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Wer hat denn sowas angeordnet?

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Nach zwei Monaten im Krankenstand erfolgte der erste Arbeitsversuch, zur Freude meines Vorgesetzten, der schon lautstark angekündigt hatte, dass „Riesenstapel voller Arbeit“ auf mich warteten. Klar, dass viel liegenbleibt, wenn jemand für längere Zeit ausfällt. Ich war aber motiviert und besten Willens, meinen Beruf wieder aufzunehmen, Beschwerden hin oder her. Mit der Zeit würde das schon vergehen, dachte ich. Also, ran an die Arbeit, zuerst jedoch nur für drei Stunden pro Tag. Man nennt das „Stufenweise Wiedereingliederung“, was eigentlich eine sinnvolle Erfindung ist, aber trotzdem doof klingt. Langsam sollte die Arbeitszeit gesteigert werden, ohne jedoch zu überfordern. Das wäre ja kontraproduktiv. Wie gesagt, es war nur ein Versuch. Was sollte auch dabei herauskommen, wenn man unter Schmerzen zur Arbeit geht? Keine zwei Stunden konnte ich am Schreibtisch sitzen, mir tat alles weh, ich konnte mich kaum rühren und schwindlig war mir außerdem.

Die Wiedereingliederung wurde für gescheitert erklärt, denn ich war noch nicht so weit, und die Schmerzen waren auch wieder schlimmer geworden. Erneut wurde ich zu 100 Prozent krankgeschrieben. Doch irgendwie musste es ja weitergehen. Nur wie? Da kam ich auf die Idee, nochmals einen klassischen Orthopäden aufzusuchen, und in einer nahegelegenen Klinik wurde ich fündig. Der Arzt war sehr erfahren, Herr Dr. Ordentlich, ein vertrauenswürdiger Mensch. Er untersuchte mich gründlich, hörte sich meine noch junge Krankengeschichte an und war ziemlich empört über die Behandlungen im Krankenhaus. Konkret, die wiederholten chiropraktischen Eingriffe durch den Arzt, dessen Hobby das Einrenken war.

„Wer hat denn sowas angeordnet?“, fragte er mich. Tja, was sollte ich als Patientin dazu sagen? Es hörte sich für mich an wie die ewige Handwerker-Frage, die jeder kennt, wenn irgendetwas repariert werden muss und nicht gerade derjenige erscheint, der es einst installiert hat: „Wer hat denn DAS gemacht?“ Vorgänger, die „ES“ vermeintlich verbockt haben, sind oftmals gut für vielerlei Attacken. Das zieht sich offenbar durch alle Berufszweige.

Aber was konnte ich dazu? Ich gebe als gutgläubige Kranke auf der Suche nach Linderung (und bestenfalls sogar Heilung) doch erst einmal einen Vertrauensvorschuss an denjenigen, dem ich mich anvertraue. Wie sollte es auch sonst laufen? Wenn ich der Diagnose, der Therapie und dem Arzt von vornherein misstrauen würde, dann wäre es doch sinnlos, überhaupt die Hilfe eines Arztes zu suchen? Für Fachgespräche über Behandlungsstrategien bin ich als Patient doch nicht ganz der richtige Ansprechpartner…

Wie auch immer: Im Endeffekt wurde mir erklärt, dass diese Vorgehensweise in eine „frische Schleuderverletzung“ so ziemlich das Allerletzte gewesen ist – und dabei auch noch ziemlich gefährlich. Keinesfalls sollte ich mir nochmals die Halswirbelsäule auf diese Art behandeln lassen. Stattdessen verordnete der Arzt eine Halskrause für mehrere Wochen. Strikte Schonung und Ruhe lautete das Gebot der Stunde!

Später sollte ich dann zur Physiotherapie überwiesen werden. Aber erst einmal war wieder Ruhe angesagt – und der Frust über die Gesamtsituation. Und dass ich nun wiederum in der Firma Bescheid geben musste, dass ich noch immer nicht einsatzfähig bin. Von meiner armen Kollegin, die mich vertreten musste und meinen nicht ganz einfachen Chef so nebenbei mitversorgen sollte, ganz zu schweigen.

