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Implizites Verstehen

Als jemand den Buddha fragte, was das Wichtigste wäre, das er aus seiner Erleuchtung gelernt hätte, antwortete er: „Ein implizites Verstehen.“ Heute wollen wir versuchen zu verstehen, was mit „implizitem Verstehen“ gemeint ist.

Wenn wir uns für innere Entwicklung oder Selbstverwirklichung interessieren, dann sind wir motiviert, an uns zu arbeiten, um Frustration und Leiden in unserem Leben zu beseitigen. Wir beginnen bei einem Zustand, in dem wir leiden, und wir glauben, daß es zu einer Lösung kommt, wenn wir nicht mehr leiden. „Ich komme hierher, um an mir zu arbeiten, weil es mir schlecht geht; wenn ich anfange, glücklich zu sein, dann heißt das offensichtlich, daß meine Probleme gelöst sind. Lehre mich also, wie ich immer glücklich sein kann, weil mich das dann dazu führen wird, daß ich bekomme, was ich will.“

Manche Menschen sind geradeheraus mit dem, was sie wollen, aber die meisten verstecken es. Sie sagen, sie möchten sich selbst besser kennenlernen und Essenz erfahren, damit sie dieses Verstehen benutzen können, um Glück zu finden. Aber was ist diese Entwicklung und dieses Glück, auf das sie aus sind? Was sie wirklich wollen, ist gewöhnlich in irgendeiner Weise besser werden, damit ihre Mutter sie liebt oder ihr Vater sie anerkennt oder jemand sie für toll hält und sich in sie verliebt. Ihr seht, daß die Grundmotivation hier immer noch darin besteht, Leiden loszuwerden, und zwar das Leiden daran, nicht geliebt zu werden, keine Anerkennung zu bekommen oder allein zu sein.

Die wirkliche Ursache des größten Teils eures Leidens und eures Schmerzes und Elends aber ist Unwissenheit. Ihr kennt die Natur der Emotionen und inneren Kräfte nicht und wißt nicht, wie eure Psyche funktioniert; ihr handelt aus einem Mangel an Wissen heraus.

Jetzt sagt ihr: „Gut, gebt mir dieses Wissen und dieses Verstehen!“ Aber ihr seht dieses Wissen als ein Mittel zu einem Zweck und glaubt, der Zweck bestehe darin, daß es einem gutgeht und daß ihr bekommt, was ihr wollt. Diese Haltung, unabhängig davon wieviel ihr von euch versteht, unabhängig davon wie verbindlich ihr an euch selbst arbeitet, wird nur euer Leiden vermehren, weil sie ein Ergebnis von Unwissenheit in bezug auf eure wahre Natur ist.

Es ist wahr, daß implizites Verstehen einen Menschen von Leiden befreit, aber das ist nur eine Nebenwirkung. Es ist nicht das Ziel unserer Erforschung. Solange eure Perspektive darin besteht, danach zu streben, daß es euch gutgeht und nicht schlecht, daß ihr Lust erfahrt und nicht Schmerz, werdet ihr euer Leiden vertiefen.

Jetzt fragen sich alle: „Gut, was machen wir dann?“ Aber diese Frage kommt aus der gleichen Perspektive, daß man eben will, daß es einem gut geht. Wer fragt diese Frage? Der, der leidet und nicht mehr unglücklich sein möchte! Ihr sitzt also in der Falle. Ihr könnt nichts tun, ihr könnt nichts sagen, ihr könnt nichts denken, ohne die grundlegende Perspektive zu verstärken, glücklich sein zu wollen, Lust zu wollen und Schmerz nicht zu wollen. Es ist ein ziemliches Dilemma: Indem ihr Glück begehrt, neigt ihr zugleich dazu, Leiden zu bewirken.

Betrachten wir weiter dieses „implizite Verstehen“. Der Ausweg aus unserem Dilemma liegt im Wort „implizit“. „Implizit“ hat nichts mit „Vordergrund“ zu tun, sondern liegt dem Vordergrund zugrunde. „Implizit“ ist nicht das, worüber ihr nachdenkt oder woraufhin ihr zu handeln versucht, sondern bezieht sich auf etwas in eurem Sein selbst. „Implizit“ bedeutet, daß das Verstehen so sehr ein Teil von euch ist, daß es im Mark eurer Knochen ist; es ist ein Teil eures Soseins, eures Wesens, dessen, wie ihr seid und wie ihr euch fühlt, wie ihr denkt, der Weise, wie ihr mit Menschen umgeht.

