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2. Alice

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Jacks Großmutter war drei Monate zuvor gestorben, wenige Tage vor ihrem neunzigsten Geburtstag. Die Pflegerin von Golden Hands, Barbara, die Alice werktags jeden Morgen beim Aufstehen half, hatte die alte Dame gefunden, das Gesicht auf den Händen ruhend, die Wangen so rosig und die Miene so friedlich wie eh und je. Barbara hatte ein paar Tränen vergossen. Die witzige, schlagfertige Alice war ihr sehr ans Herz gewachsen. Schwer zu akzeptieren, dass sie in dieser Welt nie wieder erwachen würde.

Jack hatte seine Oma immer geliebt und geschätzt. Sie vergötterte ihn und erzählte mit Vorliebe herum, ihr Enkel sei ein gutaussehender junger Mann mit einem Schuljungenschädel und bezaubernden Lächeln, den man ohne Weiteres mit dem Schauspieler Matt Damon verwechseln könnte. Sie war ein helles, nie verlöschendes Licht in den dunkleren Korridoren in Jacks Leben, besonders seit er nach dem Tod seines Vaters allein auf der Welt zurückgeblieben war. Wann immer sie ihn sah, war sie außer sich vor Freude, immer war sie freundlich, immer großzügig. Gut unterhalten konnte man sich mit ihr auch. Eigentlich mehr als gut. Der Witz und der Scharfsinn, die Alice Merton im Gespräch an den Tag legte, machten ihrem innerlich unsicheren Enkel Mut, sich behutsam mit der einen oder anderen Wahrheit über sich selbst auseinanderzusetzen, die keinesfalls für die Öffentlichkeit bestimmt war.

An seinen Großvater William erinnerte Jack sich kaum. Auf dem Sekretär im Wohnzimmer der Parterrewohnung, in die Oma gezogen war, als sie die Treppen nicht mehr bewältigen konnte, standen Fotos von ihm. Sie zeigten einen großen, rustikalen, hellwachen Mann mit zerzausten Haaren, einem zuversichtlichen Lächeln, der auf fast jedem der Bilder seinen Arm schützend um die Schultern seiner Frau legte. Jack war immer amüsiert darüber gewesen, dass Omas weitgeöffnete Augen und das Strahlen auf dem ovalen Porträt ihres Gesichts atemlos zu schwärmen schienen: »Ich kann mein Glück kaum fassen!« Eines Tages hatte er ihr bei Tee und selbstgebackenem Battenbergkuchen, der seltsamerweise mit einem alarmierenden Schuss Rum getränkt war, von seinem Eindruck erzählt.

Tränen schimmerten in den Augen der alten Dame. Sie beugte sich hinüber, um nach einer der in Silber gerahmten Fotografien zu greifen, und betrachtete sie ein paar Momente lang mit schiefgelegtem Kopf. Dann legte sie sie mit der Vorderseite nach unten auf ihren Schoß und tupfte sich mit einem Taschentuch, das sie aus ihrem Ärmel zupfte, die Tränen ab.

»Tut mir leid, Oma«, sagte Jack mit leicht stockender Stimme. »Ich wollte dich nicht traurig machen.«

»Ach du liebe Zeit, nein, du hast mich nicht traurig gemacht, Schätzchen«, erwiderte sie und beugte sich vor, um ihrem Enkel sanft das Knie zu tätscheln. »Daran ist er schuld, der liebe alte Egoist. Einfach so zu sterben und sich aus dem Staub zu machen.«

»Vermisst du ihn denn noch?«

Alice nippte an ihrem Tee. Ein Funkeln machte sich in ihren Augen bemerkbar. Was für alberne Fragen die jungen Leute manchmal stellten.

»Er war sehr gut im Bett.«

Jack starrte hilflos auf seinen Kuchen. Noch nie hatte er einen Battenbergkuchen so interessant gefunden, ob mit Schuss oder ohne. Diese Farben. Diese faszinierende Geometrie.

Sie erbarmte sich.

»Entschuldige, Jack. Ich meine nicht bloß Sex. Obwohl, den vermisse ich natürlich auch, weißt du? Diese vertraute Nähe. Nein, ich meine, er war buchstäblich gut – ein guter Mensch, sogar im Bett.«

Ihre Stimme wurde weich.

»Sie waren die … die Buchstützen meines Lebens.«

»Was?«

»Küsse. Kleine Küsse. Er küsste mich jeden Morgen gleich nach dem Aufwachen, und er küsste mich jeden Abend kurz vor dem Einschlafen. Wie Buchstützen, die dafür sorgen, dass alles sicher an seinem Platz bleibt. Jeden Morgen. Jeden Abend.« Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Darf ich dir etwas über meinen Mann erzählen, Jack?«

Der junge Mann rutschte unbehaglich hin und her. Alice schmunzelte und klopfte mit den Fingern auf das Foto auf ihrem Schoß, als könnte es den Witz verstehen.

