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Sicher in der Liebe Jesu, sicher im Leib Christi
ОглавлениеIn diesem Moment, während ich schreibe, liegt im Zimmer am Ende des Flurs gegenüber von meinem Arbeitszimmer jemand im Sterben.
Kathleen Rosa Ormerod ist die Mutter meiner Frau und meine gute Freundin. Sie ist achtundachtzig Jahre alt und leidet unheilbar an Krebs. Vor drei Wochen, eine Woche vor Weihnachten, haben wir entschieden, Kathleen aus dem Krankenhaus zu holen, damit sie ihre letzten Tage, Wochen oder Monate bei uns zu Hause verbringt. Sie ist ans Bett gefesselt – und was für ein Bett! Eines von diesen elektrisch gesteuerten Spezialbetten, denen man sogar zutrauen würde, einen Purzelbaum rückwärts zu schlagen, wenn man nur in der richtigen Reihenfolge auf die unzähligen Knöpfe drückt. Dieses Superbett steht in dem Zimmer, das bisher als unser Esszimmer fungierte.
Wir möchten gerne, dass sie dort einen Platz zum Wohnen hat, nicht nur das Äquivalent eines Krankenhauszimmers. Zum Glück ist das Zimmer hervorragend dafür geeignet -hell, gemütlich und abgeschlossen, erweckt es dennoch den Eindruck, mit dem Rest der Welt verbunden zu sein. Für diese Wirkung sind die Fenster und die Glastüren verantwortlich. Es gibt drei Fenster, zwei große, die auf den Bereich an der Vorderseite des Hauses hinausblicken, und ein kleineres mit Blick nach hinten in den Garten. Dazu gibt es zwei Türen mit Glaseinsatz, eine direkt vor ihr, die ihr den Blick in den Flur und auf die Treppe ermöglicht, und die andere schräg rechts von ihr mit Blick in die Küche, wo sich bei uns zu Hause schon immer alles wirklich Wichtige abgespielt hat – Reden, Essen, Zusammensitzen, all diese wesentlichen Dinge. Somit steckt sie genau in der Mitte unserer Familienaktivitäten. Sie kann sehen, wie die Leute kommen und gehen, von einem Zimmer ins andere wandern, in der Küche arbeiten und die Treppe hinauf- und hinuntersteigen. Ihr Zimmer ist ein Meer von Blumen, geschickt oder abgegeben von Freunden und Verwandten, die wissen, wie sehr Bridgets Mutter schon immer alles geliebt hat, was wächst. So stoisch sie alles nimmt, eine Sache, die Kathleen sehr traurig macht, ist, dass sie dieses Frühjahr nicht die Blumen im Garten ihres eigenen Hauses wachsen sehen kann. Was für ein trauriges Gefühl muss es sein, zu wissen, dass man wahrscheinlich seinen letzten Frühling erlebt hat.
Allerdings ist es noch nicht der schlimmste Winkel, in den das Leben einen verschlagen kann, wenn man keine Wahl hat, als zu sterben, und sein Bett nicht verlassen kann. Das ist die Ansicht, die Kathleen immer wieder äußert, und ich stimme ihr zu. Sie verdient diesen Trost und diese Rücksicht. Sie ist eine Schafferin der alten Schule, ein Mensch, der sich sein Leben lang für andere eingesetzt hat. Als hart arbeitende, beständig gehorsame Dienerin des Herrn seit mehr als acht Jahrzehnten hat sie jede Annehmlichkeit und Hilfe verdient, die man ihr geben kann.
Freilich zahlen wir alle einen Preis. Für Kathleen ist es das frustrierende Gefühl, in dieser letzten Phase ihres Lebens ständig auf andere angewiesen zu sein. An dem Tag, als sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus bei uns eintraf, sagte sie, sie wolle mich etwas fragen.
„Adrian”, sagte sie, „ich möchte, dass du mir die absolute Wahrheit sagst. Wird mein Hiersein eure Familienfeier stören oder eurem Alltag in die Quere kommen? Sei ehrlich zu mir.”
„Meine Güte, nein”, erwiderte ich. „Wir haben es immer gern, wenn zur Weihnachtszeit jemand in einem Krankenhausbett in unserem Esszimmer schläft. Alles andere würde uns geradezu merkwürdig vorkommen.”
