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5. Kapitel Schnee am unrechten Platz.

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Der Dezember war schon zur Hälfte vorüber, bis endlich, endlich der erste Schnee fiel. Der richtige Schnee, der in feinen, dichten Flöckchen stundenlang gleichmäßig zur Erde fällt und in einem einzigen Tag das ganze Land überzieht mit seiner weichen, weißen Decke; der alles verhüllt, was vorher braun und hässlich war, der alles rundet und glättet, was rau und eckig aussah. Immer ist sie schön, die Schneelandschaft, aber am allerschönsten doch, wenn das lautlose Fallen des Schnees sich verbindet mit dem geheimnisvollen Reiz der deutschen Weihnacht.

Dezember – Schnee – Tannenbaum – Weihnacht, ihr gehört zusammen bei uns in Deutschland. In manchen Ländern hat man versucht, unsere Feier nachzumachen, und wir wollen ihnen auch die Freude gönnen, aber solch eine Sitte muss aus dem Boden gewachsen sein. Wenn man sie künstlich verpflanzt, wird etwas ganz anderes daraus.

Es wurde einmal eine junge Deutsche in die Fremde verschlagen, um die Weihnachtszeit. »Wir kennen auch den Christbaum,« sagten die fremden Kinder zu ihr, »wir bekommen einen.« Die Deutsche freute sich. Aber wie wurde es? Viele Kinder waren eingeladen worden und fuhren an in hellen Kleidern. Sie versammelten sich, und als der Baum hineingetragen wurde, klatschten sie Beifall wie im Theater. Sie nahmen die kleinen Geschenke herunter, die man für sie hinaufgehängt hatte. Dann wurden die Lichter ausgeblasen, damit kein Ästchen anbrenne und der Diener gerufen, dass er sogleich den Baum, der in einem Kübel voll Erde steckte, zurücktrage zu dem Gärtner, von dem er gemietet war. Keine Stunde war der Christbaum im Haus gewesen, keinen Duft hatte er verbreitet.

»Bei uns bleibt der Christbaum bis nach Neujahr,« sagte die junge Deutsche und sah ihm wehmütig nach. Es wurde ihr entgegnet, das sei doch unpraktisch, er nehme ja so viel Platz weg.

Ja, das tut er allerdings, aber welche deutsche Familie gönnt dem Christbaum nicht den Platz?

Im Dunkel des frühen Dezembermorgens waren die jungen Pfäfflinge durch den frischgefallenen Schnee in ihre Schulen gegangen und mit dickbeschneiten Mänteln und Mützen angekommen. Im Schulhof flogen die Schneeballen hin und her, und bis zu der großen Pause um 10 Uhr waren die zahllosen Spuren der Kinderfüße schon wieder von frischem Schnee bedeckt und die größten Schneeballenschlachten konnten ausgeführt werden.

Daheim hatte Elschen sich einen Stuhl ans Fenster gerückt, kniete da und sah vom Eckzimmer aus hinunter nach den Brettern und Balken, die wie ein großer weißer Wall vor dem Kasernenzaun aufgetürmt lagen. Und von diesem Zaun hatte jeder Stecken sein Käppchen, jeder Pfosten seine hohe Mütze auf.

Frau Pfäffling suchte die Kleine. »Elschen, komm, du darfst etwas sehen,« und schnell führte sie das Kind mit sich in das Wohnzimmer und öffnete das Fenster. Eine frische Winterluft strich herein. Am Haus vorbei, nach der Stadt zu, fuhr eine ganze Reihe von Leiterwagen, alle beladen mit Christbäumen.

»Christbäume, Christbäume,« jubelte Elschen so laut, dass einer der Fuhrleute, der selbst wie ein Schneemann aussah, herausschaute, und als er das glückselige Kindergesicht bemerkte, rief: »Für dich ist auch einer dabei!« Die Kleine erglühte vor Freude und winkte dem Schneemann nach.

