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9. Kapitel Bei grimmiger Kälte.

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Das Neujahrsfest brachte grimmige Kälte, brachte Eis, mehr als zum Schlittschuhlaufen nötig gewesen wäre. Schon beim Erwachen empfand man die menschenfeindliche Luftströmung und es gehörte Heldenmut dazu, aus den warmen Betten zu schlüpfen. In Pfäfflings kalten Schlafzimmern war das Waschwasser eingefroren, und man musste erst die Eisdecke einschlagen, ehe man es benützen konnte.

Als die Familie sich mit Neujahrswünschen am Frühstückstisch zusammenfand, galt Herrn Pfäfflings erster Blick dem Thermometer vor dem Fenster, und er musste das Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen. »Zwanzig Grad Kälte,« verkündete er, »Kinder, das habt ihr noch nie erlebt; und Walburgs Neujahrsgruß lautete: ›Die Wasserleitung ist über Nacht eingefroren.‹«

Die Straßen waren ungewöhnlich still, wer nicht hinaus musste, blieb daheim am warmen Ofen und wer, wie die Briefträger, am Neujahrstag ganz besonders viel durch die kalten Straßen laufen und vor den Häusern stehend warten musste, bis die Türen geöffnet wurden, der hörte manches teilnehmende Wort. Frau Hartwig brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse warmen Kaffees entgegen. Auch die Familie Pfäffling hatte ihr Päckchen Glückwunschkarten und -briefe erhalten und unter diesen Briefen war einer, der noch mehr als Glückwünsche enthielt. Es war die Antwort auf Frau Pfäfflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme, dringende Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der im Februar gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen Jahren der Trennung auch einmal wieder die drei Geschwister mit der Mutter in der alten Heimat vereinigt wären. So viel Liebe und Anhänglichkeit sprach sich aus in den Briefen von Frau Pfäfflings Bruder und Schwester, denen ein eigenhändiger, mit zitternder Hand geschriebener Gruß der alten Mutter beigesetzt war, dass Frau Pfäffling tief bewegt war und zu ihrem Mann wehmütig sagte: »Ach, wenn es nur möglich wäre, aber es ist ja gar nicht daran zu denken! So weit fort und auf ein paar Wochen, denn für einige Tage würde sich die große Reise gar nicht lohnen.«

Es kam ganz selten vor, dass Frau Pfäffling für sich einen Wunsch äußerte, und so war es nur natürlich, dass es der ganzen Familie Eindruck machte, wenn es doch einmal geschah.

»Geht es denn wirklich nicht, Vater?« fragte Karl.

»So ganz unmöglich kommt mir die Sache nicht vor,« antwortete Herr Pfäffling, indem er sich an seine Frau wandte, »jetzt, wo die Kinder groß sind und Walburg so zuverlässig ist.«

Frau Pfäffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor stimmte dem Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und versicherte, es sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich zugehen, wie wenn sie da wäre. Aber sie schüttelte dazu ungläubig den Kopf und brach die Beratung ab, indem sie sagte: »Bei solch einer Kälte mag man gar nicht an eine Reise denken, wir wollen sehen, was der Januar bringt!«

Zunächst brachte er den Abschluss der Ferienzeit, die Schulen begannen wieder. So warm wie möglich eingepackt machten sich die Kinder auf den Weg. Freilich, die drei großen Brüder besaßen zusammen nur zwei Wintermäntel, bisher waren sie auch immer gut damit ausgekommen, heute hätte jeder gerne einen gehabt. Otto hatte sich einen gesichert, indem er ihn schon vor dem Frühstück angezogen hatte. Nun standen Karl und Wilhelm vor dem einen, der noch übrig war. »Dich wird's nicht so arg frieren wie mich,« sagte Wilhelm zum größeren Bruder und Karl, obwohl er nicht recht wusste, warum es ihn nicht so frieren sollte, war schon im Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte: »Lass doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen, es sieht so dumm aus, wenn er allein keinen hat!«

»Dumm?« sagte Herr Pfäffling, »es sieht eben aus, als seien keine großen Kapitalien da, mit denen man ungezählte Mäntel beschaffen könnte. So ist's und deshalb darf es auch so aussehen. Übrigens, länger als fünfzehn Minuten braucht ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der Rede wert, wenn man eine Viertelstunde frieren muss? Seid ihr so zimperlich?«

»Ich nicht,« rief Wilhelm, »ich brauche auch nur zwölf Minuten,« er ließ den Mantel fahren und rannte davon.