Kathleen lachte herzhaft darüber, aber es war zugleich ein Schritt auf dem Weg dahin, sich mit der Tatsache abzufinden, dass die Unabhängigkeit, die ihr so viel bedeutet, jetzt nicht mehr möglich ist. Es ist nicht ihre Art, etwas zu nehmen, ohne etwas dafür zu geben. Doch jetzt hat sie keine andere Wahl.
Für meine Frau sind manche Dinge sehr schmerzlich zu sehen. Erst vor einigen Monaten saß Bridget am Bett ihres demenzkranken Vaters, als er starb, und seither ist ihr kaum Zeit oder Raum geblieben, um über seinen Tod zu trauern. Kathleen war noch nie besonders stämmig, doch jetzt ist sie sehr dünn – entsetzlich, beängstigend dünn. Uns beiden fällt es sehr schwer, ihren ausgestreckten, fleischlosen Arm anzuschauen, zu sehen, wie die Haut an jenen brüchigen Knochen herabgleitet, wie Seide über eine Vorhangstange aus poliertem Holz. Daran ist der Krebs schuld. Auch wenn sie mehr essen würde, würde das nichts ändern. Wie ein gieriges, pilzartiges Monster frisst der hungrige Killer in ihr alles Gute und Nahrhafte auf, was ihrem Körper zugeführt wird, nährt sich davon und wird mit jedem Tag größer und breitet sich blindlings in alle Richtungen aus. Es ist seltsam für uns, sie anzusehen, so zierlich, so zerbrechlich und unanstößig, und zu wissen, dass dieses hässliche Ding sie Zoll um Zoll umbringt.
Am Ende des Tages schläft sie, unterstützt von Medikamenten, wie eine Tote, die Haut weiß wie Porzellan, der Unterkiefer auf die Brust gesunken, der Kopf zur Seite geneigt. Als wir kürzlich unsere Eindrücke austauschten, entdeckten wir, dass wir uns beide angewöhnt haben, nachdem sie abends das Licht ausgemacht hat, ängstlich durch die Glastür zwischen ihrem Zimmer und dem Flur zu spähen und sie mit weit aufgerissenen Augen eingehend zu beobachten, in der Hoffnung, an dem Auf und Ab der ausgemergelten Brust unter dem Nachthemd zu sehen, dass sie noch bei uns ist. So schwer es ist, das zuzugeben, es gibt auch Momente, besonders, wenn sie einen niederschmetternd schweren, unangenehmen Tag hinter sich hat, wo wir halb hoffen, ihr flaches Atmen würde aufhören. Dann fragen wir uns, ob Gott ihr vielleicht erlaubt, sich leise davonzustehlen zu ihrem geliebten George, der schon an einem Ort ist, wo es für ihn keine panische Verwirrung mehr und für sie keine Nachtstühle und Katheter und wund gelegenen Stellen und all die anderen Arten persönlicher Demütigung mehr gibt, die wohlerzogenen und gesitteten Menschen so zuwider sind.
Nachts nehmen wir Kathleens Atmung mit ins Bett. Bridget hat ein Babyphon gekauft, damit ihre Mutter nachts nach ihr rufen kann, wenn sie dringend Hilfe braucht. Der Sender steht unten neben Kathleen und der Empfänger oben in unserem Schlafzimmer. Mir kam das anfangs sehr seltsam vor und richtig gewöhnen werde ich mich wohl nie daran. Es ist, als wäre die Seele eines anderen Menschen in der kleinen Vorrichtung aus weißem Plastik mit dem roten Lämpchen gefangen, die auf einem Regal in der Ecke unseres Schlafzimmers steht. Jetzt sind jeden Abend, wenn ich meine Nachttischlampe ausgeschaltet habe, enervierenderweise zweierlei menschliche Geräusche neben meinen eigenen zu hören, und dazu das nicht ganz taktgleiche Ticken zweier Uhren, von denen eine an unserer Wand hängt und die andere auf dem kleinen Tischchen neben der schlafenden Kathleen steht. Das Ticken ihres kleinen, quadratischen Weckers läuft weiter wie das Schlagen eines gesunden Herzens, doch es gibt Momente, in denen Kathleens Atemgeräusche ganz aufzuhören scheinen. Wenn das passiert, setzt sich Bridget manchmal im Bett kerzengerade auf und lauscht angespannt auf das kleinste Anzeichen eines Atemzuges. Mehr als einmal hat sie mich gebeten, nach unten zu gehen und durch die Glastür zu schauen, um zu sehen, ob ihre Mutter noch lebt. Die Nächte sind zurzeit alles andere als einfach. Liebe und Tod und Furcht höhlen die Seele aus und produzieren seltsame, verworrene Träume und Stunden unruhigen Wachliegens.
