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Onkel Kelly und das teure Kügelchen

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Genug Tabletten genommen, entschied ich eines Tages - denn ich hatte die Nase voll. Es musste etwas ANDERES her. Und da in meiner Familie schon über viele Jahrzehnte mit der Klassischen Homöopathie unglaubliche Heilungen passiert sind, wo die sogenannte Schulmedizin nichts mehr ausrichten konnte, entschied ich mich für diesen Weg.

Ich wusste auch schon, wo ich fündig werden sollte: Ich kannte ein Ehepaar, das sich ganz dieser Heilweise von Samuel Hahnemann verschrieben hatte. Dazu muss man wissen, dass der Grundsatz dieser Heilmethode den Satz „Gleiches mit Gleichem heilen“ im Schilde führt. Man könnte auch sagen, was den Gesunden krank macht, kann den Kranken auch wieder gesund machen. Hahnemann selbst hat dies schon vor über 200 Jahren an sich selbst getestet. Mit Chinin, einem Stoff, der malaria-ähnliche Symptome hervorbringt, wenn ihn ein Gesunder zu sich nimmt. Gibt man jedoch einem Malaria-Erkrankten Chinin, so soll er genesen. So die Theorie. Natürlich grob vereinfacht, sehr grob. Denn die Heilweise stützt sich auch wesentlich auf das Verdünnen, das sogenannte Potenzieren von allen Stoffen, die zur Heilung eingesetzt werden können. Und genutzt werden kann alles: Alles, was in der Natur vorkommt, inklusive erkranktem Gewebe, inklusive ekliger Dinge, über die man nicht gerne nachdenken möchte. Eine wissenschaftliche Beweislage ist auch heute noch sehr dünn, es wird heftig gestritten den Fachrichtungen. Aber die Homöopathie ist mittlerweile eine Erfahrungsmedizin. Und viele Anwender, die sie auch bei Tieren erfolgreich eingesetzt haben, können bestätigen, dass ein Placebo-Effekt, der ja nur auf Glaube und Einbildung beruht, hier absolut ausgeschlossen ist.

Dieser Lehre folgte auch das ungleiche Paar, ich kannte die beiden noch aus meiner Jugend. Aber eben nur vom Sehen. Oft hatte ich sie in der Pizzeria meines Heimatortes beobachtet, wo sie praktisch die ganze Gästeschar kostenlos und aus reiner Nächstenliebe beraten haben. Der Familienvater und Homöopath war ein recht uriger Typ, er trug einen brustlangen Bart und war etwas übergewichtig, was ihn gemütlich und ruhig erscheinen ließ. Seine Frau, ebenfalls vom gleichen Berufsstand, war eine eher blasse Gestalt, die immer einen Cowboyhut trug, solange ich sie kannte. Sie hatten Kinder wie die Orgelpfeifen. Für mich waren sie so etwas wie eine zweite Kelly-Family. Nur, dass sie sich nicht mit Musik beschäftigten – sondern mit der Heilkunde Hahnemanns. Mittlerweile, so wusste ich, waren sie mit ihrer Praxis in die nächste Großstadt umgezogen.

Ich dachte, so ein Versuch kann ja nicht schaden, denn ich war immer noch nicht so fit, wie ich es gerne gehabt hätte. Außerdem war Onkel Kelly, wie ich den Homöopathen immer heimlich nannte, ein Bekannter eines Freundes. Und der schwärmte von der unglaublichen Kompetenz dieses Mannes, der seinen Job als echte Berufung verstand und zu dem die Kranken von überall her kamen. Also gab es für mich nur ein Ziel: Ich musste zu ihm, aber pronto!

Jede Drehung des Kopfes tat weh, die Muskeln waren noch immer angegriffen, der ganze Oberkörper war noch nicht frei beweglich. Starke Prellungen und dieses HWS-Trauma waren die Ursache. Aber dass das so lange dauern würde, bis ich wieder auf dem Damm und ganz die „Alte“ war, hätte ich niemals vermutet. Dabei war die erste Freude, dass der Unfall für mich mehr als glimpflich ausgegangen war, doch so groß gewesen. Aber damals wusste ich ja auch noch nicht, dass sich wegen einer einzigen Zehntelsekunde im Leben so viel zum Negativen ändern konnte.

Ich hatte „Onkel Kelly“ lange nicht mehr gesehen und fand, dass er alt geworden war. Der Bart war inzwischen etwas kürzer, der Bauch dafür ein bisschen dicker. Ein lustiger Geselle war er trotzdem geblieben. Na denn.