Elschen war diesmal nicht so unglücklich wie früher über den Schulanfang, sie nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten bekommen hatte, packte die Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von Buchstaben kannte, und tröstete sich mit der Aussicht, dass nach den Osterferien auch sie mit den Großen den Schulweg einschlagen würde.

So wohl es Frau Pfäffling tat, wenn ihre Kinder nach solcher Ferienzeit wieder zum ersten Male in die Schule gingen, so freute sie sich doch auf das erste Heimkommen, denn sie wusste aus Erfahrung, dass Mann und Kinder angeregt und von irgend welchen neuen Mitteilungen erfüllt, zurückkommen würden. Um so mehr war sie überrascht, dass Marianne diesmal weinend nach Hause kam. Die beiden Mädchen, obgleich sie gut mit Wintermänteln versehen waren, weinten vor Kälte und die Fingerspitzen wurden in der Wärme nur noch schmerzhafter, so dass sie noch klagend im Zimmer herumtrippelten, als die Familie sich zu Tisch setzen wollte. »Habt ihr denn eure Winterhandschuhe nicht angehabt?« fragte Frau Pfäffling. Da kam ein kleinlautes »Nein« heraus und das Geständnis, dass man sich den Mitschülerinnen mit den neuen, knapp anschließenden Glacéhandschuhen habe zeigen wollen, die Fräulein Vernagelding zu Weihnachten geschenkt hatte. Nun wurden die armen Frierenden noch von den Brüdern ausgelacht.

»So, du lachst auch mit, Otto,« sagte Frau Pfäffling. »Wenn du keine Glacéhandschuhe trägst, so kommt es gewiss nur daher, dass du keine hast. Aber Kinder, wer von euch eitel ist, der hat nichts vom Vater und ist gar kein rechter Pfäffling, und das wollt ihr doch alle sein? Nun kommt, ihr Erfrorenen, jetzt gibt es warme Suppe. Elschen und ich, wir haben uns so gefreut, bis ihr alle heimkommt und von der Schule erzählt. Kommt, wir wollen beten:

»Herr wie schon vor tausend Jahren

Unsre Väter eifrig waren,

Dich als Gast zu Tisch zu bitten,

So verlangt uns noch heute,

Dass Du teilest unsre Freude.

Komm, o Herr in unsre Mitte!«

Bei Tisch kamen nun, wie Frau Pfäffling erwartet hatte, allerlei Mitteilungen. Über Weihnachten hatte man sich ganz in die Familie vergraben, jetzt, durch die Berührung mit der Außenwelt, erfuhr man wieder, was vor sich ging. Herr Pfäffling hatte vom Direktor der Musikschule etwas gehört, was ihn ganz erfüllte: Ein Künstlerkonzert ersten Ranges sollte in diesem Monat stattfinden. Ein Künstlerpaar, das vor Jahren schon die Stadt besucht und alle Musikfreunde hingerissen hatte, die Frau durch ihren herrlichen Gesang, der Mann durch meisterhaftes Klavierspiel, wollte auf einer Reise durch die großen Städte Europas sich hören lassen, und zwar nahm an dieser Konzertreise zum ersten Mal auch der kleine Sohn des Künstlerpaares als Violinspieler Anteil, und die Zeitungen waren voll von überschwänglichen Schilderungen des rührenden Eindrucks, den das geniale Violinspiel des wunderbar begabten Knaben mache.

Freilich waren die Preise für diesen Kunstgenuss so hoch gestellt, dass unser Musiklehrer nicht daran gedacht hätte, sich ein solch kostbares Vergnügen zu gönnen, aber das Konzert sollte im Saal der Musikschule gegeben werden, und in solchem Fall war es üblich, dass die Hauptlehrer der Anstalt Freikarten erhielten. So gab er sich jetzt schon der Freude auf diesen großen Kunstgenuss hin, umkreiste vergnügt den Tisch, blieb dann hinter seiner Frau Stuhl stehen und sagte: »Ich bekomme eine Freikarte zum Konzert, du bekommst von deinem Bruder eine Freikarte zum 80. Geburtstag der Mutter. Nicht wahr, Kinder, die Mutter muss sich zur Reise richten?« Sie stimmten alle ein, und es schien der Mutter mit dem Widerspruch nicht mehr bitterer Ernst zu sein.