Aber alles auf der Welt ist nur dann schön und gut, wenn es an seinem richtigen Platz ist, das gilt auch von dem Schnee. Eine einzige Hand voll von diesem schönen Dezemberschnee kam an den unrichtigen Platz und richtete dadurch Unheil an.

Das ging so zu: Im Heimweg von der Schule an einer Straßenecke, wo einige Lateinschüler mit Realschülern zusammentrafen, gab es ein hitziges Schneeballengefecht. Wilhelm Pfäffling war auch dabei. Einer der Realschüler hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen, indem er sich hinter der Straßenecke verbarg, dann rasch hervortrat, seinen Wurf tat und wieder hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die anderen ihm heimgeben konnten. Nun aber wollten sie ihn aufs Korn nehmen. Es waren ihm einige tüchtige Schneeballen zugedacht, wurfbereit warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken ließe. Jetzt wurde eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war nicht der Realschüler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen flogen dicht an seinem Kopf vorüber, zwei trafen ihn ganz gleichmäßig auf die rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz für den Schnee!

Herr Sekretär Floßmann, der so ahnungslos um die Ecke gebogen war und so schlecht empfangen wurde, stand still, warf böse Blicke und kräftige Worte nach den Jungen. Dass sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus Ungeschick geschehen, dass nun aber einige laut darüber lachten und dicht an ihm vorbei weiter warfen, das war Frechheit.

Zu den ungeschickten hatte auch Wilhelm gehört, zu den frechen nicht. Nach Pfäfflingscher Art ging er zu dem Herrn, entschuldigte sich und erklärte das Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees abschütteln. Der Herr schien die Entschuldigung gelten zu lassen und Wilhelm ging nun seines Wegs nach Hause. Er sah nicht mehr, dass Herr Sekretär Floßmann, als er ein paar Häuser weit gegangen war, einem Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und verlangte, er solle die Burschen aufschreiben und bei der Polizei anzeigen. Das war nun freilich nicht so leicht zu machen, denn alle, die den Schutzmann kommen sahen, liefen auf und davon.

Aber einen von Wilhelms Kameraden fasste er doch noch ab und fragte nach seinem Namen. Der zögerte mit der Antwort und sah sich um, keiner der Kameraden war noch so nahe, um seine Antwort zu hören.

»Also, dein Name,« drängte der Schutzmann. »Wilhelm Pfäffling,« lautete die Antwort, die vom Schutzmann aufgeschrieben wurde.

»Die Wohnung?«

»Frühlingsstraße.«

»Jetzt rate ich dir, heim zu gehen, wenn du nicht lieber gleich mit mir auf die Polizei willst.« Er ließ sich's nicht zweimal sagen. Ein »Wilhelm« war er allerdings auch, aber kein Pfäffling. Baumann war sein Name.

»Das hast du klug gemacht,« sagte er bei sich selbst. »Dem Pfäffling schadet das nichts, der ist überall gut angeschrieben, aber bei mir ist das anders, wenn ich noch eine Rektoratsstrafe bekomme, dann heißt's: fort mit dir. Ich sehe auch gar nicht ein, warum gerade ich aufgeschrieben werden sollte, der Pfäffling hat ebenso gut geworfen wie ich.«

Ahnungslos und mit dem besten Gewissen saß am nächsten Abend unser Wilhelm an seiner lateinischen Aufgabe. Vielleicht war er ein wenig zerstreuter als sonst, denn er hatte sich heute bemüht, seinen Frieder, mit der Harmonika in der Hand, abzuzeichnen, und da war Frieders Gesicht so ausgefallen, dass allen davor graute. Nun musste er unwillkürlich auf seinem Fließblatt Studien machen über des kleinen Bruders gutmütiges Gesichtchen, das sich über die biblische Geschichte beugte, die vor ihm lag. Dazu kam, dass die Mutter und Elschen nicht am Stricken und Flicken saßen, wie sonst, sondern Zwetschgen und Birnenschnitze zurichteten zu dem Schnitzbrot, das alle Jahre vor Weihnachten gebacken wurde. So waren Wilhelms Gedanken heute zwischen Weihnachten und Latein geteilt; er achtete gar nicht darauf, dass Herr Pfäffling eintrat und gerade hinter seinen Stuhl kam.