Bei der Arbeit hier beginnt ihr damit, daß ihr ein paar Grundlagen versteht – euren emotionalen Charakter, eure Muster und wie sie zusammenhängen. Ihr beginnt damit, daß ihr beobachtet und aufmerksam seid, und ihr findet bestimmte Dinge über euch heraus. Wie ihr wißt, ist das kein mentales Verstehen, sondern ein Verstehen, das auf Erfahrung beruht. Eure emotionale Struktur verstehen bedeutet nicht, eine mentale Beschreibung herzustellen, sondern ein tief gefühltes Verstehen zu erfahren. Ihr erfahrt, was da ist, und zugleich seht ihr die Zusammenhänge zwischen euren Emotionen und euren Einstellungen und euren Handlungen. Zu Beginn ist das notwendig. Aber an sich reicht das nicht. Aus der Perspektive impliziten Verstehens wird das reine Verstehen eurer Emotionen nicht genug sein.

Nehmen wir das Beispiel des Selbstbildes. Ihr entdeckt, daß ihr Schwierigkeiten und Konflikte habt, weil ihr ein bestimmtes inneres Bild oder ein Konzept von euch habt. Ihr seht euch vielleicht als einen schwachen oder einen häßlichen Menschen. Und wenn ihr glaubt, daß ihr ein schwacher Mensch seid, werdet ihr euch wie ein schwacher Mensch verhalten. Ihr werdet Dinge nicht tun, von denen ihr glaubt, daß nur starke Menschen sie tun.

Wenn wir also ein bisher für selbstverständlich gehaltenes Selbstbild erkennen, dann können wir sehen, daß es nur ein Bild ist, daß es nicht wahr ist. Manche Menschen glauben, daß sie in Wirklichkeit Versager sind. Sie glauben das so vollkommen, daß sie nichts tun, was erfolgreiche Menschen tun. In dem Moment, in dem sie einen gewissen Erfolg haben, erschrecken sie. Sie haben das Gefühl, daß das nicht sie sind; jemand anders hat plötzlich die Oberhand.

Wenn ihr das Selbstbild erkennt und es versteht, erlangt ihr eine gewisse Freiheit von ihm. Angenommen euer Selbstbild ist zum Beispiel, daß ihr häßlich seid. Euer Therapeut sagt: „Schau in den Spiegel!“ Ihr schaut in den Spiegel, und ihr seid nicht ganz sicher. „Vielleicht ist es nicht ganz so schlimm, wie ich dachte. Wenn meine Nase vielleicht ein bißchen kürzer wäre, dann wäre ich nicht häßlich.“

Aber auch wenn ihr den Glauben an das Selbstbild sehen könnt, werdet ihr nicht frei von ihm sein, weil ihr auf der emotionalen Ebene wißt, daß das ein Selbstbild ist, weil ihr es mit etwas anderem, einem anderen Selbstbild verglichen habt. Was ist häßlich? Was ist schön? Ihr habt euren Maßstab von Schönheit, und nach diesem Maßstab seid ihr nicht schön. Euer Über-Ich sagt euch, daß eine schöne Frau eine Frau mit einer schmalen Nase ist, und so ist es eben. Wenn viele Menschen euch sagen, daß eure Nase schön ist, werdet ihr euch vielleicht nicht für so häßlich halten. Aber immer wenn es euch schlecht mit euch geht, erinnert ihr euch an diese Nase. Wenn jemand euch ablehnt, seid ihr sicher, daß es an eurer Nase liegt. Das Verständnis, das euch von diesem Selbstbild befreit, kommt von einem Ort, der nicht auf der emotionalen Ebene liegt. Ein gewisses Verständnis ist nötig, um diesen Glauben an ein Selbstbild auszuschalten. Dieses Wissen besteht darin, daß ihr letzlich nicht das Selbstbild, nicht ein Konzept oder Begriff seid; ihr seid etwas anderes. Und eure Nase – kurz oder groß, wie immer sie ist – hat nichts damit zu tun, wer ihr seid.