Wenn Angehörige von weiter her angereist kommen, um Kathleen zu besuchen, beobachte ich eine tiefe Traurigkeit bei ihr, nachdem sie sich wieder verabschiedet haben. Wie sie sagt, ist ihr jedes Mal bewusst, dass dies vielleicht das letzte Mal ist, dass sie den Besucher in dieser Welt sieht. Manchmal weint sie ein wenig, besonders über ihre nachlassenden Kräfte, ihr allgemeines Gefühl, nichts Nützliches oder Praktisches mehr zu der Welt um sie her beitragen zu können. Natürlich versuchen wir ihr das auszureden, aber sie ist ja nicht dumm. Genau dasselbe würde sie auch zu uns sagen, wenn wir in ihrer Situation wären.
All das ist zutiefst beunruhigend. Bridget weint viel. Mir liegt das nicht, das heißt, wenn ich weine, tue ich es meist allein, aber ich bin angefüllt mit Gefühlen. Wir brauchen einander sehr im Moment. Zwei Dinge sind es vor allem, die uns als Ehepaar helfen. Das eine ist die Tatsache, dass wir – Gott sei Dank – sehr gute Freunde sind, seit wir vor dreiunddreißig Jahren geheiratet haben. Das andere ist, dass wir immer den Wunsch hatten, dass Jesus im Mittelpunkt unseres Alltags steht. Ich glaube, die meiste Zeit war er auch da, obwohl ich der Aufrichtigkeit halber zugeben muss, dass er an manchen Punkten unseres Lebens vielleicht seinen Platz räumen musste. Wem mache ich etwas vor? Ich weiß genau, dass es so war. Aber das macht nichts. Gott ist mindestens so vergebungsbereit, wie es meine eigene Mutter war, und sie war ein Mensch, der mit diesem kostbaren Gut um sich warf, als stünde ihr ein unerschöpflicher Vorrat davon zur Verfügung.
Heute sind wir froh, dass die beiden erwähnten Dinge zutreffen. Es ist eine schwierige Zeit. Wir müssen uns umeinander kümmern. Das gelingt uns nicht allzu schlecht. Ein paar Mal, wenn die Anspannung unerträglich wurde, haben wir dumme, sinnlose kleine Streitereien miteinander angefangen und uns wegen nichts und wieder nichts gegenseitig angegiftet. Aber sie dauern nicht lange. Wir sind wie Kinder. Gott ist unser Vater. Mit uns wird alles gut werden.
Da stehen wir also. Oder besser, da sitze ich vor meinem Computer und versuche, ein Buch über die Nachfolge Jesu zu schreiben, während im Zimmer am anderen Ende des Flurs jemand im Sterben liegt. Die Anwesenheit von Bridgets Mutter und ihr bevorstehender Aufbruch zu dem Ort, wo, wie wir hoffen, alle Fragen beantwortet und alle Probleme gelöst werden, hat eine Wirkung auf alles, was ich denke und schreibe, die ich nur als zutiefst „lektorierend“ bezeichnen kann.
Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?
Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.
Diese aufrüttelnden Worte aus dem elften Kapitel des Johannesevangeliums müssen einfach wahr sein, oder? Um Kathleens willen, meine ich. Wenn man sicher weiß, dass seine Tage auf dieser Erde gezählt sind, dann muss es einfach irgendeine positive Aussicht geben, um einen über das unvermeidliche letzte Hindernis des Sterbens hinwegzuheben und zu ziehen. Neulich habe ich sie danach gefragt.
„Machst du dir Sorgen wegen des Sterbens?”
Sie antwortete ohne jedes merkliche Zögern.