»Du, Wilhelm, sieh mich einmal an!« sagte er. Der wandte sich, sah überrascht auf und begegnete einem scharfen, durchdringenden Blick. »Was ist's, Vater?« fragte er.

»Das frage ich dich,« sagte Herr Pfäffling, »ein Polizeidiener war da und hat dich vorgeladen, für morgen, auf die Polizei. Was hast du angestellt?«

»Gar nichts,« rief Wilhelm und dann, nach einem Augenblick: »es kann doch nicht sein, weil wir gestern beim Schneeballen einen Herrn getroffen haben, der gerade so ungeschickt daher gekommen ist?«

»Der Herr wird wohl nicht ungeschickt gekommen sein, sondern ihr werdet ungeschickt geworfen haben. Könnt ihr nicht aufpassen?« rief Herr Pfäffling, und bei dieser Frage kam Wilhelms Kopf auch so ungeschickt an des Vaters Hand, dass es klatschte.

»Aber, Wilhelm,« rief die Mutter und schob ihr Weihnachtsgeschäft beiseite, »warum hast du dich denn wieder nicht entschuldigt?« Aber auf diesen Vorwurf versicherte Wilhelm so eifrig, er habe darin sein Möglichstes getan, dass man ihm glauben musste. Die ganze Geschwisterschar fing nun an, aufzubegehren über den unguten Mann, der trotzdem auf der Polizei geklagt habe, bis die Mutter sie zur Ruhe wies; sie wollte noch genau hören, wie die Sache sich zugetragen, und woher man seinen Namen gewusst habe. Das letztere konnte aber Wilhelm nicht erklären. »Muss ich denn wirklich auf die Polizei?« fragte er, »um welche Zeit?«

»Um 11 Uhr.«

»Aber da kann ich doch nicht, da haben wir Griechisch. So muss ich es dem Professor sagen, dann erfährt es der Rektor und schließlich kommt die Sache noch ins Zeugnis!«

»Natürlich erfährt das der Rektor,« sagte Herr Pfäffling, »die anderen sind jedenfalls auch vorgeladen. Warum machst du so dumme Streiche!«

Es war eine Weile still, jedes dachte über den Fall nach. »Könntest du nicht etwa mit ihm auf die Polizei gehen,« sagte Frau Pfäffling zu ihrem Mann, »und ein gutes Wort für ihn einlegen?«

Herr Pfäffling überlegte. »Morgen, Freitag? Da ist Probe in der Musikschule, da kann ich unmöglich fort. Das muss er schon allein ausfechten. Es kann ihm auch nicht viel geschehen, wenn es sich nur um einen Schneeballen an die Schulter handelt; war auch gewiss sonst gar nichts dabei, Wilhelm, ich kann es kaum glauben!«

»Gar nichts, als dass die andern gelacht und ungeniert weitergeworfen haben, dicht um den Herrn herum, das hat ihn am meisten geärgert. Besonders der Baumann war so frech, du kennst ihn ja, Karl.«

»Warum treibst du dich auch mit solchen herum? Da heißt es mitgefangen, mitgehangen.« Elschen drückte sich an die Mutter und sagte kläglich: »Jetzt wird Weihnachten gar nicht schön.« Und es widersprach ihr niemand, für diesen Abend wenigstens war die ganze Weihnachts-Vorfreude aus dem Hause gewichen.

Noch spät abends, im Bett, flüsterten die beiden Schwestern zusammen, berieten, ob Wilhelm bei Wasser und Brot in den Arrest gesperrt würde, und als Anne eben im Einschlafen war, rief Marie sie noch einmal an und sagte: »Das ärgste ist mir erst eingefallen! Wenn Herr Hartwig von der Polizei hört, dann kündigt er uns!«

Da war es denn schon wieder in der Familie Pfäffling, das Schreckgespenst, die Kündigung!

