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1 Editorial

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Diese Zeilen schreibe ich im Home Office. Als Tech-Journalistin, die sich mit gesellschaftlichen und politischen Implikationen von Technologie auseinandersetzt, fasziniert mich die aktuelle Periode. Denn die derzeitige Pandemie hat uns gezeigt, dass nicht nur das Gesundheitswesen das Prädikat «Systemrelevanz» verdient. Sondern auch eine funktionierende digitale Infrastruktur. Kein Chief Technological Officer, kein Innovationsprojekt, kein Extrabudget konnte die digitale Transformation von Schulen, Verwaltungen und Unternehmen so sehr beschleunigen wie das 2019 entdeckte Coronavirus. Der von Regierungen verhängte Lockdown oder Shutdown wurde zum Katalysator der digitalen Transformationen, die man an einigen Stellen – Schule, Parlament, Unternehmen, Bundesverwaltung – jahrelang aufgeschoben hat.

Das Coronavirus zwang uns – Eltern, Lehrerinnen, Bundesangestellte und Managerinnen – sich mit Fragen auseinanderzusetzen, die wir jahrelang bis ins Jahr 2020 wegprokrastinieren. Schliesslich reichte ja für den Alltagsbetrieb zu einem grossen Teil die physische Präsenz. Nun zeigt sich, wie sehr die Digitalisierung zu einem grossen Teil Verhandlungsmasse ist. Und Entscheidungsprozesse beinhalten, in denen wir zwischen verschiedenen Werten, Prinzipien, Geschäftsmodellen oder Algorithmen austarieren müssen: Etwa wenn wir uns mit der Wahl des richtigen Videokonferenzwerkzeugs für unsere Home Office-Umgebungen beschäftigen: was ist uns wichtig, pragmatischer Benutzerkomfort, eine funktionsfähige Leitung, die nicht zusammenbricht oder eine Ende-zu-Ende verschlüsselte und datensparsame Videoverbindung? Oder bei Fragen, wie eine nationale Contact Tracing-App ausgestaltet werden soll: maximal privatsphärenfreundlich, aber damit auch epidemiologisch untauglich?

Viele der obigen Fragen tangieren verschiedene ethische Werte und Designprinzipien, die manchmal synergetisch und harmonisch zu vereinbaren sind. Oder sich manchmal klar widersprechen.

Privatsphäre, Nutzerkomfort, einfache Bedienbarkeit, hohe IT-Sicherheit, Transparenz durch Open Source, konstruktives oder fehlgeleitetes schädliches Verhalten aufgrund von algorithmischen Anreizen. Genau um diese Werte, ihre Widersprüche und aber auch Kongruenzen dreht sich mein Buch. In verschiedenen Recherchen, Analysen und Hintergrundgeschichten versuche ich das Spannungsverhältnis zwischen maximaler Vernetzung, grosser Reichweite und den potenziellen Einbussen an Selbstbestimmung und Privatsphäre herauszuarbeiten.

Dieser Diskurs mag vielleicht abstrakt klingen, doch die letzten drei Jahre boten genügend Anschauungsmaterial, wie Sie den ausgewählten Texten für dieses Buch entnehmen können: Angefangen mit eVoting, in der die Frage nach der richtigen Abstimmungssoftware direkt die Säule der Demokratie betrifft. Weiter mit der Frage welche der richtige Herausgeber für ein staatliches digitales Benutzerkonto sein soll: ein Privatunternehmen oder ein staatliches Passbüro? Dann zur brandaktuellen Thematik der Google-Schulen in der Schweiz und inwiefern ein Monopolist die persönlichen Daten von siebenjährigen Primarschülern verarbeiten darf. Bis hin zu ethischen Aspekten rund um die Contact Tracing-App, dem geopolitischen Konfliktpotenzial von globalen Lieferketten rund um die Computerchips der ETHs und inwiefern Brüssel die globale Technologiewelt regulieren kann. Das Weltgeschehen bot soviel Recherche-Stoff, dass ich mich ständig in neue Dossiers einlesen musste.

Seit sechs Jahren schreibe ich über diese Schnittmenge von Technologie und Demokratie, zuerst gelegentlich als Social Media-Redaktorin bei der NZZ. Nun hauptberuflich bei der Republik und als Herausgeberin des Buchs Smartphone-Demokratie, das im September 2017 erschienen ist. Mein Fokus wurde zu Beginn – also vor circa 8 Jahren – oft noch als Nischenthema bezeichnet. In deutschsprachigen Redaktionen wird Technologie und Software nicht als Politikum per se verstanden. Viele Journalistinnen und Journalisten konnten sich daher wenig unter der Schnittmenge von Digitalisierung und Demokratie vorstellen. Oft wurden die digitalen US-Kampagnen von Barack Obama und später von Donald Trump damit assoziiert, mehr nicht. Dies, obwohl die Snowden-Enthüllungen 2013 eindrücklich gezeigt haben, welche Machtkonstellationen und -bündnisse hinter einem unsicheren und unverschlüsselten Internet stecken können.