„Oh nein, um das Totsein mache ich mir überhaupt keine Gedanken. Ich weiß, was ich glaube. Mir geht es gut, ich bin gut versorgt und habe im Moment keine Schmerzen.“ Dann hielt sie einen Moment lang inne und fuhr dann mit leiserer Stimme fort: „Aber es gefällt mir gar nicht, euch alle zurückzulassen.”
Ich hoffe, wenn meine Zeit kommt, werde ich mir meines Glaubens so sicher sein, wie Kathleen es zu sein scheint. Sie fühlt sich völlig sicher in ihrem Glauben. Kein Wunder, dass Jesus sagte, dass wir werden müssen wie die Kinder. Manche Dinge lassen sich viel müheloser glauben, wenn man noch klein ist. Als zum Beispiel die Mutter meiner Mutter starb, war ich am Boden zerstört. Ich vermisste sie schrecklich, aber als meine Mama mir sagte, Oma sei jetzt im Himmel und eines Tages würde ich sie wiedersehen, da war ich zutiefst getröstet und vertraute fest darauf, dass es so war. Habe ich immer noch dieses feste Vertrauen, auf dieselbe naiv optimistische Weise? Nein. Ja. Manchmal. Absolut, ohne jede Frage. Nicht im Mindesten. Nur donnerstags.
Ich arbeite daran, Kind zu sein, wie Jesus es möchte, und er hilft mir dabei. Ich hebe meine Arme zu meinem Vater im Himmel hinauf und bitte ihn, seine Arme um mich zu legen, so wie ich bin, nicht so, wie ich eigentlich sein sollte. Was bleibt mir anderes übrig?
Ein heiliges Geheimnis
Wie gesagt, dieses Buch soll von Jesus handeln, und ich habe mich gefragt, wo er denn ist in alledem, was mit meiner Schwiegermutter passiert, und was wir aus dieser Situation über ihn lernen können. Ein paar der Antworten, die ich gefunden habe, finde ich interessant und ermutigend.
Eine davon hat damit zu tun, wie Christen umgehen mit dem Gedanken des Todes und des Abschieds von den Menschen, die sie lieben. Obwohl sie fest an ein Leben nach dem Tod bei Gott glaubt, ist Kathleen die Aussicht zuwider, uns alle zurückzulassen, und sie würde sich bestimmt nicht für den Tod entscheiden, wenn ihr die Möglichkeit geboten würde, ihre Gesundheit zurückzubekommen und noch ein paar Jahre zu bleiben. Aber gibt es nicht in den Evangelien reichlich Hinweise darauf, dass es bei Jesus genauso war? Armer Jesus. Wahrer Mensch und wahrer Gott. Mehr als einmal war er genau aus diesem Grund angefüllt mit Schmerz.
Als Jesus auf das Ende seines Wirkens auf der Erde zuging, weinte er und war tief betrübt, wie wir wissen. Wen überrascht das? Der Schatten des bevorstehenden Auseinanderbrechens von Erde und Himmel verfinsterte sein Herz. Er weinte, weil ihn all die Liebe in ihm in verschiedene Richtungen zerrte und ihn bald in Stücken über das ganze Universum verteilen würde. Schauen Sie sich den folgenden Abschnitt aus dem Johannesevangelium an:
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. Wer sein Leben lieb hat, der wird's verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird's erhalten zum ewigen Leben. Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.
Jetzt ist meine Seele betrübt. Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde? Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn verherrlicht und will ihn abermals verherrlichen.
Hier, in diesen beiden Absätzen, können wir Göttlichkeit und Menschlichkeit zugleich im Geist Jesu sehen, das eine hart auf den Fersen des anderen. Die Aussage und die Anstrengung, die Predigt und die Pein, die Kraft und das Kreuz. Die Theorie ist richtig, die Theologie unanfechtbar, die Absicht rein, und dennoch schreit das ganz und gar menschliche Herz Jesu wie ein Kind angesichts des Unfassbaren, das vor ihm liegt. Manchmal sage ich mir diese Worte in Gedanken vor, so wie Sie oder ich sie vielleicht sagen würden.