Nun berichteten die Kinder von mancherlei Schulereignissen, ein Lehrer war krank, eine Lehrerin gesund geworden, ein Schüler war neu eingetreten, ein anderer ausgetreten. Herr Pfäffling hatte nur mit halber Aufmerksamkeit zugehört, jetzt aber traf ein Name an sein Ohr, der ihn aus seinen Gedanken weckte: »Was hast du eben von Rudolf Meier erzählt?« fragte er Otto.

»Er ist aus dem Gymnasium ausgetreten.«

»Hast du nichts näheres darüber gehört?«

»Sie sagen, er sei fortgekommen von hier, ich glaube zu Verwandten, ich weiß nicht mehr.«

Herr und Frau Pfäffling wechselten Blicke, die nur Karl verstand. Gesprochen wurde nichts darüber, Herr Pfäffling sollte aber bald näheres erfahren.

Er machte sich an diesem Nachmittag auf den Weg nach dem Zentralhotel, im neuen Jahr die erste Musikstunde dort zu geben. Es war bitter kalt, und selbst die russische Familie klagte über den kalten deutschen Winter.

»Sie müssen von Russland doch noch an ganz andere Kälte gewöhnt sein?« meinte Herr Pfäffling.

»Ja, aber dort friert man nicht so, da weiß man sich besser zu schützen. Alle Fahrgelegenheiten sind heizbar, alles ist mit Pelzen belegt und Sie sehen auch jedermann in Pelze gehüllt auf der Straße. Warum tragen Sie keinen Pelz bei solcher Kälte?« fragte die Generalin, indem sie einen Blick auf Herrn Pfäfflings Kleidung warf. Ihm war der Gedanke an einen Pelzrock noch nie gekommen. »Da gibt es noch vieles, vieles Nötigere anzuschaffen, ehe ein Pelzrock für mich an die Reihe käme,« sagte er, »ich kann übrigens sehr rasch gehen und werde warm vom Lauf, meine Hände sind nicht steif, wir können gleich spielen.«

Am Schluss der Stunde erzählten die jungen Herren von dem Ball im Hotel. »Es war sehr hübsch,« sagten sie, »wir durften auch tanzen, der Sohn des Besitzers, der viel jünger ist als wir, hat auch getanzt. Er ist übrigens jetzt nicht mehr hier.«

»Ja,« sagte der General, »der Hotelier ist einsichtsvoller, als ich gedacht hätte. Er sagte zu mir: ›Hier in diesem Hotelleben arbeitet der Junge nicht, er kommandiert nur. Er soll fort von hier, in ein richtiges Familienleben hinein.‹«

Herr Pfäffling erkannte diese Worte als seine eigenen. »Der Mann hat recht,« fuhr der General fort, »wenn die Verhältnisse im Haus ungünstig sind, ist es besser, ein Kind wegzugeben, und wenn sie im ganzen Land ungünstig sind, so wie bei uns in Russland, so ist es wohl auch besser, die Kinder in einem andern Land aufwachsen zu lassen. In Russland haben wir ganz traurige Zustände, die jungen Leute, die dort aufwachsen, sehen nichts als Verderbnis überall, Unredlichkeit und Bestechung sogar schon in den Schulen. Unsere eigenen Söhne haben von dieser verdorbenen Luft schon mehr eingeatmet, als ihnen gut war. Meine Frau und ich haben uns entschlossen, sie in einer deutschen Erziehungsanstalt zurückzulassen, wenn wir nach Russland zurückkehren, was wohl in der nächsten Zeit sein muss. Wir stehen gegenwärtig über diese Angelegenheit in Briefwechsel mit einer Berliner Anstalt.«

Noch nie hatte der General so eingehend und offen mit dem Musiklehrer gesprochen. Die Generalin sah ernst und sorgenvoll aus, die Söhne standen beiseite mit niedergeschlagenen Augen. Herr Pfäffling fühlte, dass diese reichen, hochgebildeten und begabten Leute auch ihren schweren, heimlichen Kummer zu tragen hatten, und er sagte mit warmer Teilnahme: »Jeder einzelne leidet mit, wenn sein Vaterland so schlimme Zeiten durchmacht, wie das Ihrige. Möchte das neue Jahr für Russland bessere Zustände bringen!«