Im angelsächsischen Raum würde man sich über den Begriff Nische wundern. Denn was in Europa noch als Nische definiert wird, wird dort zu eigenen personell gut dotierten Ressorts aufgerüstet. In den USA hatte sich das Verständnis von Technologie-Journalismus nach den Nullerjahren – in denen insbesondere Gadgetbesprechungen und Serviceartikel dominierten – weiterentwickelt. Immer mehr forschten Journalisten zu den Intersektionen von Technologie und Gesellschaft. Akribisch werden Schnittstellen, Voreinstellungen und Sicherheitslücken gesucht. Wer fündig wird und eine Schwachstelle entdeckt mit grosser Tragweite, landet einen «Scoop». Der Vorsprung verwundert nicht, schliesslich gilt Nordamerika als Hauptsitz für viele Datenkonzerne. Doch bereit in gewissen fachjournalistischen Kreisen würde selbst der Nischenbegriff «Tech-Journalismus» als zu überholt, zu allgemein und generisch gelten. Er enthält für viele dieselbe Unschärfe wie das Wort Politikjournalismus, wo längst zwischen einer Inlandreporterin oder Brüssel-Korrespondentin unterschieden wird.

In amerikanischen Fachmagazinen haben sich deswegen regelrechte Subdisziplinen herausgebildet. Im Technologiemagazin Motherboard von Vice Media haben sich einzelzne Disziplinen herausspezialisiert. Eine Cybersecurity, Privacy, Social Media-Reporterin deckt einen eigenen weiten Fachbereich – einen eigenen Beat – ab. Sie beobachten neue Entwicklungen, unternehmen Recherchen, publizieren Analysen und Kommentare zu ihrem Subfachgebiet. Alleine schon den Themenkomplex IT-Sicherheit journalistisch und fachlich kompetent zu begleiten, erfordert ein grosses Netzwerk von Sicherheitsspezialisten, Behörden, einer Anlaufstelle für Whistleblowers und fachkundige KollegInnen, die eine Journalistin für allerlei fachliche Fragen konsultieren soll.

Was sich in Europa allmählich langsam herausbildet, ist in den USA bereits etabliert. Vorbilder aus dem angelsächsischen Raum gibt es viele: Motherboard, The Verge, Intercept. Doch wenn ich nur eine Person nennen müsste, dann wäre das die preisgekrönte Investigativjournalistin Julia Angwin und ihr neuestes Projekt The Markup. Angwin, die bereits bei der Non-profit-Plattform ProPublica-Recherchen publizierte, wollte sich mit Markup ganz auf die Technologien-Welt spezialisieren. Ihrer journalistischen Methoden und Ausrichtung verpasste sie eine passende Bezeichnung, auch wenn sich diese schwer auf Deutsch übersetzen lässt: Sie verfolgt einen «evidence-based tech accountability journalism». Relevant sind hier vor allem die Begriffe «Evidenz» und «Accountability» also «Rechenschaftspflichtigkeit».

Die Redakteurinnen und Redakteure von Markup arbeiten datenbasiert, sie erheben Datenauskünfte bei Technologie-Unternehmen, probieren verschiedene Werbekampagnen aus, sie gehen von sich als Konsumentin oder Nutzer aus und betreiben sogenanntes «reverse engineering». Mit einem Auskunftsbegehren findet man nicht nur das Ausmass von gesammelten Daten durch eine Plattform, sondern erfährt auch mehr über deren Mechanismen und Funktionsweisen. Genau mit diesen technischen Recherchen kann die Black Box hinter Technologie geknackt werden. Die Geschichten werden also aus extrahierten Datenmustern herausdestilliert. So fand The Markup heraus, dass Facebook eine spezifische Werbekategorie für «Pseudowissenschaft» aufführt, die Unternehmen adressieren können und deren Zielgruppe anfällig sind für «alternative Fakten», gerade in der Corona-Krise.

In Zeiten der Technologie-Monopole und einem enormen Machtzuwachs in Richtung globale Plattformen ist Transparenz wichtiger denn je. Wenn wir verstehen, wie Netzwerke und Apps unsere Meinungen prägen, unsere Spuren zu umfangreichen Profilen verknüpfen und weiterverkaufen, können wir als Konsumentinnen und Bürgern mündig wehren und mitbestimmen.