„Aenne Dornbusch, ich grüße Sie. Und jetzt erzählen Sie mir mal, um was es bei Ihnen überhaupt geht!“ So begann die erste Sitzung, die ich bereits bar im Voraus bezahlt hatte.

Also erzählte ich. Und der Heilpraktiker schrieb im Eiltempo mit, innerhalb kürzester Zeit hatte er mehrere A4-Seiten vollgekritzelt. Er wollte aber auch ALLES von mir wissen, wie alt die Großeltern sind – oder ob sie bereits verstorben waren, welche Krankheiten in der Familie vorgekommen sind und woran jemand gestorben ist, ob man eher friert, den rauen Wind mag oder lieber die brennende Sonne, er wollte wirklich ans Eingemachte. So etwas hatte mich ein Arzt noch nie gefragt…

Dieses „Interview“ hat schätzungsweise anderthalb Stunden gedauert. Innerlich musste ich ein paar Mal grinsen, habe mir aber nichts anmerken lassen. Weil ich dachte, das ist ja total absurd: Was hat denn DIES ODER JENES mit meinen jetzigen Beschwerden zu tun? Auch die Tatsache, dass er dem Unfall oder den nachfolgenden Behandlungen nicht übermäßig viel Bedeutung zukommen ließ, machte mich skeptischer mit jedem Moment.

Er stand irgendwann auf und kam nach ein paar Minuten zurück.

Was nun, dachte ich. Wie geht es jetzt weiter?

Aber Onkel Kelly reichte mir eine Kugel. Oder besser ein einziges, winziges, weißes Kügelchen. Viel kleiner noch als eine „normale“ Pille. Sicherlich habe ich vollkommen ungläubig dreingeschaut. Doch ich sollte mir die Sache ganz langsam unter der Zunge zergehen lassen. Und mich hinlegen, ins Nebenzimmer. Wo er ein Fenster auf Kipp stellte und sagte, er käme gleich wieder.

Da lag ich nun. Und nicht alles, dass ich laut losgelacht hätte. Meine Güte, und dafür hatte ich jetzt 120 Mark hingeblättert! Dafür, dass ich ihm die halbe Lebensgeschichte meiner Familie erzählen durfte, meine eigene noch dazu, außerdem noch über Wettervorlieben, Lieblingsessen und bevorzugte Getränke ausgefragt wurde. Und nach alldem hatte ich nur so ein Mini-Ding zum Lutschen bekommen und lag auf einer Behandlungsliege, mitten in der großen Stadt. Wo man den Verkehrslärm hören konnte und wahrscheinlich keine ruhige Minute finden würde.

Ich war mir ziemlich sicher: Aenne Dornbusch, Du Dummerchen, bist einem Scharlatan aufgesessen!

Aber kurz nachdem ich den Satz zu Ende gedacht haben musste, war ich auf einmal total müde. Müde, und doch irgendwie „auf Sendung“. Ein ganz merkwürdiges Gefühl führte mich auf eine Welle, eine Ebene, es lässt sich schwer beschreiben. Dann auf einmal begann meine komplette rechte Körperhälfte wie unter Strom zu stehen, auch meine rechte Kopfseite kribbelte wie verrückt. Keine Ahnung, was das war. Es war nicht unangenehm, auch nicht ganz unbekannt, jedenfalls machte es mir keine Angst. Irgendwelche Wellenbewegungen strömten durch die rechte Seite und ich war auf einmal wie weggetreten.

Ich weiß nicht mehr, wann ich wieder wach wurde. Auf einmal stand Onkel Kelly neben der Liege und fragte ganz nüchtern: „Und, gab es eine Reaktion?“

Ja, und was für eine. Ich versuchte, ihm so sachlich wie möglich zu erklären, was gerade passiert war.

Er sagte nur: „Das war der Schock von dem Unfall, der saß noch in ihrem Körper. Aber das dürfte jetzt Vergangenheit sein. Die Lebenskraft, die Dynamis, wird jetzt wieder voll da sein.“

Als ich die Praxis verließ, war ich irgendwie high. Nichts erinnerte mich mehr an meinen Unfall. Ich ging in die nächste Eisdiele und rauchte erst einmal eine Zigarette, trank einen Cappuccino und fühlte mich befreit.

Dabei hatte ich kurz vorher noch gedacht, auf eine Empfehlung hereingefallen zu sein…

Von da an ging es mir besser.



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