„Das ist zu viel! Ich kann das nicht ertragen. Oh, Vater, ich könnte dich bitten, mich zu retten. Ich könnte dich anflehen, doch diese schreckliche, grausige Aussicht von mir zu nehmen, und du würdest es sogar tun, weil du mich liebst, aber was wäre der Sinn? Dazu bin ich ja gekommen. Das ist der Grund, warum ich hier lebe. Für dich. Okay, es geht schon wieder. Verherrliche deinen Namen.”
Und hier ist Matthäus' Schilderung von Jesus im Garten Gethsemane. Versuchen Sie einmal, so zu tun, als hätten Sie sie noch nie gelesen. Es wird Ihnen nicht gelingen, aber tun Sie Ihr Bestes.
Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane, und sprach zu den Jüngern: Setzt euch hier, solange ich dorthin gehe und bete.
Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen.
Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wacht mit mir! Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!
Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.
Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist's nicht möglich, dass dieser Kelch an mir vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!
Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voller Schlaf. Und er ließ sie und ging abermals hin und betete zum dritten Mal und redete dieselben Worte.
Dann kam er zu seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird. Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät.
Lukas fügt in einigen Versen, die in manchen alten Manuskripten ausgelassen werden, hinzu, als Jesus in dem Garten gebetet habe, sei „sein Schweiß wie Blut zur Erde“ getropft.
Ein herkulischer Kampf.
Folgende Frage stellt sich mir: Als Jesus sagte, der Geist sei willig, aber das Fleisch sei schwach, von wem, denken Sie, sprach er da? Ich verbringe mein Leben damit, hinter Dinge zu kommen, die andere schon längst wissen, sodass mir eben erst in den Sinn kam, dass Jesus hier ebenso oder sogar noch mehr von sich selbst spricht als von den armen, müden Jüngern, die ja nicht die leiseste Ahnung haben konnten, was da vor sich ging oder was bald geschehen würde. Jesus war ohne Sünde, aber nicht ohne Versuchung. Er hatte wirklich keine Lust, das nächste Stadium seiner Aufgabe auf sich zu nehmen, oder? Wer könnte es ihm verdenken?
Wie für Bridgets Mutter war auch für Jesus die Aussicht, die Menschen, die er liebte, verlassen zu müssen, unaussprechlich traurig, aber natürlich steckte noch unermesslich viel mehr dahinter. Es liegt ein heiliges Geheimnis in dem Leiden, das Jesus bald durchmachen würde. Das Kreuz war ein entsetzliches Folterinstrument, aber in körperlicher Hinsicht haben andere vor und nach ihm ebenso oder sogar noch beträchtlich mehr gelitten. Nein, da war ein Element oder eine Art von Schmerz in der Kreuzigung Jesus, die ich nicht einmal im Entferntesten zu begreifen imstande bin. Wir wissen, dass er die Qual durchlebte, von seinem Vater verlassen zu sein, und dass das vielleicht der finsterste, bitterste Moment von allen war. Ist es möglich, dass in diesem unvorstellbar grauenhaften Augenblick sein schlimmster Albtraum Wirklichkeit zu werden schien?
Vielleicht war er ja, trotz allem, was passiert war, doch nicht der Messias. Vielleicht war seine Göttlichkeit nur eine komplexe Illusion. Vielleicht war er nichts als ein Mensch, der an einem Stück Holz hing. Vielleicht war alles nur ein grausiger Irrtum gewesen und er hätte bleiben und Kompromisse machen und heiraten und Kinder haben und viele, viele Male den Frühling genießen können.
Ich habe keine Ahnung, ob es so war oder nicht. Es ist eine Frage der Interpretation und Spekulation, aber wir dürfen spekulieren. Der Schriftsteller und Rundfunkpublizist Rabbi Lionel Blue bemerkte einmal, das Judentum sei sein Zuhause, nicht sein Gefängnis. Das scheint mir auch für Christen eine gesunde Sichtweise zu sein. Im geistlichen Sinn gibt es im Reich Gottes weder den furchtbaren Zustand der Agoraphobie noch den der Klaustrophobie. Je sicherer und glücklicher wir in unserem Zuhause sind, desto wohler werden wir uns dabei fühlen, hinauszugehen und auszukundschaften, was sonst noch so in der Straße los ist.