So bangen Herzens, wie am nächsten Morgen, hatte sich Wilhelm noch nie auf den Schulweg gemacht. Zwar hatte der Vater ihm an den Professor ein Briefchen mitgegeben, und die Mutter hatte ihm gesagt: »Habe nur keine Angst, ein Unrecht ist's nicht, was du getan hast,« aber er hatte ihr doch angemerkt, wie unbehaglich es ihr selbst zumute war, und hatte zufällig gehört, wie der Vater zu ihr gesagt hatte: »Eine Mutter von vier Buben muss sich auf allerlei gefasst machen.«

In der Schule war es sein erstes, sich nach den anderen Übeltätern zu erkundigen. »Müsst ihr auch auf die Polizei?« fragte er Baumann und die übrigen Kameraden, die mitgetan hatten. Kein einziger war vorgeladen!

»Du wirst wohl auch noch vorgeladen werden,« sagte ein dritter zu Baumann, »dich hat der Schutzmann aufgeschrieben.«

»Es ist nicht wahr.«

»Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Nähe und habe es deutlich gesehen.«

Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als der Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung seiner Schüler und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn Pfäfflings Brief reichte und er las, um was es sich handelte, erkundigte er sich gleich, ob noch mehrere vorgeladen seien, und als er hörte, dass Pfäffling der einzige sei, sagte er: »Dann möchte ich mir auch ausbitten, dass die anderen sich nicht darum kümmern. Es ist schon störend genug, dass einer vor Schluss der Stunde fort muss, gerade heute, wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird. Wer sich sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken zusammen!«

So wurde äußerlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht zu bemerken, wie dem einen Schüler das Herz klopfte vor innerer Entrüstung, dass er allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen vor Angst darüber, dass sein Betrug an den Tag kommen würde.

Kurz vor elf Uhr verließ Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors das Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten Gängen und auf der breiten Treppe, die nicht für so ein einzelnes Bürschlein berechnet war, sondern für einen Trupp fröhlicher Kameraden. Heute begleitete ihn keiner, den sauern Gang auf die Polizei musste er ganz allein tun. Und nun betrat er das große Gebäude, in dem er ganz fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der Hand und las: Erster Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner kümmerte sich um ihn; vor mancher Zimmertüre standen Männer und Frauen und warteten. Nun war er bei Nr. 10, die übernächste Türe musste die richtige sein, Nr. l2. Vor diesem Zimmer stand ein Mann – und das war Herr Pfäffling.

»Vater!« rief Wilhelm, »o Vater!« und in diesem Ausruf klang die ganze Qual, die Angst und die ganze Wonne der Erlösung. Herr Pfäffling fasste ihn bei Hand. »Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht,« sagte er, »jetzt komm nur schnell herein, dass wir bald fertig werden!«

Im Zimmer Nr. 12 saß ein Polizeiamtmann.

Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache: Wilhelm war angezeigt worden, weil er Herrn Sekretär Floßmann mit Schneeballen getroffen, darnach in frecher Weise gelacht und das Schneeballenwerfen in unmittelbarer Nähe fortgesetzt habe.

»So hat sich's verhalten, nicht wahr?« fragte der Amtmann.

»Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen,« sagte Wilhelm, »aber weiter nichts.« Nun mischte sich Herr Pfäffling ins Gespräch: »Du hast mir erzählt, dass du dich ausdrücklich entschuldigt habest und sofort heimgegangen seiest.« Da lächelte der Amtmann und sagte: »Damit sollte wohl der Vater besänftigt werden, in Wahrheit verhielt sich's aber, nach der Aussage des Herrn Sekretärs und des Schutzmanns ganz anders, und Sie werden begreifen, dass ich diesen mehr Glauben schenke als dem Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des Herrn Sekretär Floßmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen eines Vergehens entschuldigt hat.«

»Ich darf wohl behaupten,« sagte Herr Pfäffling, »dass sowohl Frechheit als Lüge auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich wäre sonst nicht mit ihm gekommen, sondern hätte mich seiner geschämt. Wäre es nicht möglich, den Herrn Sekretär oder den Schutzmann zu sprechen?«