Es vergingen nochmals zwei Monate, ich dachte, ich sei auf dem Wege der Besserung. Und ich ging – wie vereinbart zur ersten Physiotherapie. Dort wurde mein Kopf zur Dehnung der Halswirbelsäule in eine Art Schlinge eingehängt, die der gesprächsselige Therapeut unter ständigem Plappern über dies und jenes munter nach oben zog. Bis ich fast aus den Latschen kippte. Ich blaffte ihn an: „Hören Sie sofort auf damit, mir wird total schwindlig und schlecht, was machen Sie denn da?“

Der Mann war ziemlich erschrocken über meine Reaktion und meinte doch tatsächlich: „Frau Dornbusch, ach, Sie haben ja anscheinend WIRKLICH ein Schleudertrauma! Meistens ist es nämlich so, dass die Leute nur ein paar Wochen wegen dem Schmerzensgeld blau machen. Ich wusste ja nicht, dass Sie echte Beschwerden haben…“

Ich habe diese Praxis nie wieder betreten. Dafür kämpfte ich nun öfter mit Übelkeit und Schwindel. Und Langeweile. Das Fernsehprogramm kannte ich komplett auswendig, auf dem Sofa war ich zeitweise sicher angewachsen. Mittlerweile wusste ich sogar über Nachmittags-Talkshows Bescheid, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Doch das alles hängte mir im wahrsten Sinne des Wortes zum Halse heraus. Schon wieder der Hals!

Außerdem war mein Chef auf 180. Die ständige Krankschreiberei nervte ihn, ich konnte ihn schon fast bis nach Hause toben hören. Aber es ging beim besten Willen gar nichts. Auch wenn er versuchte, mich mit einem unangemeldeten Besuch, welch‘ Überraschung abends um halb neun (!), ein bisschen zu verunsichern oder unter Druck zu setzen. Er wollte doch mit eigenen Augen einmal sehen, WIE krank ich denn nun wirklich war. Rechtlich gesehen ist das ein „NO-GO“, wie das heutzutage heißt, aber irgendwie war mir das damals sogar egal. Meine Mutter öffnete ihm damals die Türe und er stürzte herein und sah mich vollkommen heruntergekommen in Schlafanzughose und mit Krücken vor dem laufenden Fernseher sitzen. Mit Halskrause, wohlgemerkt. Das hatte ihm wohl so die Sprache verschlagen, dass er meine Mutter nach einem Cognac aus ihrer Hausapotheke fragte. Naja. Danach konnte ich bei ihm keine Zweifel mehr an meiner Krankschreibung feststellen…

Eines Tages, es waren mittlerweile einige Wochen vergangen, musste meine Mutter zum Zahnarzt. Da hatte ich die glorreiche Idee, dass die Gelegenheit doch nun günstig wäre, sich dort auch mal wieder vorzustellen. Schätzungsweise war ich seit einem Jahr, vielleicht sogar schon länger, nicht mehr dort gewesen. Nicht gerade vorbildlich, wo ich sowieso gerne mal das Putzen am Abend ausfallen ließ. Ich war also auch noch mit einem schlechten Gewissen belastet. Und so schloss ich mich an.

In der dörflichen Praxis war inzwischen ein neuer, junger Zahnarzt tätig. Typischer Vertreter eines aufstrebenden „Ossis“, man kann es nicht anders sagen. Er war sonnenbankgebräunt, sächselte nicht gerade sexy und fuhr einen roten Porsche – und alle Landpomeranzen rannten ihm mit hängender Zunge hinterher. Mein Typ war er nicht, er vertrat auch so merkwürdige Ansichten, dass man „sein Gold im Mund“ ruhig stolz präsentieren könnte. Schließlich würde man dann bei jedem Lächeln zeigen, dass man sich etwas leisten konnte!

Aber mir war das egal, ich stand nicht auf Gold. Zumindest nicht im Mund und schon gar nicht im sichtbaren Bereich. Wir lebten ja nicht in einem osteuropäischen Dorf ohne Stromanschluss, wo so etwas vielleicht noch Eindruck schinden konnte.

