vor das Gesicht und schluchzte, bis Martin mit einer heißen Tasse Kaffee kam. „Komm trink“, sagte er. „Das wird dir gut tun.“
Kurz darauf hatte Martin ein Frühstück zubereitet, dass zu Ralfs Verfassung passte: es gab ranzige Butter, verschimmelten Käse und eine Wurstsorte, die schon ein wenig grün geworden war. Ralf lehnte ab, und trank stattdessen eine weitere Tasse Kaffee, nach der ihm schlecht wurde.
Inzwischen hatte sich draußen der Frühlingstag zur vollen Schönheit entfaltet. „Lass uns ein wenig durch die Gegend fahren“, bat Ralf. „Ich muss mich bewegen, sonst werde ich wahnsinnig.“
Sie fuhren kreuz und quer durch Köln, vom Bonner Verteiler bis nach Merkenich, von Dellbrück nach Weiden, die Ringe herauf und herunter, umkreisten dreimal den Neumarkt und den Dom und belästigten unter fadenscheinigen Vorwänden alle möglichen Bekannte und Freunde, ohne wirklich damit herauszurücken, was geschehen war. Sie besuchten Norbert Kürter, den bekennenden Single, der noch in der Unterhose beim Frühstück saß, schellten bei Konrad Rille, der nicht zuhause war und besuchten Tobias und Carla in Rodenkirchen, die sie sofort auf die Veranda baten.
„Wo ist denn Sabrina?“ wollte Carla wissen. „Sie ist heute bei einer Oldtimer-Messe“, stotterte Ralf.
„Ach so“, antwortete Carla, als sei das das Natürlichste von der Welt. „Dann grüß sie schön.“
„Mach ich - wenn ich sie sehe.“
Nachdem Ralf Martin am Nachmittag wieder in Pulheim abgesetzt hatte, fuhr er noch dreimal zwischen Köln und dem Bergischen Land in der Hoffnung hin und her, sie sei inzwischen heimgekommen, habe sich besonnen, könne ihre Abwesenheit in der letzten Nacht auf eine Weise erklären, die er glauben könnte, wäre einfach nur wieder da, kompromissbereit, versöhnlich oder wenigstens mit einem schlechten Gewissen geschlagen.
Doch sie blieb verschwunden, und niemand wusste, wo sie stecken konnte Es gab einen Pharmareferenten, der ihr schon lange den Hof machte, einen vitalen Hundeausführer, der es allerdings durch zu große Aufdringlichkeit mit ihr verdorben hatte, den Inhaber einer Wäschereikette, der sie in ihrem eigenen Laden angebaggert hatte und einen Mechaniker mit einer Vorliebe für alte Autos, von dem sie in letzter Zeit des Öfteren erzählt hatte. Dass sie am Samstag auf einer so genannten Oldtimer-Messe gewesen war, sprach dafür, dass der Mechaniker das Rennen gemacht hatte.
Als sie auch bei Ralfs dritter Heimreise nach Overath noch nicht wieder zuhause war, klingelte Ralf bei Birgit im Nachbarhaus. Birgit und Sabrina hatten sich seit einem Jahr angefreundet, und vielleicht wusste Birgit, wo sich Sabrina aufhielt.
„Sabrina hat vorhin angerufen“, teilte ihm Birgit ohne große Einleitung mit. „Sie befindet sich bei einem Freund, wie sie sagte, und hat mich gebeten, in der nächsten Woche die Katzen zu versorgen.“
Ralf riss die Augen auf. „Aber wo steckt sie? Wir fliegen morgen in die Türkei, was soll denn nun werden? Und um welchen Freund handelt es sich?“ stieß er hervor. Als er Birgits Zögern sah, setzte er nach: „Birgit, nun lass mich nicht hängen, und sag mir, was du weißt.“
Birgit blickte ihn ernst an. Was sie ihm zu sagen hatte, schien ihr keine Freude zu bereiten. „Wo sie sich aufhält, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass sie seit einiger Zeit schon Kontakt zu einem Mechaniker in Wipperfürth hat. Mit diesem Typ war sie auch schon mehrfach zum Abendessen verabredet. Und dass sie nicht mit in die Türkei fahren wollte, hat sie mir schon vor einer Woche erzählt. Mehr kann ich dir nicht sagen.“
Ralf wurden die Knie weich. Er brachte kein Wort heraus, nickte Birgit zu und ging zurück in seinen Garten. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, doch er wusste: wo immer sie nun auch stecken mochte, der Bruch war vollzogen. Alle Verbindungen waren gekappt, das Handy ausgestellt, der Aufenthaltsort unbekannt, und es war, als befände sie sich auf einem anderen Stern.
