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Kapitel 2
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Ich habe nicht sehr viele Erinnerungen an meine Mutter. Aber die Erinnerungen, die ich habe bestehen aus einzelnen Bildern. Und jedes Bild verströmt einen fernen Zauber, der an keine Zeit gebunden ist. Ihre riesigen rissigen Hände, die einen großen Apfel mit einem Ruck in zwei Hälften zerreißen und mir die schönere Hälfte geben. Mein Vater trägt mich auf dem Arm und wir gehen auf meine Mutter zu, die in einer großen dunkelgrünen Latzhose steckt und mit einer Motorsäge einen Baum fällt. Meine Mutter, die mir immer etwas über die Besonderheiten der Tiere erzählt, denen wir auf unseren Spaziergängen begegnen; die Milchkühe, die wiederkauen, die Nacktschnecken, die ihr Haus auf dem Rücken tragen, die Wildtiere, die auf die Menschen verzichten wollen. Ich sitze bei meinem Vater in seinem sauberen Auto und sehe meine Mutter in einem schmutzigen Nachthemd am Straßenrand stehen, ihre zotteligen braunen Haare wehen wild im Wind, wo will sie hin, diese Fee scheint in einen Kampf zu ziehen? Auf einem Bild, das in der Küche hing und immer noch hängt, sitzt auf einem zotteligen Pony, hinter ihr Berge und Felsen und ein Wasserfall und ihr Gesicht ist der Ausdruck reinen Glücks. Später, viel später, ich bin längst erwachsen, erzählt mir Berthold, mein Vater, mehr über sie. Sie war im Klinikum angestellt, um die Grünflächen zu pflegen. Sie hatte eine psychische Behinderung, man hatte Schizophrenie bei ihr diagnostiziert. Mein Vater sagte, das Leben hätte ihr ohne ihre Fantasie nicht ausgereicht. Ich erinnere mich jetzt, dass ich gesehen hatte, wie sie ihre Tabletten nahm. Und wenn mein Vater mit mir nach Hause kam, nachdem er mich vom Kindergarten, von der Schule abgeholt hatte, lag sie immer in eine Decke gehüllt auf dem Sofa. Sie bemühte sich, dann schnell aufzustehen und eine gute Hausfrau zu sein. So würde ich es heute ausdrücken. Sie war mir immer großartiger, besonderer, bewundernswerter als mein Vater vorgekommen, mit ihren tiefgründigen, manchmal verwegenen eisblauen Augen. „Sie hätte es verdient, etwas Großartiges zustande zu bringen“, sage ich zu Berthold, meinem Vater. Er lächelt, und jetzt kann ich auch an ihm etwas Besonderes sehen, unglaublich warme, tiefgründige Augen, ein kühnes Grübchen neben seinem Mund, der lächelt, der fast so ebenmäßig wie der einer Frau ist. Wie meiner. Mein Vater ist für mich jetzt ein Held, wie ihn sich kleine Kinder wünschen. „Sie hat Dich“, sagt er und nimmt meine Hand in seine glatten Beamtenhände, „zur Welt gebracht.“