Das, worüber ich eben gesprochen habe, steht in allen Büchern, in denen es um das Thema „Selbstbild“ geht. Buddha sagt: „Ihr seid nicht euer Selbstbild.“ „Wunderbar“, denkt ihr, „das ist wahr, ich bin nicht mein Selbstbild. Meine große Nase hat also wirklich nicht viel damit tun, wer ich bin. Gut. Von jetzt an denke ich nicht mehr an meine Nase!“ Zwei Stunden lang denkt ihr nicht daran. Wenn euch dann jemand anschaut, ist das einzige, woran ihr denken könnt: „ Mein Gott, er denkt, meine Nase sei zu groß!“ Dieser Mensch ist vielleicht in euch verliebt und hält euch für schön, aber ihr könnt nur an eure Nase denken. Es spielt also keine Rolle, was ihr lest oder was Buddha sagt oder was irgend jemand sagt, wenn ihr nicht das Verständnis habt, daß die Beschäftigung mit eurem Selbstbild aufhebt. Das wirkliche Verstehen ist etwas, das ihr nicht von außen bekommen könnt. Niemand kann es euch geben.

Hier ist Essenz wertvoll; sie gibt euch das Wissen und Verstehen, das euch niemand sonst geben kann. Wenn ihr das Thema „Selbstbild“ gründlich erforscht, gelangt ihr zu dem essentiellen Aspekt, der dem Selbstbild entspricht. Wenn das geschieht, werdet ihr Essenz auf eine Art und Weise erfahren, die kein Selbstbild hat; statt eines Selbstbildes werden Raum, Offenheit und innere Geräumigkeit dasein. Das ist der essentielle Aspekt, der verlorenging, als ihr ein Selbstbild entwickelt habt und anfingt zu glauben, daß das Selbstbild das ist, was ihr wirklich seid. Das Selbstbild hat immer eine Grenze – physisch, emotional oder begrifflich. Wenn ihr Raum erfahrt, erfahrt ihr euch als Sein ohne Grenzen, ohne Definition, einfach als Offenheit.

Dieser essentielle Aspekt ist selbst das Wissen, ist selbst die Einsicht, daß ihr nicht wirklich euer Selbstbild seid. Aber bevor es soweit ist, daß ihr euch ohne Selbstbild erfahren könnt, könnt ihr gar nicht wissen, daß so eine Möglichkeit existiert, und werdet euch selbst weiter so sehen, wie es euer Selbstbild vorgibt.

Wir sehen, daß das Wissen, das letztlich gebraucht wird, um dieses psychologische Problem zu lösen, Essenz ist. Auf der emotionalen Ebene kann es nicht gelöst werden. Auf dieser Ebene fehlt ein Stück des Puzzles, und dieses fehlende Stück ist Essenz. Der essentielle Aspekt ist das, was das für dieses Thema notwendige Wissen bringen wird, und er wird auch seine Lösung sein.

Dies ist für die meisten von euch nicht neu; es ist das, was wir die „Theorie der Löcher“ nennen. Ich erkläre es noch einmal, aus der Perspektive von „Selbstbild“ und „Raum“, damit wir es besser verstehen. Aber dieses Verstehen ist noch nicht implizites Verstehen. Um zu verstehen, was implizites Verstehen ausmacht, müssen wir über ein anderes psychologisches Thema sprechen, daß ihr nämlich Liebe wollt, oder geliebt werden wollt. Wie beim Thema des Selbstbildes beobachtet ihr euch selbst, eure Handlungen, euer Leben, und ihr entdeckt, daß ihr ein Bedürfnis nach Liebe habt. Ihr seht eure Muster, eure Methoden, mit denen ihr versucht, Liebe zu bekommen, die Manipulationen, die eure Persönlichkeit entwikkelt hat, um diese Liebe auf die eine oder andere Weise zu bekommen – dadurch daß ihr eine braves Mädchen, ein starker Junge seid oder was immer. Hinter all dem findet ihr dann, daß ihr Liebe wollt, weil eure Mutter euch nicht geliebt hat. So weit, so gut; es macht die Dinge deutlicher. Ihr habt ein gewisses wahres Verständnis der Situation. Ihr wißt, warum ihr euch ungeliebt fühlt und warum ihr Liebe wollt.