In der folgenden Nacht war an Schlafen wieder nicht zu denken. Auch nach zwei Flaschen Rotwein saß er wie betäubt im Bett, das Telefon in Griffweite, weil er hoffte, dass sie sich noch melden würde.
Mitten in der Nacht, nur wenige Stunden vor dem Abflug in die Türkei rief sie an.
„Hallo“, sagte sie einfach statt einer Begrüßung. „Ich bin bei einer Freundin und brauche Abstand, ich hoffe, du kannst das verstehen.“
Ralfs Herz schlug bis zum Hals. „Sabrina, was machst Du?“ rief er in den Hörer. „Wo steckst du? Komm nach Hause. Wir wollten doch in der Türkei über alles reden.“
„Ich fliege auf keinen Fall mit in die Türkei, das habe ich dir schon gesagt, aber du hast mir ja nicht zuhören wollen.“
„Sag mir wo du bist. Ich komme dich holen.“
„Ich wohne bei einer Freundin“, antwortete Sabrina. „Fahr allein in die Türkei und denk über alles nach. Ich werde das hier ebenfalls machen, und wenn du zurückkommst, können wir uns zusammensetzen und über alles reden.“
„Bitte, lass doch den Unsinn mit der Freundin.“ Ralfs Stimme zitterte. „Welche Freundin soll das denn sein? Du bist bei einem anderen Mann. Gib es zu!“
Schweigen in der Leitung. Dann: „Ja, es stimmt, aber es ist nicht das, was du denkst.“
„Was glaubst du denn, was ich denke? Was soll ich denn denken, wenn meine Frau nachts bei einem anderen Mann ist?“
Sabrinas Stimme war sehr leise, als sie sagte: „Du hast mich aus dem Haus getrieben, Ralf. Das ist die Wahrheit, so wie ich sie sehe. Du hast dafür gesorgt, dass ich es in deiner Gegenwart nicht mehr aushalten konnte. Denk was du willst, auf diese Weise konnte es auf keinen Fall mehr weitergehen. Nun müssen sich die Dinge klären. Sie werden sich verändern, oder sie werden beendet. Ich brauche nun Zeit, um mir klar zu werden, was ich will, und du solltest sie auch nutzen.“
Ralf schwieg. Das klang bitter, aber nicht endgültig.
„Ich wollte dir nur sagen, dass ich in Sicherheit bin“, fuhr Sabrina fort. „Ich wollte dir sagen, dass es mir gut geht und dass du ohne Sorgen in die Türkei fahren kannst.“
„Ich fahre ohne dich nicht in die Türkei. Ich werde dich suchen und finden, wo immer du auch sein magst“, schrie Ralf.
„Du wirst mich nicht finden, es ist zwecklos. Und ich sage dir auch nicht, wo ich bin. Das sind die Fakten. Denk nach und lass uns nach deiner Rückkehr aus dem Urlaub nächste Woche reden. Wann kommst du wieder?“
Ralf schwirrte der Schädel. Er war er schon glücklich, dass sie ihm nicht sofort den Laufpass gab sondern wenigstens nach der Türkeireise eine Aussprache in Aussicht stellte. Dann war nichts verloren, vielleicht besann sie sich wieder.
„Ich komme am Montagmorgen übernächste Woche wieder, und werde gegen Mittag im Haus sein“, antwortete er mit belegter Stimme.
„Gut, ich werde auch da sein, dann können wir reden.“
„Sabrina, kannst du dir vorstellen, wie hart das für mich ist, allein ohne dich in die Türkei zu fahren?“ setzte Ralf nach. „Willst du es dir nicht doch noch einmal überlegen? Es ist noch nicht zu spät.“
„Nein“, entgegnete sie sofort. „Es bleibt dabei. Bis Montag.“
„Halt, leg nicht auf. Bitte versprich mir noch eines.“
„Was denn?“
„Schaff´ bis Montag keine vollendeten Tatsachen! Bitte versprich´ mir das, dann kann ich fahren.“
„Ich verspreche es“,sagte sie und legte auf.
Am nächsten Morgen fuhr Ralf alleine eine Woche in die Türkei.