Doch bei allem, was wir nicht genau wissen können, über eines können wir ziemlich sicher sein: Obwohl er die Seligkeit des Himmels kannte, „bevor Abraham war”, sah Jesus dem, was auf ihn zukam, mit Schrecken entgegen. Zugleich wusste er jedoch, dass wahre Sicherheit nur durch Gehorsam zu finden ist. Wie immer sagte er „ja“ zu seinem Vater. Im Herzen all dessen steckt ein faszinierendes Paradox, das sich stets um ein Haar jeder Definition entzieht, zumindest soweit es mich betrifft. Es ist eine Wolke, ein Nebel, gebildet aus einer Vielzahl scheinbarer Widersprüche.
Mensch und Gott. Gehorsam oder Ungehorsam. Erfüllt mit dem Geist und verlassen. Tot und lebendig. Gescheitert und siegreich. Natürlich und übernatürlich. Gewöhnlich und außergewöhnlich. Gesetz und Gnade. Von dieser Welt und nicht von dieser Welt.
Manchmal dreht sich in mir alles mit dem schwindelerregenden Gefühl, ich stünde direkt am Rande einer Offenbarung, die so angefüllt ist mit Licht und Liebe und endgültiger Gewissheit, dass nichts mich je wieder verletzen oder meinen Frieden stören könnte; und so verrückt es sich anhört, im tiefsten Herzen spüre ich, dass das, was offenbart wird, zweifellos und auf geheimnisvolle Weise etwas sein wird, was ich bereits weiß. Vielleicht klingt es, als hätte es keine Bedeutung, aber ich erinnere mich daran, wie C. S. Lewis schildert, dass in uns, wenn wir wahre Schönheit hören oder sehen, ein schmerzliches Gefühl des Heimwehs aufsteigt, des Heimwehs nach etwas (oder jemandem), was wir nie hatten und in dieser Welt nie haben werden. Der instinktive Drang zum Himmel. Er steckt in uns. Wir leben damit, und er ist unser ständiger Begleiter. Freilich kommt er in vielen seltsamen und fast undurchdringlichen Tarnungen daher.
Derselbe Jesus, der in Gethsemane Blut schwitzte, ist hier im Haus bei Kathleen und bei uns. Sie ist vollkommen sicher. Er wird ihre Hand ergreifen, wenn es für sie Zeit ist zu gehen, und ich bete inständig, dass das Gehen nicht zu schwer für sie wird.
Jesus berühren
Während Kathleen im Sterben liegt, ist Jesus auch in Gestalt unserer Gemeinde bei uns. Manchmal machen mir die Leute Vorhaltungen, weil ich die Kirche attackiere, aber ich habe mir nie vorgenommen oder es darauf angelegt, das zu tun. Ich liebe den Leib Christi, also die Kirche, und während der letzten Wochen haben Bridget und Kathleen und ich gesehen, was der Ausdruck „Leib Christi“ bedeuten kann, wenn es hart auf hart kommt. Ja, ich weiß, dass Liebe und Fürsorge auch in weltlichen Gemeinschaften ebenso zu finden sein können, aber das ist in Ordnung so. Schließlich hat Gott sie erfunden. Die Welt, die er gemacht hat, mag gefallen sein, aber man sieht überall in der Schöpfung seine Fingerabdrücke und seine Fußspuren, manchmal auch da, wo man es am wenigsten erwartet.
Wir haben viel Liebe erfahren. Wissen Sie noch, was Paulus über den Leib Christi sagt?
Wenn aber alle Glieder ein Glied wären, wo bliebe der Leib? Nun aber sind es viele Glieder, aber der Leib ist einer. Das Auge kann nicht sagen zu der Hand: Ich brauche dich nicht; oder auch das Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht. Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns die schwächsten zu sein scheinen, die nötigsten; und die uns am wenigsten ehrbar zu sein scheinen, die umkleiden wir mit besonderer Ehre; und bei den unanständigen achten wir besonders auf Anstand; denn die anständigen brauchen's nicht. Aber Gott hat den Leibzusammengefügt und dem geringeren Glied höhere Ehre gegeben, damit im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder in gleicher Weise füreinander sorgen. Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.