Wenn ihr weiter eure Gefühle um das Thema „Liebe“ herum beobachtet und untersucht, werdet ihr einen bestimmten Mangel entdecken. Ihr werdet finden, daß das Bedürfnis nach Liebe ein Ausdruck eines Teils von euch ist, der sich bedürftig und leer fühlt. Er möchte dauernd von außen gefüllt werden. Wenn ihr bei diesem Bedürfnis bleibt und zulaßt, daß ihr das Begehren nach Liebe tief fühlt, dann werdet ihr den Mangel, das Loch der Liebe fühlen, und ihr werdet das Loch als das Ergebnis des Verlustes eurer eigenen Liebe in eurer Kindheit fühlen. Das wird die Verletzung ans Licht bringen, nicht geliebt zu sein, diese tiefe Wunde. Wenn ihr euch erlaubt, diese Wunde ganz zu erfahren, wird sie wie ein Brunnen sein, ein Brunnen, aus dem Liebe fließt. Ihr werdet den Aspekt von Essenz erfahren, der Liebe ist. Dies war das fehlende Stück, das mit dem Thema „Liebe“ zu tun hatte. Jetzt habt ihr Liebe – nicht von außen, sondern aus eurer eigenen Essenz. Die Erfahrung dieses essentiellen Aspektes der Liebe löscht das Bedürfnis aus, diese Leere von außen zu füllen, genauso wie Raum oder Leere das Thema um das Selbstbild herum gelöst hatte.

Diese Erfahrung reicht jedoch nicht aus, um das Thema ganz zu lösen. Viele von euch sind sich dessen bewußt. Die Sehnsucht nach Liebe und die Manipulationen um sie werden vielleicht subtiler, aber sie verschwinden nicht. Das ist deshalb so, weil ihr das implizite Verstehen nicht habt. Ihr seid an eure Erfahrung von Liebe oder Raum oder irgendeines anderen Aspektes – Willen, Mitgefühl, Lust – nicht aus der Perspektive impliziten Verstehens herangegangen. Ihr erfahrt essentielle Liebe, die süß, intensiv und erfüllend ist, und sagt: „Dieses süße Liebesgefühl ist das Wunderbarste, was ich je gefühlt habe. Wenn es weggeht, habe ich es nicht mehr. Ich will es für immer festhalten.“

Wer redet hier? Was habt ihr gelernt? Ihr habt eine Erfahrung von Liebe gehabt, aber diese Liebe hat euch nicht transformiert. Ihr habt sie genauso behandelt wie irgendein anderes Objekt, das eure Persönlichkeit haben will. „Wenn ich diese ganze wunderbare Liebe habe, dann werden die Menschen sehen, wie strahlend und liebevoll ich bin und sie werden denken, daß ich toll bin, und sie werden sich in mich verlieben, und ich werde dann allezeit glücklich sein.“ Nichts hat sich verändert. Was ihr von außen haben wolltet, wollt ihr jetzt von innen haben, um es von außen bekommen zu können!

Das ist nicht implizites Verstehen. Das ist Materialismus. Früher wolltet ihr Materielles im Außen, jetzt wollt ihr es im Innen. Es ist dasselbe, alles ist materiell. Früher wolltet ihr Geld anhäufen, Kleider, Liebhaber; jetzt wollt ihr essentielle Aspekte sammeln: Liebe, Freude, Willen, Stärke. „Schaut, was ich für wunderbare Dinge habe! Jetzt kann ich losziehen und sie meiner Mama zeigen, und endlich wird sie sehen, wer ich bin, und sie wird mich wirklich lieben müssen, und dann bin ich glücklich.“ Es ist dasselbe. In Wirklichkeit sind wir nicht weitergekommen. Wir sind da, wo wir angefangen haben.

