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1. Flamme

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Nach einer langen Fahrt aus dem Süden und einem geplatzten Termin war Jack Merton eines regnerischen Morgens in Ripon gestrandet, einem Taschenformatstädtchen in Yorkshire. Am Ende einer uneben gepflasterten Gasse, die sich von dem winzigen Stadtzentrum wegschlängelte, ragte plötzlich die Kathedrale St. Peter vor ihm auf. Er überquerte die Minster Road und drückte sich durch den Westeingang, um dem lästigen Dauernieselregen zu entrinnen. Friede legte sich auf ihn, als er das Kirchenschiff betrat. Es war eine Art heilsamer Schock. Viel mehr als nur der Unterschied, ob man im Regen oder im Trockenen war. Die Naht zwischen dem einen und dem anderen Zustand war unmöglich auszumachen. Es hatte etwas Magisches.

»Zauberhaft«, flüsterte er genießerisch vor sich hin.

Die Liebe zu englischen Kathedralen hatte Jack schon als kleiner Junge von seinem Vater beigebracht bekommen. Sie offenbarten Unzulänglichkeit durch Übermaß, hatte dieser immer gesagt. In dieser hier kam er sich vor, als stünde er im Innern einer riesigen Glocke, erfüllt von einem sanften, freundlichen Licht und einer Heerschar von Schatten in allen Grautönen, mühelos gemischt von hauchzart bis tiefdunkel. Nun nicht mehr gestrandet, sondern einfach anwesend, ließ sich Jack wie in einem Traum durch das Gebäude treiben, bis er auf ein kleines Alpenmassiv aus gusseisernen Kerzengestellen am Fuß einer Säule gegenüber der Südwand stieß.

Der bloße Anblick der Kerzen beunruhigte ihn ein wenig. Seit er mit sechzehn Jahren gläubig geworden war, hatte Jack sich bemüht, seinen Gebeten nicht durch derlei grobstoffliche Symbole eine greifbare Dimension zu geben, so verführerisch hypnotisch der Anblick und der Gedanke einer schmelzenden Flamme auch erscheinen mochten. In seinen Kreisen herrschte allgemeine Übereinstimmung, dass Spiritualität nur dann wirklich echt sein konnte, wenn sie sich abseits der Welt der »Dinge« abspielte. In letzter Zeit freilich war ihm die Widersprüchlichkeit dieses Denkens undeutlich bewusst geworden. In der Gemeinde, die er seit einigen Jahren besuchte, war zum Beispiel der Wein bei der Kommunion durch Kirschsaft ersetzt worden, aber soweit Jack sehen konnte, haftete den geweihten Elementen nach wie vor eine gesunde Gegenständlichkeit und Sichtbarkeit an.

In einem Anfall von Unabhängigkeit warf er nun eine Pfundmünze in den Schlitz unter den Gestellen, entnahm eines der ungebrauchten Teelichter aus einem danebenstehenden Karton und entzündete es vorsichtig an einer brennenden Kerze. Als der Docht aufflammte, entfuhr ihm ein jammervolles Schluchzen, das er sogleich als kleinen Hustenanfall tarnte.

Auf unerklärliche Weise fühlte sich das Schluchzen wie ein Gebet an. Unverschämterweise galt es ihm selbst. So bruchstückhaft und dennoch so aus tiefstem Herzen hatte er Gott noch nie angefleht. Einige Sekunden lang beobachtete er die brennende Kerze und genoss sie wie einen persönlichen Erfolg. Vielleicht würde sich ja, überlegte er, die kaum merkliche, aber unbestreitbar zufällige Bewegung der winzigen Flamme als Symbol der Befreiung erweisen – als Chance auf etwas Neues, wenn er nur den Mut hatte, danach zu greifen. Aber was konnte das bedeuten? Er hatte, jetzt und hier, nicht die leiseste Ahnung.

Vierzehn Tage später würde er den Brief seiner Großmutter öffnen und lesen. Er sollte sein Leben verändern.

Der Schattendoktor

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