Und hier kommt die von Angwin immer wieder genannte «Accountability» zum Zug. Hinter Funktionen, Features und Updates stecken Entscheidungen und Handlungen von Akteuren. Angwin und ihr Team wollen diese Entscheidungen sichtbar und die Entscheidungsträger «accountable» – also verantwortlich – machen. Immer mehr neue Technologie-Journalismus-Projekte haben sich deshalb auch diesem Ziel verschrieben, so auch «Protocol», dem neuen Tech-Fachmagazin von Politico.

Die englische Sprache ist dabei präziser. Es kommt nicht von ungefähr, dass man im Englischen kaum vom Begriff Digitalisierung spricht, sondern eher von «digital transformation» oder viel gebräuchlicher und ganz sec: von «Tech». Der Terminus Digitalisierung suggeriert meiner Meinung nach Subjektlosigkeit und eine Homogenität eines abstrakten Vorgangs, der in der Realität so nicht existiert. Jeder versteht etwas anderes darunter: von Automatisierung, maschinellem Lernen, regelbasierten Algorithmen bis hin zu Robotern. Im englischsprachigen ist jedoch kaum von «Digitization» die Rede. Der Begriff «Tech» bezieht sich konkret auf Technologieunternehmen und impliziert auch eine Handlungskompetenz und damit verbunden auch Rechenschaftspflichtigkeit.

Technologie-Konzerne fällen Entscheidungen und erarbeiten Geschäftsmodelle. Der Begriff Tech zeigt also, dass viele Endprodukte eine Frage von Alternativen sind. Das Unvermögen der deutschen Sprache bei gewissen Begriffen zeigt sich in der deutschen Übersetzung von Privacy: Datenschutz. Dabei wäre es zeitgemässer, von Privacy zu sprechen, denn was als privat erachtet und wie man öffentlich repräsentiert wird, ist Gegenstand aktueller Debatten. Datenschutz widerspiegelt diese Auseinandersetzung nur unzulänglich.

Ich versuche meiner journalistischen Ausrichtung, aller sprachlichen Unschärfen zum Trotz, einen deutschen begrifflichen Deckmantel zu verpassen: demokratie-relevanter Tech-Journalismus. Den Begriff habe ich wohl selber kreiert. Wer diese Wortkonstellation in unterschiedlichen Suchmaschinen eintippt in deutscher Sprache, landet mit hoher Wahrscheinlichkeit auf meinem Twitter-Profil und meinen Blog. Mit demokratie-relevantem Tech-Journalismus meine ich die kritische Beobachtung und Analyse von Technologien mit politischen und gesellschaftlichen Implikationen.

Die hier publizierten Republik-Beiträge sollen die Breite dieses Themengebiets aufzeigen: Bildung, Abstimmungshacking, Regulierungen, Handelskrieg, Gesichtserkennung, Wahlbeeinflussung, Google-Schulen, der digitale Pass etc. Ich habe aus dem Fundus von Texten diejenigen ausgewählt, die bis heute nicht an Aktualität und Relevanz verloren haben. Denn obwohl sie in der Vergangenheit erschienen sind, dominieren sie noch heute die politische Agenda oder beschäftigen noch manche Führungslenker von Datenkonzernen. Einige meiner Recherchen sind Konflikte, die bis heute noch andauern. Oder sie lösten Fragen aus, die bis heute unbeantwortet bleiben. Aus diesem Grund habe ich zu einigen älteren Texten aus den letzten Jahren ein Recherche-Update hinzugefügt, mit neu präsentierten Fakten und Kurzanalysen von mir. Die Buchreihe «Das Netz ist politisch» ist eine Chronik der Tech-Welt. Die Bände sollen die Schnittstelle von Digitalisierung und Gesellschaft fortlaufend dokumentieren und einordnen.

Mit dieser Buchreihe möchte ich zu einem aufgeklärteren Diskurs über den Einsatz von Technologien beitragen. Der Technologie-Journalismus im deutschsprachigen Raum steht trotz der enorm hohen Bedeutung und Tragweite für Staat und Gesellschaft immer noch am Anfang. Eine Diskussion über Qualitätsstandards oder etwa Ausbildungswege tut not und würde auch zu einer Professionalisierung dieser jungen journalistischen Disziplin beitragen.

Nur so werden Tech-Journalistinnen befähigt Unternehmenskommunikation von Technologie-Konzernen kritisch zu hinterfragen und einzuordnen. Nur so können Bürger informierte Entscheidungen fällen und Forderungen gegenüber Politik und FührungslenkerInnen der Konzerne fällen. Und nur so sind Politikerinnen imstande, demokratiefördernde und rechtsstaatlich konforme Gestaltungskriterien für Technologien zu formulieren, die an die Privatindustrie herangetragen und eingefordert werden.

Und nicht umgekehrt.

Ansonsten entscheidet der Markt für uns. Nicht immer mit gesellschaftlich erwünschten Folgen.

Adrienne Fichter, September 2020

Das Netz ist politisch – Teil I

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