Was ist also das weitere Verstehen, das nötig ist? Wir haben gesehen, daß die Erfahrung von Essenz zu einem Verstehen führt, das auf der emotionalen Ebene nicht erreichbar ist. Wenn die meisten Menschen ihre Essenz erfahren, behandeln sie sie jedoch wie etwas auf der emotionalen Ebene: einen Besitz, ein Ding, etwas Schönes. Das ist die grundlegende Eigenart der Persönlichkeit: Sie hat zu Dingen eine Beziehung, die von Gier geleitet sind. Es ist diese Tendenz der Persönlichkeit, nach Lust zu greifen, auch nach den tiefen Befriedigungen von Essenz, die überhaupt zu den ganzen Verlusten geführt hat. Diese Neigung der Persönlichkeit erzeugt das, was sie gut erzeugen kann – Elend. Bis sich diese Tendenz auflöst, wird eure Haltung der Essenz gegenüber dieselbe sein wie materiellen Gütern gegenüber. Eure Identität beruht immer noch auf der Persönlichkeit, auf Gier, auf Leiden.

Ihr fragt euch, was ihr tun müßt, um dieses Verstehen und die Freiheit von der Persönlichkeit zu erlangen. „Sag mir, sag mir doch, was das ist! Dann kann ich es tun – und glücklich sein!“ Seht ihr, wie diese Neigung am Werk ist? Das Verstehen ist nicht da, ganz zu schweigen von implizitem Verstehen.

Ihr könnt aber eine andere Haltung eurer Erfahrung gegenüber entwickeln. Ihr könnt ihr zuhören und lernen, wie es ist, aus einer anderen Perspektive zu kommen. Ihr könnt zum Beispiel die schmelzende Süße der Liebe erfahren und auch auf das lauschen, was zugleich mit dieser Erfahrung geschieht. „Meine Freundin ist anscheinend wütend auf mich, aber ich habe doch das Gefühl, daß ich sie liebe. Das ist seltsam. Normalerweise kann ich es nicht ausstehen, wenn sie wütend auf mich ist, aber heute ist sie wütend auf mich und ich bin nicht im geringsten ärgerlich. Ich liebe sie sogar noch mehr. Ich kann sehen und verstehen, warum sie wütend ist. Ganz offensichtlich ist sie verletzt.“ Ihr fangt an, über einen Freund nachzudenken, der über euch getratscht hat. Ihr wart wütend auf ihn. Ihr fragt euch, was aus eurem Ärger geworden ist. „Wenn ich an ihn denke, mag ich ihn einfach. Ist das nicht erstaunlich? Komisch, ich sollte ihn hassen, aber ich mag ihn einfach. Aber Moment mal! Es ist nicht nur er, ich mag jeden! Ich fühle diese Liebe allen gegenüber. Normalerweise mag ich jemanden nur, wenn er nett zu mir ist. Aber jetzt scheint es keine Rolle zu spielen, ob Leute nett zu mir sind oder nicht. Es ist alles gleich. Ich habe dasselbe Gefühl allen gegenüber. Das ist ziemlich komisch, oder?“

Euch wird vielleicht klar, daß eure Liebe immer schon von Bedingungen abhängig war. Aber Liebe hängt nicht von Bedingungen ab. Liebe hat mit den Bedingungen eurer Persönlichkeit nichts zu tun. Liebe ist das, was ihr seid. Was spielt es für eine Rolle, ob jemand nett zu euch ist oder nicht? Hört ihr auf zu lieben, nur weil zufällig jemand nicht nett zu euch ist?

Am nächsten Morgen wacht ihr auf, und ihr fühlt die Liebe. Dann erinnert ihr euch an euren Freund, der schlecht über euch geredet hatte: „Dieser Mistkerl! Was zum Teufel denkt er, wer er ist, daß er so ein Zeug über mich erzählt!“ Eure Freundin macht euch Frühstück, und die Eier sind von beiden Seiten gebraten, keine Spiegeleier: „Wieso kannst du nicht daran denken, daß ich lieber Spiegeleier esse? Wie ist es möglich, daß du dir nach all diesen Monaten etwas so Einfaches immer noch nicht merken kannst? Offenbar liebst du mich nicht wirklich, wenn du dich nicht einmal daran erinnern kannst, wie ich meine Eier mag.“ Und ihr knallt die Tür zu.