Der Teil des Körpers, zu dem wir gehören, hat zweifellos mit Kathleen und mit uns mitgelitten. Abgesehen von der Unterstützung im Gebet haben wir Hilfe in vielfältiger Gestalt erfahren. Wir haben eine junge, unbändig energiegeladene Welsh-Border-Collie-Hündin namens Lucy, die etliche Male zu den Spaziergängen abgeholt wurde, die sie so sehr liebt. Leute haben für uns gekocht und für uns gesorgt, damit wir eine Pause einlegen konnten. Sie haben uns besucht und Blumen und Briefe geschickt. Unser umgewandeltes Esszimmer wird in Duft und Aussehen einem Blumengeschäft immer ähnlicher. Der Vikar, der für unsere Gemeinde verantwortlich ist, ist zweimal gekommen, um mit Kathleen die Kommunion zu feiern. Sie liebt das und wir ebenso. Bridget und Kathleen und ich machen dann ja drei Viertel der Gemeinde aus. Es ist ein ganz besonderes Vorrecht, das Geheimnis und die kosmische Bedeutung des Brotes und des Weins hier in diesem kleinen Zimmer zu haben, nur für uns drei. Gott hat hervorragende Ideen, finden Sie nicht auch? Dies ist eine der besten. Die gewaltige Wirklichkeit des geistlichen Lebens und des Heils in so eindrücklichen, erdverbundenen Symbolen wie Brot und Wein wurzeln zu lassen, ist ein unübertreffliches Meisterwerk.
Ja, der Leib Christi hat uns gestärkt und aufrecht gehalten und geschützt. Man vergisst leicht, dass diese Begegnungen mit Jesus durch die Hände und Herzen unserer Brüder und Schwestern geistliche Erfahrungen sind, die den abstrakteren, mehr überweltlich numinosen Begegnungen, die sich in formell religiösen Situationen abspielen, keineswegs nachstehen. Warum fällt es uns so schwer, das zu akzeptieren? Jeder, der jemals eine Familie hatte, sollte in der Lage sein, das Prinzip zu verstehen. Bridget und ich haben drei Söhne und eine Tochter und es gibt nicht viel, was uns mehr Freude macht, als zu wissen, dass sie sich treffen, sich umeinander kümmern und es genießen, zusammen zu sein. Wenn das geschieht, ist das wie eine Rechtfertigung oder Beglaubigung unserer Elternschaft. Ja, gut, in unserem Fall mag wohl ein ziemlich kindisches Element in dieser Reaktion enthalten sein, aber zumindest hilft es uns zu verstehen, wie unser himmlischer Vater es empfindet, wenn die Mitglieder seiner Familie einander lieben und sich umeinander kümmern. Am Ende des Johannesevangeliums spricht Jesus über eben dieses Thema:
Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Ich sage hinfort nicht, dass ihr Knechte seid; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan. Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, damit, wenn ihr den Vater bittet in meinem Namen, er's euch gebe. Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebt.
Bei allem angebrachten Respekt – ist da nicht der Anflug des Tonfalls einer besorgten Mutter herauszuhören?
„Ich muss weg, und ihr müsst mir versprechen, gut aufeinander aufzupassen. Ihr vergesst es doch nicht, oder? Liebt einander. Das ist mir sehr wichtig. Versprecht es mir.”
Die heilige und geheimnisvolle Wahrheit ist, dass wir als Christen, wenn wir einander berühren, Jesus berühren. Wenn es eine Berührung der Fürsorge und der Liebe ist, lächelt der Himmel auf uns herab, und derselbe Gott, der durch den siebenundzwanzigsten Vers des ersten Kapitels des Jakobusbriefes spricht, sagt mit der Zufriedenheit eines stolzen Vaters: „Schaut euch das an. Das nenne ich wahre Religion!”
Ich danke Gott für Kathleen Rosa Ormerod, für ihre Sturheit, ihre Großzügigkeit, ihre Loyalität, ihre zupackende Fürsorge, ihre unerschütterliche Liebe zu ihren Freunden, ihr prinzipientreues Leben, ihre Tapferkeit und für die Verwundbarkeit, die wir in diesen letzten Wochen an ihr sehen konnten. Ich danke Gott für alles, was sie ist, und alles, was sie getan hat. Am liebsten wäre mir, sie würde weiterleben, aber vor allem will ich Gottes Bestes für sie, was immer das sein mag.