Als Herr Pfäffling kurz darauf die Treppe herunter ging, traf er unvermutet mit Herrn Rudolf Meier sen. zusammen, der heraufkam. Einen Augenblick zögerten beide. Sie hatten ein gemeinsames Interesse, über das zu sprechen ihnen nahelag. Aber an Herrn Meier wäre es gewesen, die Sprache darauf zu bringen, wenn er nicht mehr zürnte. Er tat es nicht. Mit dem höflichen aber kühlen Gruß des Gastwirts ging er vorüber, gewohnheitsmäßig die Worte sprechend: »Sehr kalt heute!«

»Ja, 20 Grad,« entgegnete Herr Pfäffling, und dann gingen sie auseinander.

Daheim angekommen, hörte Herr Pfäffling Frieders Violine. Wie der kleine Kerl sie schon zu streichen verstand! Ob er wohl einmal ein Künstler, ein echter, wahrer, gottbegnadeter Künstler würde? Aber wie war denn das? Hatte Frieder nicht schon gespielt, lange, ehe sein Vater sich auf den Weg zum Zentralhotel gemacht hatte? Spielte er wohl seitdem ununterbrochen? Er ging dem Geigenspiel nach. Aus der Küche erklang es. Neben Walburg, die da bügelte, stand der eifrige, kleine Musiker, ein herzgewinnender Anblick. Aber Herr Pfäffling ließ sich dadurch nicht bestechen. »Frieder, wie lange hast du schon gespielt?« fragte er.

»Nicht lange, Vater.«

»Nicht immerfort, seitdem du aus meinem Zimmer die Geige geholt hast? Sage mir das genau?«

»Immerfort seitdem,« antwortete Frieder und fügte etwas unsicher hinzu: »Aber das ist doch noch nicht lang her?«

»Das ist über zwei Stunden her, Frieder, und hast du nicht auch schon heute nach Tisch gespielt? Und sind deine Schulaufgaben gemacht? Ei, Frieder, da stehst du und kannst nicht antworten! Nimm dich in acht, sonst kommst du noch ganz um die Geige! Gib sie her, in der Woche bekommst du sie nimmer!« Herr Pfäffling streckte die Hand aus nach der Violine. Der Kleine hielt sie fest. Der Vater sah das mit Erstaunen. Konnte Frieder widerstreben? Hatte je eines der Kinder sich seinem Befehl widersetzt? Aber nein, es war nur ein Augenblick gewesen, dann reichte er schuldbewusst die geliebte Violine dem Vater hin und ergab sich.

Herr Pfäffling ging hinaus mit dem Instrument. Walburg hatte nicht verstanden, was gesprochen worden war, aber gesehen hatte sie und sie sah auch jetzt, wie sich langsam ihres Lieblings Augen mit dicken Tränen füllten. Sie stellte ihr Bügeleisen ab, zog den Kleinen an sich und fragte: »Darfst du denn nicht spielen?«

»Nicht länger als zwei Stunden im Tag,« rief Frieder in kläglichem Ton.

»Sei nur zufrieden,« tröstete sie ihn, »ich sehe dir jetzt immer auf die Uhr.« Frieder zog traurig ab; jede Stunde sehnte er sich nach seiner Violine, und nun war sie ihm für eine ganze Woche genommen!

Aber auch Herr Pfäffling war nicht in seiner gewohnten fröhlichen Stimmung. Ihm war es leid, dass der Unterricht in der russischen Familie zu Ende gehen sollte, eine große Freude und eine bedeutende Einnahme fiel damit für ihn weg, und dazu kam nun, dass er auf dem Tisch im Musikzimmer eine Neujahrsrechnung vorfand, die, nachdem er sie geöffnet und einen Blick auf die Summe geworfen hatte, ihn hinübertrieb in das Familienzimmer zu seiner Frau.