Es ist in Ordnung, daß so etwas geschieht. Wenn ihr jedoch aus eurer Erfahrung von Essenz am Tag zuvor gelernt hättet, würdet ihr denken: „Moment mal, was ist passiert? Gestern habe ich meiner Freundin gegenüber nichts als Liebe gefühlt, und jetzt möchte ich, daß sie tot umfällt. Das ist interessant. Ich frage mich, was ist eigentlich los?“

Ihr habt eine Alternative: Ihr könnt offen und interessiert an dem sein, was geschieht, und dazu eine Beziehung aus der Perspektive von Essenz haben, oder ihr könnt dazu eine Beziehung aus der Perspektive der Persönlichkeit haben, was bedeutet, daß ihr das Gefühl habt, daß ihr etwas Gutes gehabt habt und es jetzt verloren habt. Ihr werdet wahrscheinlich denken, daß ihr diese Liebe verloren habt, weil die Eier nicht richtig gemacht waren.

Wenn ihr an dieses Ereignis aus der Perspektive von Essenz herangehen würdet, dann würdet ihr schauen, hören und Fragen stellen. Ihr würdet vielleicht verstehen, was euch so fühlen läßt, wie ihr fühlt, was eure Liebe blockiert, warum sie da war, und dann, warum sie nicht da ist. Ihr lernt eure Gefühle dasein zu lassen, ohne ihnen notwendigerweise zu glauben oder aus ihnen heraus zu handeln, weil ihr wißt, daß da einfach nur etwas vor sich geht, was ihr nicht versteht. Ihr seid euch bewußt, daß es da einen Mangel an Wissen gibt, daß da Unwissenheit ist. Sonst würdet ihr nicht so fühlen, wie ihr fühlt.

Mit der Zeit wird diese Haltung von Offenheit und Zulassen ein Teil eures täglichen Lebens. Ihr bekommt ein größeres Verständnis davon, wie Gefühle und Ereignisse miteinander zusammenhängen, wie die Dinge funktionieren, was euch das eine Mal Liebe empfinden läßt und ein andermal nicht. Dieses Verstehen ist nicht nur in eurem Kopf, es wird Teil davon, wie ihr handelt, Teil davon, wie ihr seid. Ihr seid nicht mehr mit eurer Persönlichkeit identifiziert, ihr seid offen dafür zu verstehen, worum sich eure Gefühle drehen – ob sie euch Lust oder Leid bringen. Dies ist das implizite Verstehen: wissen und aus dem Wissen handeln, daß Essenz eine Weisheit besitzt, die der Persönlichkeit vermittelt werden und sie so transformieren kann und dabei die Barrieren gegenüber tieferem Verstehen durchlässig macht. Essenz lehrt euch auf eine fundamentale Weise; sie verschafft euch Weisheit, die ihr von nichts anderem bekommen könnt. Wenn ihr für den essentiellen Aspekt der Liebe vollkommen präsent seid, wird offenbar, daß Liebe in euch verankert ist, daß sie keine Vorurteile, keine Vorlieben, keine Selbstsucht kennt.

Allmählich werdet ihr zu dem Verständnis gelangen, daß die Persönlichkeit selbst, mit ihren Charakteristika, ihren Tendenzen und ihren Präferenzen, das Problem ist. Wenn ihr zu Essenz eine Beziehung aus der Perspektive der Persönlichkeit habt, das heißt, daß ihr nur das wollt, was euch ein gutes Gefühl gibt, und es nicht in Frage stellt, und das nicht wollt, was euch ein schlechtes Gefühl gibt, und das auch nicht in Frage stellt, dann nährt ihr die Neigung der Persönlichkeit zu Gier, ihr macht eure Persönlichkeit trüber. Der Mangel an einer essentiellen Qualität, zum Beispiel etwas wie Liebe oder Wert oder Freude nicht zu haben, ist nicht das Problem. Die dauernde Anwesenheit der Persönlichkeit mit ihren Mustern ist das Problem. Und das kann sich nur ändern, wenn ihr von Essenz lernt, wenn ihr eurer Persönlichkeit erlaubt, für Essenz durchsichtig zu werden, unabhängig davon, was für ein Gefühl da ist.

Aus dieser Perspektive impliziten Verstehens seht ihr, daß die Arbeit verschiedene Stadien durchläuft. Zuerst ist da die Persönlichkeit ohne ein Verständnis von Essenz. Wenn ihr dann die Muster der Persönlichkeit seht, könnt ihr euch von diesen Mustern lösen und Essenz verwirklichen. Dieser zweite Schritt erlaubt Essenz, auf die Persönlichkeit einzuwirken, um sie zu transformieren. Dann gibt es die letzte Transformation der Persönlichkeit – das implizite Verstehen. Auch wenn sich keine besondere Essenz manifestiert, ist die Persönlichkeit genau wie Essenz, vollkommen frei von ihren Mustern. Sie ist dann eine transformierte Seele.