»Nein, keine Sorge. Nichts Schlüpfriges, das verspreche ich dir. Es geht um etwas, was dein Großvater einmal gesagt hat. Das war ungefähr drei Monate vor seinem Tod, als er schon sehr krank war. Wir hatten einen sehr netten Nachbarn namens Steve, als wir damals in Nutley wohnten, gleich hinter dem Hügel, ein paar Häuser nach dem indischen Restaurant. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht, aber ich glaube, du bist ihm sogar das eine oder andere Mal begegnet. Wir schreiben uns immer noch zu Weihnachten. Er war einer von diesen großartigen Notsanitätern, wie man sie im Fernsehen sieht. Er war so nett. Wenn es mit seinen Schichten passte, kam er manchmal nach dem Tee vorbei, um mit William zu plaudern. Eines Abends erzählte er uns, ein Kassierer im Supermarkt sei an diesem Tag sehr grob zu seiner Frau gewesen.

›Ich war ziemlich sauer, aber ich wusste nicht, was ich unternehmen sollte‹, sagte er. ›Dann dachte ich: William fällt bestimmt etwas ein. Also, stell dir vor, jemand macht deiner Alice das Leben schwer. Wie würdest du damit umgehen?‹

Mein armer lieber Mann war inzwischen schon bettlägerig und konnte sich kaum noch rühren, aber – ja, was soll ich sagen? Es war wie eine kleine Auferstehung. Er packte mit beiden Händen die Seitengeländer seines Bettes. Die Haare standen in alle Richtungen wie bei einem Windrotor. ›Was ich tun würde?‹, bellte er. ›Ich würde herausfinden, wo der Kerl wohnt, und dann würde ich hingehen, ihn heraus auf die Straße rufen und ihm einen Kinnhaken verpassen!‹

Und ich schwöre dir, Jack, um ein Haar hätte er sich aus dem Bett gestemmt und genau das getan. Er war ein altmodischer Mann. Ein getreuer Ritter. William war alles für mich. Ob ich ihn noch vermisse?« Ihr Blick verlor sich für einen Moment in der Ferne, während sie das Foto unter gekreuzten Armen an ihre Brust drückte. »Mir ist das Glück ausgegangen, Jack – mir ist das Glück ausgegangen.«

Die einzigen Misstöne zwischen Jack und Alice hatten sich ergeben, wenn sie auf seine Glaubensüberzeugungen zu sprechen kamen – oder nicht zu sprechen kamen, besser gesagt. Für Jack war das ein heikles und verstörendes Thema. Eigentlich hatte er nie recht gewusst, wie Oma über solche Dinge dachte, aber sie war eine tragende Wand seines Lebens. Mit ihrer Anerkennung und Ermutigung hatte sie ihm stets Kraft gegeben. Dazu kam die Furcht, ihr könnte eine Ewigkeit voller Freude entgehen, wenn sie nicht die Wahrheiten begriff, die ihm so sehr in Fleisch und Blut übergegangen waren. Es war wie ein juckendes evangelistisches Ekzem, an dem er herumkratzte, bis er wund war.

Dabei erhob sie nicht einmal Einwände gegen das, was er ihr sagte. Keineswegs. Sie lachte ihn auch nicht aus wegen seiner Gedanken und seiner Begeisterung. Nein, sie reagierte gar nicht, und gerade das fand er so frustrierend und verwirrend. Sie saß einfach nur da und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Ratlose Besorgnis. Das war es, was bei diesen Gelegenheiten aus ihrer Miene sprach. Eines Tages bat er sie, ihm ehrlich zu sagen, warum sie kaum eine Regung zeigte, wenn er ihr von dem erzählte, was ihm wichtig war. Alice schüttelte nur den Kopf und blinzelte entschuldigend. Sie erinnerte Jack an Daphne aus der Quizsendung Eggheads, wenn ihr eine Antwort nicht einfällt. Eine Art Antwort gab sie ihm aber doch.

»Du musst mir verzeihen, Jack, wirklich. Es ist nur so, dass – also, wenn du über diese Dinge sprichst, dann höre ich ganz genau auf die Worte, ehrlich, aber sosehr ich mich auch bemühe, es kommt mir immer so vor, als ob ich dich gar nichts sagen hörte …«

Jack verstummte. Ihm blieb innerlich die Luft weg vor Schmerz und Verblüffung. Das war eine beängstigende Abweichung von der Norm, die zwischen Jack und Oma herrschte. Von diesem Moment an kamen alle Gespräche über das Thema zum Erliegen. Dieser einmalige Stolperstein in ihrer Beziehung hing von diesem Tag an immer in der Luft, wenn sie sich sahen, und manifestierte sich von Zeit zu Zeit in einem unbehaglichen Herumrutschen oder ausweichenden Blicken beiderseits. An ihrer gegenseitigen Zuneigung änderte er kaum etwas, aber er war unbestreitbar da. Alice und Jack verloren nie wieder ein Wort über den Glauben. Nach dem Tod seiner Großmutter war diese unerledigte Sache vom ersten Moment seiner quälenden Trauer an ein Stein im Schuh von Jacks Genesung.