»Gewiss,« sagte der Amtmann, »Herr Sekretär hat seine Kanzlei oben und der Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir.« Er rief einen Polizeidiener. »Bitten Sie Herrn Sekretär Floßmann, einen Augenblick zu kommen und rufen Sie den Schutzmann Schmidt herein.«

»Wir machen zwar gewöhnlich nicht so viel Umstände, wenn es sich um solch eine Bubengeschichte handelt,« sagte der Amtmann, »aber wenn Sie es wünschen, können Sie von den beiden selbst hören, wie der Verlauf der Sache war.«

Ein paar Minuten später trat der Sekretär Floßmann und gleich darnach der Schutzmann ein. »Da ist der Junge,« sagte der Amtmann, »der wegen der Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde,« aber ehe der Beamte noch weiter sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretär Floßmann ins Wort, indem er sich an den Schutzmann wandte: »Aber warum haben Sie denn gerade diesen Jungen aufgeschrieben, den einzigen, der sofort aufgehört hat zu werfen, und der sich in aller Form entschuldigt hat, der mir selbst noch den Schnee abgeschüttelt hat?« und indem er auf Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: »Wir zwei sind in aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte ich nicht anzeigen.« Da wandte sich der Amtmann ärgerlich an den Schutzmann: »Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie möglich gemacht?« Der rechtfertigte sich: »Das ist nicht der Wilhelm Pfäffling, den ich aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein rotes Gesicht. Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?«

»Nein, aber es heißt keiner Wilhelm Pfäffling außer mir.«

»Oh,« sagte der Amtmann, »da kommt es auf eine falsche Namensangabe hinaus, das muss ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir den Streich gespielt hat?« fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht lange. »Jawohl,« sagte er, »es ist nur ein solcher Gauner in unserer Klasse.«

»Wie heißt er?« Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zögernd: »Ich kann ihn doch nicht angeben?«

»Nein,« sagte Herr Pfäffling, »du weißt es ja doch nicht gewiss, und deine Menschenkenntnis ist nicht groß.«

»Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder,« sagte der Schutzmann, »ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus ist.«

Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfäffling: »Ich bedaure das Versehen,« sagte er, und Wilhelm entließ er mit den Worten: »Du kannst nun gehen, aber halte dich an bessere Kameraden und pass auf mit dem Schneeballenwerfen, in den Straßen ist das verboten, dazu habt ihr euren Schulhof!«

Vater und Sohn verließen miteinander das Polizeigebäude. »O Vater,« rief Wilhelm, sobald sie allein waren, »wie bin ich so froh, dass du gekommen bist! Mir allein hätte der Polizeiamtmann nicht geglaubt.«

»Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal erzählt, wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel besser vorgebracht.«

»Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spüre, dass man mir doch nicht glauben wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft möchte ich etwas erzählen oder erklären, wie es gemeint war, dann denke ich: ihr haltet das doch nur für Schwindel und Ausreden, und dann schweige ich lieber.«

»Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen genau mit der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine strenge Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschüchtern lassen. Wer recht wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafür fordern. Halte du es so, und wird dir etwas angezweifelt, so sage du ruhig zu demjenigen: ›Habe ich dich schon einmal angelogen?‹ Aber freilich musst du sicher sein, dass er darauf ›nein‹ sagt.«

Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege auseinandergingen.

»War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?« fragte Wilhelm. »Höllisch ungeschickt!« sagte Herr Pfäffling, »ich mochte den Grund nicht angeben, ich sagte nur schnell den Nächstsitzenden etwas von Familienverhältnissen und lief davon; wer weiß, was sie sich gedacht haben. Der junge Lehrer wird mich inzwischen vertreten haben, so gut er es eben versteht.«

»Ich danke dir, Vater,« sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz gegen die Gewohnheit der Familie Pfäffling griff er rasch nach des Vaters Hand, küsste sie und lief davon.