Zuerst verwirklicht ihr eure Essenz, und dann gebt ihr euer Verhaftetsein mit Essenz auf. Nur so kann die Persönlichkeit lernen. Schließlich gibt es nur implizites Verstehen, das Verstehen dessen, wie die Dinge wirklich sind. Erst denkt ihr, Liebe sei das und das. Wenn aber Liebe vollständig verkörpert und integriert ist, dann wird es dieselbe Sache, ob man liebevolle Fülle ist oder ob man Nichts ist. Die Haltung demgegenüber, daß man sich liebevoll fühlt oder daß man sich leer fühlt, ist dieselbe.

Es ist wahr, daß wir Essenz verwirklichen müssen, um all ihre Aspekte zu befreien und zu etablieren. Aber dabei geht es nicht darum, die Persönlichkeit besser zu machen. Es ist nicht so, daß die Persönlichkeit sagen kann: „Oh toll, jetzt bin ich erleuchtet. Jetzt habe ich dieses und jenes, was ich benutzen kann, um zu bekommen, was ich will!“ Nein, der Punkt ist, daß die Persönlichkeit selbst schließlich ihre eigene Hinfälligkeit wahrnimmt und versteht, daß ihre eigene Existenz selbst das Problem ist. Zu dieser Verwirklichung kann es ohne die Präsenz von Essenz nicht kommen; das ist der Wert von Essenz. Ihr könnt zu einem Lehrer nach dem anderen gehen, ihr könnt Hunderte von Büchern lesen und alle möglichen Einsichten haben, aber das wird euch nicht transformieren, bis das Wissen selbst, das Verstehen selbst, Essenz wird. Eure Persönlichkeit kann nur lernen, wenn Essenz wirklich da ist. Ihr könnt nicht wissen, was Liebe ist, bevor Liebe da ist. Ihr könnt nicht wissen, was Mitgefühl ist, wenn Mitgefühl nicht da ist. Es ist notwendig, daß die Qualität selbst, der Aspekt selbst und seine Weisheit und sein Verstehen ein Teil eures Gewebes werden. Dann werdet ihr mitfühlend, ohne euch mitfühlend zu fühlen; ihr werdet liebevoll sein, ohne euch liebevoll zu fühlen; ihr werdet kostbar, ohne euch kostbar zu fühlen; ihr werdet all diese essentiellen Qualitäten sein, ohne das Gefühl zu haben, daß eine von ihnen da ist. Die Persönlichkeit selbst wird das implizite Verstehen werden. Ob ihr das eine und nicht das andere wollt, wird kein Thema mehr sein. Was ihr tut, wie ihr euer Leben lebt, entspricht dann einfach der Wirklichkeit.

Ich habe über eine Perspektive auf die Art Beziehung gesprochen, die wir zu unserer Arbeit, zu unserer Essenz haben können. Essenz verschwindet nicht; sie wird bei euch bleiben, als ihr selbst, aber ohne daß ihr euch darum sorgt. Wo Sorge ist, da ist es die Persönlichkeit, die besorgt ist, auch wenn es bei der Sorge um Essenz geht. Wenn ihr anfangt, an eurer Persönlichkeit zu arbeiten, müßt ihr um Essenz besorgt sein. Ihr müßt eure Sorge verstehen, bis ihr nicht länger besorgt seid. Dann könnt ihr loslassen.

Ich kann das in ein paar Worten zusammenfassen: Persönlichkeit ohne Essenz ist Leiden. Persönlichkeit mit Verhaftetsein mit Essenz ist ein Desaster, eine Katastrophe.

Persönlichkeit kann einfach ein transparentes Fahrzeug für Essenz werden. Diese Transformation geschieht dadurch, daß das Wissen um die eigene wahre Natur – Essenz, die Kostbarkeit des Seins – so integriert und verwandelt wird, daß sie zur zweiten Natur wird. Das ist dann implizites Verstehen.

Essentielle Befreiung

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