Das Hotel in der Türkei lag in einer halbfertigen Touristenzone. Große Pfützen auf aufgerissenen Straßen versperrten die Hotelzufahrt, und anstelle des Strandes existierten nur glitschige Steinkais, an denen sich jeder die Knochen brach, der es riskieren wollte, im Meer zu baden. In langen schaurigen Schwaden hingen weißgraue Wolkenfetzen am Himmel, und die Berghänge des Taurus verschwanden hinter einem nassen Regenschleier. Das Zimmer war klein wie eine Gefängniszelle, die Wände waren so dünn, dass er den Satellitenempfang im Nachbarzimmer mithören konnte, und die Hotelangestellten agierten mit jener Mischung aus Zutraulichkeit und Unverschämtheit, die mehr als deutlich zeigte, was sie von ihren Gästen hielten. Unablässig krachten die Frühjahrsstürme gegen die Küste, während Ralf Sani entweder im strömenden Regen die Strandstraßen entlang joggte, sich betrank oder allein in seinem Zimmer heulte. Unfähig irgendeinen Kontakt aufzunehmen, schlich er wie ein Todgeweihter durch die Hotelhallen, konnte weder essen noch schlafen und wurde schließlich so hinfällig, so dass ihn sogar die dreisten Kellner mit Mitgefühl behandelten.
Etwas Erleichterung verschaffte ihm nur die Hoffnung auf die bevorstehende Aussprache und die damit verbundene Möglichkeit, seine Ehe zu retten. Aber wer hatte denn ihre Ehe in den Sand gesetzt? Ralfs Antwort auf diese Frage veränderte sich mit jedem türkischen Regentag ein wenig mehr zu seinen Ungunsten. Die Geschichte seiner Ehe erfuhr eine Beleuchtung, von der er sich noch vor wenigen Tagen nichts hätte träumen lassen. Wie hatte er seine bildschöne und fleißige Frau nur mit solch unglaublicher Geringschätzung behandeln können? Wie hatte er sie noch vor wenigen Wochen anlässlich eines bedeutungslosen Bedienungsfehlers an der Brotbackmaschine niedergemacht. Dass er immer nur die Klappe gehalten hatte, wenn sie loslegte, war ja wohl ein Märchen. Wie wenig hatte er ihre Krankheiten ernst genommen, ihre körperliche und seelische Not, die sich in den Beschimpfungsorgien von ihrer Seite ja nur austobte, weil ihr ein anderes Ventil versperrt war. Er hatte ihr einen Vogel gezeigt, als sie vorschlug ein neues Schlafzimmer zu kaufen, und es hatte ihn einen feuchten Kehricht gekümmert, dass sie mit einem baufälligen Uraltauto durch die Gegend fahren musste, während er mit einem schicken Cabrio zur Schule fuhr.
Je mehr er sich in diese Sicht der Dinge vertiefte, desto schlechter wurde sein Befinden, denn ihm dämmerte, dass es hinreichend Gründe gab, ihn zu verlassen. Und konnte er ihr wirklich vorwerfen, dass sie den Absprung hinter seinem Rücken eingefädelt hatte? Hätte er für sich selbst die Hand ins Feuer legen können, wenn ihm interessante Frauen ebenso ausdauernd den Hof gemacht hätten wie dies bei Sabrina von Seiten ihrer Verehrer der Fall gewesen war? Dass sie die Ehe wahrscheinlich schon längst gebrochen hatte, war ein herber Tritt in die Eier, aber ein Tritt, der ihn der Realität recht nahe brachte.
Am Ende seines türkischen Purgatoriums war Ralf Sani schließlich so reumütig, zerknirscht und einsichtig, derart reif zur Besserung, dass es sonnenklar war, dass seine Ehe weitergeführt werden konnte - nein: musste! Wozu sollte all der Schmerz gut gewesen sein, wenn nicht als Voraussetzung einer besseren und verständnisvolleren Ehe? Außerdem würde Sabrina niemals ihre ganze Existenz, ihren Freundeskreis, das Haus und die Tiere aufgeben – und das umso weniger, als er entschlossen war, sich bei der Aussprache so selbstkritisch zu präsentieren, wie sie es von ihm noch niemals erlebt hatte.
Andererseits wurde er sich in den wenigen klaren Augenblicken, in denen er keinen türkischen Rotwein sondern Kaffee trank, darüber klar, dass die Entscheidung über die Rettung seiner Ehe nicht mehr in seiner Hand lag. Ein Dritter hatte sich eingeschaltet, von dem er keine Vorstellung besaß, ein Dritter, der es immerhin vermocht hatte, Sabrina zu sich herüberzuziehen und der alles unternehmen würde, sie zu halten. Was wäre, wenn sich dieser Dritte als ein genauso herrlicher weißer Ritter entpuppen würde, wie er selbst vor viereinhalb Jahren? Was wäre, wenn sich Sabrina in diesen neuen weißen Ritter verlieben und ihn selbst, den miserablen Ehemann Ralf Sani, zum Teufel schicken würde? Daran durfte er gar nicht denken. Das wäre sein Ende.