Als Herr Pfäffling zu der musikalischen Jugend zurückkam, sah er viele freundlich lächelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon erfahren, dass du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt nichts verborgen. »Darf man gratulieren?« fragte ihn leise eine Bekannte, als er nahe an ihr vorbeiging. »Jawohl,« sagte er, »es ist gut vorübergegangen.« Nach ein paar Minuten war er mit vollem Eifer bei der Musik, und Wilhelm in gehobener Stimmung bei seinem griechischen Schriftsteller.

»Dir ist es offenbar gnädig gegangen auf der Polizei,« sagte der Professor nach der Stunde zu Wilhelm.

»Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht aufgeschrieben worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem angegeben.«

»Wer? Einer aus meiner Klasse?«

»Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen,« antwortete Wilhelm.

Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden sich um Wilhelm drängten und näheres erfahren wollten, auch Baumann war unter ihnen. Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, dass Baumann aufgeschrieben worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: »Du hast den falschen Namen angegeben.« Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern fing an, sich zu entschuldigen: »Dem Pfäffling hat das doch nichts geschadet, für mich wäre es viel schlimmer gewesen. Du musst mir's nicht übel nehmen, Pfäffling, ich habe ja vorher gewusst, dass dir das nichts macht.«

»So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?« rief Wilhelm, »du bist ein Tropf, ein Lügner, das sage ich dir; aber dem Polizeiamtmann habe ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann nicht wieder erkennt, dann kann es ja wohl sein, dass du dich durchgeschwindelt hast.« Nun sprang einer der Kameraden die Treppe hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe. Richtig war es so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige Größere um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und bis um die nächste Straßenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten Klassen des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand lauernd am Tor. Da, plötzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und schoß an ihm vorbei, in solcher Geschwindigkeit, dass er auch nicht ein Gesicht erkannt hatte. Ärgerlich ging er seiner Wege, aber hatte er den Übeltäter auch noch nicht fassen können, das war ihm jetzt sicher, dass er zu dieser Klasse gehörte, und er sollte ihm nicht entgehen.

Wie war für Frau Pfäffling dieser Vormittag daheim so lang und so peinlich! Immer musste sie an Wilhelm denken. ›Er hat gewiss nichts getan, was strafwürdig ist,‹ sagte sie sich und dann fragte sie sich wieder: ›warum ist er dann vorgeladen?‹ Gestern hatte sie in fröhlicher Stimmung alles vorbereitet für das Weihnachtsgebäck, heute hätte sie es am liebsten ganz beiseite gestellt, alle Lust dazu war weg. Sie mühte sich sonst so gern den ganzen Vormittag im Haushalt und dachte dabei: ›Wenn Mann und Kinder heimkommen von fleißiger Arbeit, sollen sie es zu Hause gemütlich finden.‹ Aber wenn die Kinder nicht ihre Schuldigkeit taten, wenn sie draußen Unfug trieben, sollte man dann daheim Zeit und Geld für sie verwenden?

In dieser Stimmung sah Frau Pfäffling diesen Morgen manches, was ihr nicht gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter das Bett geschleudert; hässlich niedergetreten waren sie auch, wie oft hatte sie das schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den hätten die Kinder mit zum Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn sehen müssen, alle sechs hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die doch als Mädchen allmählich ein wenig selbst daran denken sollten, ob nichts zu besorgen wäre! Das waren lauter Pflichtversäumnisse, und wer daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte leicht auch draußen gegen die Ordnung verstoßen. Aber freilich müsste die Mutter ihre Kinder fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst war schuld.

Elschen, die nicht wusste oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute bedrückte, kam in der fröhlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen. Walburg hatte ihr die Teigschüssel ausscharren lassen. »Mutter,« rief die Kleine, »die Backröhre ist schon geheizt!« Aber die Mutter hatte heute einen unglückseligen Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah sie nichts als drei Streifen, Spuren von Teig an der Schürze.