»Cäcilie,« rief er schon unter der Türe, und als er die Kinder allein fand, fragte er ungeduldig:

»Wo ist denn die Mutter schon wieder?«

»Sie ist draußen und bügelt.«

»So ruft sie herein, schnell, Marianne!«

Die Mädchen gingen eiligst hinaus: »Mutter, der Vater fragt nach dir.« Frau Pfäffling bügelte eben einen Kragen. »Sagt nur dem Vater, ich komme gleich; ich muss nur den Kragen erst steif haben.«

»Wir wollen lieber erst mit dir hineingehen,« sagten die Schwestern und in diesem Augenblick ertönte ein lautes »Cäcilie«.

Daraufhin wurde der halb gebügelte Kragen im Stich gelassen. Frau Pfäffling kam in das Zimmer und sah ihren Mann mit einer Rechnung in der Hand. »Ist denn das nicht eine ganz unnötige Komödie mit der ewigen Bügellei,« fragte Herr Pfäffling, »die Kinder wären doch ebenso glücklich in ungebügelte Hemden!« Auf diese gereizte Frage antwortete Frau Pfäffling bloß wieder mit einer Frage: »Ist das die Doktorrechnung? Sie kann doch nicht sehr hoch sein?«

»Sechzig Mark! Hättest du das für möglich gehalten?«

»Unmöglich! Sechzig Mark? Zeige doch nur! Die kleine Ohrenoperation von Anne im vorigen Sommer fünfzig Mark?!« Bei diesem Ausruf sahen alle Geschwister auf Anne, und diese fing bitterlich an zu weinen. Die Tränen besänftigten aber den Vater. Er ging zu der Schluchzenden. »Sei still, du armer Wurm,« sagte er, »du kannst nichts dafür. Hast so viel Schmerzen aushalten müssen, und das soll noch so viel Geld kosten! Aber sei nur getrost, geholfen hat dir der Arzt doch, und wir wollen froh sein, dass du nicht so taub geworden bist wie Walburg. Hörst du jetzt wieder ganz gut, auch in der Schule?«

»Ja,« schluchzte das Kind.

»Nun also, sei nur zufrieden, das Geld bringt man schon auf, man hat ja noch das Honorar zu erwarten für die Russenstunden und andere Rechnungen, als die vom Arzt, stehen nicht aus; nicht wahr, Cäcilie, es ist doch immer alles gleich bezahlt worden?«

»Freilich,« entgegnete sie, »aber ich kann es gar nicht fassen, dass diese Ohrenbehandlung förmlich als Operation aufgeführt und angerechnet wird. Ich war damals nicht dabei, Marianne ist immer ohne mich beim Arzt gewesen und so schlimm haben sie es nie geschildert.« Da sahen sich die Schwestern ernsthaft an und sagten: »Ja, einmal war's schlimm!«

Als Frau Pfäffling nach einer Weile wieder beim Bügeln stand, war ihr der Kummer über die sechzig Mark noch anzusehen, während Herr Pfäffling schon wieder guten Muts in sein Musikzimmer zurückkehrte und sich sagte: »Es ist doch viel, wenn man es dahin bringt, dass die Doktorrechnung die einzige an Neujahr ist.«

Sie war aber doch nicht die einzige. Keine halbe Stunde war vergangen, als wieder so ein Stadtbrief an des Vaters Adresse abgegeben wurde, und die Kinder, die denselben in Empfang genommen hatten, flüsterten bedenklich untereinander: »Es wird doch nicht wieder eine Rechnung sein?« Sie riefen Elschen herbei: »Trage du dem Vater den Brief hinüber.« Das Kind übernahm arglos den Auftrag und blieb, an den Vater geschmiegt, zutraulich plaudernd bei ihm stehen. Er riss hastig den Umschlag auf, eine Rechnung fiel ihm entgegen. Vom Buchhändler war sie und lautete nur auf vier Mark, für eine Grammatik, aber sie empörte Herrn Pfäffling fast mehr als die große Rechnung. »Wenn die Buben das anfangen, dass sie auf Rechnung etwas holen, dann hört ja jegliche Ordnung und Sicherheit auf,« sagte er, indem er das Blatt auf den Tisch warf und in der Stube hin und her lief: »Else, hole mir die drei Großen herüber,« sagte er, »aber schnell.« Die Kleine ging mit besorgter Miene, suchte Karl, Wilhelm und Otto auf und kam dann zur Mutter an den Bügeltisch. »Es ist wieder etwas passiert mit einer Rechnung,« sagte sie, »und die Großen müssen alle zum Vater hinein. Sie sind gar nicht gern hinübergegangen,« fügte sie bedenklich hinzu. »Es geschieht ihnen nichts, wenn sie nicht unartig waren,« sagte die Mutter, aber nebenbei wischte sie sich doch den Schweiß von der Stirn, trotz der zwanzig Grad Kälte draußen und sagte zu Walburg: »Wieviel Kragen haben wir denn noch zu bügeln, heute nimmt es ja gar kein Ende!« und Walburg entgegnete: »Es sind immer noch viele da.« Frau Pfäffling bügelte weiter, sah müde aus und sagte sich im stillen: »Eine Wohltat müsste es freilich sein, wenn man einmal ein paar Wochen ausgespannt würde!«