Alice hinterließ ihrem einzigen Enkel eine ganze Menge Geld. Das würde hilfreich sein, vielleicht eine Art Kissen, auf dem er sein Haupt betten konnte, wenn alles andere scheiterte. Er stellte einen Scheck über eine fünfstellige Summe – ein Zehntel des Gesamtbetrages – für seine Gemeinde aus und steckte den Umschlag in den Briefkasten um die Ecke. Als er ihn mit einem flatternden Geräusch ins dunkle Innere fallen hörte, klopfte er sich die Hände ab. »Das wäre erledigt«, murmelte er, machte kehrt und stapfte davon.

Außerdem hinterließ Alice ihrem Enkel einen Brief.

Jack nahm sich eine Woche von seiner Arbeit im Gemeindezentrum in Bromley frei, um die Auflösung der Wohnung seiner Großmutter zu organisieren. Es war das zweite Mal, dass er die Erfahrung machte, die Habseligkeiten eines Menschen sortieren zu müssen, den er sehr geliebt hatte, und es war genauso qualvoll und unangenehm wie beim ersten Mal. Es kam ihm vor, als wäre jegliche Daseinsberechtigung von Omas Sachen gewichen, genau wie die Seele aus ihrem Körper entwichen war. Dekorationen, Bilder und Möbel hingen oder standen herum und sahen sinnlos und verlassen und grauenhaft ordentlich aus. Wie Bewohner einer unerreichbaren anderen Welt schauten Alice und ihr geliebter William von den Fotos auf dem Sekretär zu ihm herüber. Sie waren jetzt wieder vereint, da drüben auf der anderen Seite der Glasscheibe.

Am Ende einer düsteren und verschwitzten Woche war Jacks Arbeit nahezu getan. Emotional ausgezehrt schloss er zum letzten Mal Alices Wohnungstür ab und schleppte sich langsam durch die anbrechende Dunkelheit die Uferstraße entlang und den Hügel hinauf zu seinem Hotel. Weit unten zu seiner Linken schwappten die Meereswellen ans Ufer und zurück und wieder ans Ufer, wie sie es schon immer getan hatten. Zwei Zeilen aus einem Gedicht, das er einmal gehört hatte, kreisten in seinem Kopf herum und löschten nach einer Woche solch trübseliger Plackerei ohne Mühe jeden Anflug von geistlichem Optimismus aus.

Die See gibt allen Dingen ihren Unterricht.

Sie wogt und wogt und wogt, doch zu mir spricht sie nicht.

Erleichtert sah er, nachdem er aus der High Cliff in die Mount Road abgebogen war, die einladende Front des Hotels Hydro vor sich, Jacks absoluter Lieblingsunterkunft weit und breit. Das Hydro war ein ganz im edwardianischen Stil gehaltenes Haus, mit glanzvollen, prächtig möblierten Foyers und hohen Decken. Sein von Grund auf englischer Charakter wurde erfolgreich gepflegt und erhalten, wenn auch heutzutage hauptsächlich von Osteuropäern, was ihm aber, soweit Jack es sehen konnte, keinerlei Abbruch tat. In Omas Wohnung zu kampieren war nicht infrage gekommen. Die beredsame Stille in jenen hallenden Zimmern konnte einen das Gruseln lehren.

Nach dem Abendessen begab sich Jack an einen Tisch in dem großen Wintergarten, der an den Krocketplatz und den unsichtbaren Ozean dahinter angrenzte, bestellte sich eine Kanne vom stärksten verfügbaren Kaffee und nahm den Umschlag mit Alices Brief aus seiner Umhängetasche. Diesen Moment hatte er sich sozusagen aufgehoben, bis klar Schiff gemacht war. Eine Chance, die Stimme seiner Großmutter ein letztes Mal zu ihm sprechen zu hören.

Vorne auf dem Umschlag standen in Alices säuberlicher Handschrift die Worte: »Für meinen lieben Jack«. Er öffnete ihn mit einem leise gehauchten Seufzen, zog die gefalteten Blätter heraus, strich sie auf dem Tisch vor sich glatt und begann zu lesen.

Irgendwo draußen in der Dunkelheit, hinter dem Krocketplatz und der Straße, die daran vorbeiführte, und der unteren Hauptstraße und der Promenade und dem Kiesstrand, wogte unbeirrt die See.

Der Schattendoktor

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