»Else, dahin hast du deine Finger gewischt,« sagte sie mit ungewohnter Strenge, »gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Hände waschen, und nicht an die Schürze wischen,« und sie patschte fest auf die kleinen Hände. Das Kind zog leise weinend ab, und die Mutter sagte sich vorwurfsvoll: ›Deine Kinder sind alle unfolgsam!‹ Darnach ging sie aber doch zum Backen in die Küche, das angefangene musste trotz allem vollendet werden. Sie wollte den Schlüssel zum Küchenschrank mit hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekümmert: ›Wo die Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhält, muss freilich die ganze Wirtschaft herunterkommen!‹ In dieser schwarzsichtigen Stimmung vergingen ihr langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in ängstlicher Spannung nach den Kindern aus. Diese hatten sich alle auf dem Heimweg zusammengefunden und in der Frühlingsstraße holte auch Herr Pfäffling sie ein. Die Losung war nun: »Nur schnell heim zur Mutter, sie allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie gut sich alles gelöst hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich freuen!«

Aber nicht nur Frau Pfäffling passte auf die eilig Heimkehrenden, auch Frau Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz andern Grund. Sie hatte diesen Morgen an die Haustüre einen großen Bogen Papier genagelt, auf dem mit handgroßen roten Buchstaben geschrieben stand:

Man bittet die Türe zu schließen!

Darüber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es würde gar nichts helfen, die Pfäfflinge würden die Türe offen stehen lassen.

Die Hausfrau nahm ihre Mietleute in Schutz. »Sie sind viel ordentlicher, als du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig flüchtig, aber Karl ist immer aufmerksam und auch die Mädchen sind manierlich; der kleine Frieder sogar wird zumachen, wenn er hört, dass es mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustüre wird geschlossen.«

Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die Familie Pfäffling sieben Mann hoch heim kam – eifriger sprechend als sonst, hörte sie die Treppe hinauf gehen – noch flinker als gewöhnlich, ging dann hinaus, um nachzusehen und fand die Haustüre offen stehend, so weit sie nur aufging.

Kopfschüttelnd schloss sie selbst die Türe. Aber sie verlor nicht den guten Glauben an ihre Mietleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt, dass heute etwas besonderes los war.

Im Zimmer fragte Herr Hartwig: »Nun, wer hat denn zugemacht?« Etwas kleinlaut erwiderte sie: »Zugemacht habe ich.«

Droben herrschte nach überstandener Angst große Freude; auch Frau Pfäffling war es wieder leicht ums Herz, glücklich und dankbar saß die ganze Familie am Essen. Aber doch – zwischen Suppe und Fleisch – sagte die Mutter: »Marianne, warum habt ihr den Brief nicht in den Schalter geworfen?«

»Vergessen!«

»So geht jetzt und besorgt ihn.«

»Aber doch nach dem Essen?« fragte fast einstimmig der Kinderchor.

»Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch nicht helfen, ich hätte gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht verlangte.« Da widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich nicht mit schlechtem Gewissen vorstellen. Die Mädchen gingen mit dem Brief, Herr Pfäffling sah seine Frau verwundert an.

Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie schwer es ihr den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr fast jetzt noch die Tränen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte Herr Pfäffling in das Wohnzimmer zurück, wo die Großen noch beisammen waren.

»Hört, ich möchte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, dass vor Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiß, wie die Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders für die Mutter. Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn Sekretär Floßmann entschuldigen, sonst werde es schlimm für ihn ausgehen. Drittens: Walburg soll eine Tasse Kaffee für die Mutter machen, es wird ihr gut tun, oder zwei Tassen.«

Einer von Herrn Pfäfflings guten Ratschlägen konnte nicht ausgeführt werden, denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der Schule weg und auf die Polizei geholt und war von da an aus dem Gymnasium ausgewiesen.

Am Abend überbrachte ein Dienstmädchen einen schönen Blumenstock – eine Musikschülerin ließ Frau Pfäffling gratulieren.

»Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken,« ließ Herr Pfäffling sagen.

Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum nicht auch, wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder war etwas anderes gemeint?

Die Familiensaga der Pfäfflings

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