Inzwischen hatte Herr Pfäffling ein Verhör mit seinen Söhnen angestellt, und Otto hatte gestanden, dass er bei Beginn des Schuljahrs die Grammatik geholt hatte. Er suchte sich zu rechtfertigen: »Ich hätte gerne die alte Ausgabe benützt,« sagte er, »aber als sie der Professor nur sah, war er schon ärgerlich und sagte: ›Die kenne ich, die habe ich schon bei deinem ältesten Bruder beanstandet, und er hat sie doch immer wieder gebracht, dann hat mich dein Bruder Wilhelm das ganze Schuljahr hindurch vertröstet, er bekomme bald eine neue Auflage, und es ist doch nie wahr geworden, aber zum dritten Mal lasse ich mich nicht anschwindeln. Die alte Auflage muss wohl noch von deinem Großvater stammen?‹ So hat der Professor zu mir gesprochen, was habe ich da machen können?«

»Mir hättest du das gleich sagen sollen, dann wäre sie bezahlt worden.«

»Du hast damals gar nichts davon hören wollen,« sagte Otto kläglich.

»Dann hättest du es der Mutter sagen sollen.«

»Die Mutter schickt uns immer zu dir.«

»Ach was,« entgegnet Herr Pfäffling ungeduldig, »du bist ein Streiter; wie du es hättest machen sollen, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht so. Denkt nur, wohin das führen würde, wenn ihr alle sieben auf Rechnung nehmen würdet. Wenn man so knapp daran ist wie wir, dann kann man durchaus keine Neujahrsrechnungen brauchen, die Mutter und ich bringen es immer zustande ohne solche, und ihr müsst es auch lernen. Darum zahle du nur selbst die vier Mark. Du hast ja an Weihnachten Geld geschickt bekommen?«

»Ich habe keine drei Mark mehr.«

»Dann helfen die Brüder. Ihr habt es doch wohl gewusst, dass Otto die Grammatik geholt hat? Also, dann könnt ihr auch zahlen helfen. Jeder eine Mark, oder meinetwegen eine halbe, und die vierte Mark will ich darauflegen. Aber springt nur gleich zum Buchhändler, zahlt und bringt mir die Quittung, und am nächsten Neujahr kommt keine Rechnung mehr, Kinder, nicht wahr?« Sie versprachen es, nahmen des Vaters Beitrag dankbar entgegen und waren froh, dass die Sache gnädig abgelaufen war. Das Geld wurde zusammengesucht, Otto wollte es gleich zum Buchhändler tragen. Als er hinunterkam, hielt eben vor der Haustüre eine Droschke, eine kleine Dame stieg aus, hinter Pelzwerk und Schleier hervor sah Fräulein Vernageldings Lockenköpfchen. Sie kam zur Stunde. »Armer Vater, auch das noch!« musste Otto denken. Aber das Fräulein sprach ihn freundlich an: »Es ist zu kalt heute, um zu Fuß zu gehen, wollen Sie nicht auch fahren? Da wäre eben eine Droschke frei!«

»Danke, nein, ich gehe zu Fuß,« entgegnete Otto, lief davon und lachte vor sich hin über den Einfall, dass er zum Buchhändler fahren sollte. Aber das Lachen verging ihm bald, es lacht niemand auf der Straße bei zwanzig Grad Kälte!

Die Familiensaga der Pfäfflings

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