Nun, abgesehen davon, machte er ratz-fatz einen Plan, der offenbarte, dass meine Zähne eine einzige Baustelle waren. Die oberen Weisheitszähne sollten dringend heraus, da es ein erhebliches Platzproblem im Kiefer gäbe, und mehrere Amalgam-Füllungen müssten durch Kronen oder Teilkronen ersetzt werden. Ein wahres Wunder, dass ich mit diesem angeblichen Katstrophengebiss überhaupt noch rohe Karotten essen konnte, dachte ich damals. Das hörte sich ja wirklich übel an. Würde wohl eine größere Sache werden – und auch eine größere Investition… Dabei hatte ich keinerlei Beschwerden gehabt, wollte doch nur zur einfachen Kontrolle gehen. Nun kam einiges auf mich zu. Aber ich versuchte, es positiv zu sehen: Ich war ohnehin krankgeschrieben und hatte somit Zeit für die notwendigen Behandlungen.

Leider lief es nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. So einfach war die ganze Aktion wohl doch nicht. Das Ziehen der oberen Weisheitszähne verlief auch relativ problemlos, jedoch war danach nichts mehr wie vorher in meinem Kiefer. Irgendwie hatte sich alles verändert, aber ich dachte, ich würde mich daran gewöhnen. Schmerzen hatte ich jedoch keine, es war halt nur ungewohnt – aber nun konnten die anderen Restaurierungsarbeiten beginnen. Es zog sich aber leider alles hin, nichts lief glatt, denn in der Regel überstanden die eingesetzten Provisorien nicht mal den Nachhauseweg, es passte alles hinten und vorne nicht zusammen, und mittlerweile sah ich Zahnarzt „Dr. Ossi“ häufiger als den Hausarzt und den Orthopäden zusammen. Und das, wo ich sonst doch immer gerne einen großen Bogen um jede Zahnarztpraxis gemacht hatte.

Die Zähne hatten zu der Zeit in meinem Leben absolut die Oberhand gewonnen. Ich konnte schlicht und ergreifend nicht mehr essen, wie und was ich wollte. Mal funktionierte die eine Seite nicht, dann wieder die andere. Etwas Hartes konnte ich nicht richtig kauen, und ich traute mich auch nicht mehr. Dazu kamen irgendwann noch sehr unangenehme Gesichtsschmerzen, die ich jedoch kaum beschreiben konnte, irgendwie merkwürdig. So etwas hatte ich ja noch nie gehabt! Es kam mir ziemlich spanisch vor, das Ganze. Irgendwas war schief gelaufen. Und unter der Krone unten rechts tobten die Schmerzen. Mal waren es reine Zahnschmerzen, dann wieder tat mir die ganze Gesichtshälfte weh, es zog in alle Zähne auf dieser Seite, stach und manchmal fühlte ich regelrechte elektrische Schläge in jedem einzelnen Zahn. Dazu kamen noch stechende Ohrenschmerzen, Kopfweh auf beiden Seiten – und natürlich tat der ganze Nackenbereich weh. Das kannte ich noch von meinen Unfall. Es ging auch nicht mehr weg.

Und immer noch war mir zeitweise schwindelig, ich war benommen – es fühlte sich an, als hätte ich einen mittelschweren Schwips. Aber ich hatte keinen Tropfen Alkohol getrunken. Es war zum Verrücktwerden. Vielleicht fing es ja wirklich so an… Ach, in welchen schlechten Film war ich eigentlich hineingeraten?

Trotzdem wollte ich, es war mittlerweile schon Frühsommer, unbedingt wieder zurück an meinen Arbeitsplatz, ich hatte die Nase einfach voll von dem Herumsitzen, Schmerzen haben, Unnützsein. Und irgendwie auch ein schlechtes Gewissen gegenüber meiner Kollegin. Die Ärmste, mein Chef war nicht gerade einfach und ich wusste, was sie dort leisten musste.

Also trat ich den Dienst wieder an, zum Zahnarzt konnte ich doch auch nach Feierabend gehen. So meine Devise! Auf eine erneute Wiedereingliederung verzichtete ich. Alles sollte am besten von Null auf Hundert wieder ad hoc funktionieren, so wie früher. Sicher würden sich meine noch immer andauernden Rücken-, Kopf- und Zahnschmerzen bald aus dem Staub machen. Denn so konnte das ja nicht weitergehen. Irgendwann würde mein Körper schon merken: Die Chefin, das war ICH!


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