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VIEL ZU VIELE EINZELFÄLLE

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Es ist der 16. September 2020: Mehr als 200 Beamte der Polizei Nordrhein-Westfalen sind an diesem Mittwoch im Einsatz gegen ihre eigenen Kollegen. 34 Wohnungen und Polizeidienststellen durchsucht die Sonderkommission »Parabel« an diesem Morgen, beschlagnahmt Mobiltelefone und Computer. 30 Polizeibeamte werden noch am selben Tag vorläufig suspendiert. Die Polizistinnen und Polizisten sollen über Jahre hinweg in Chatgruppen rechtsextreme Inhalte ausgetauscht haben. Besonders im Fokus stehen zunächst Beamte der Polizei Essen, die sich seit 2012 in der rassistischen WhatsApp-Gruppe »Alphateam« schrieben.

»Was ich da gestern gesehen habe, hat eine Dimension in einer Abscheulichkeit, die ich nicht für möglich gehalten habe«, verkündet NRW-Innenminister Herbert Reul und äußert die Sorge, der Fall könne noch größere Ausmaße annehmen.19 Er wird recht behalten. Zwei Tage später werden zwei Polizisten aus Mecklenburg-Vorpommern wegen rechtsextremer Nachrichten suspendiert, auch gegen 15 ihrer Kollegen laufen Ermittlungen. In Berlin und Thüringen werden in den darauffolgenden Wochen ebenfalls rechtsextreme und rassistische Polizeichats bekannt. Und auch in Nordrhein-Westfalen kommen fortwährend neue rechte Verdachtsfälle dazu.

Viele Einzelfälle ergeben ein Muster

Es sind Wochen, in denen ein Wort an seine Grenzen kommt, das in der Kommunikation über Fehlverhalten bei der Polizei nicht wegzudenken ist. »Die schiere Zahl von Einzelfällen wird langsam mal zu viel«, erklärt Georg Maier, SPD-Innenminister in Thüringen und damaliger Vorsitzender der Innenministerkonferenz.20 Einzelfall – ein Begriff, der in seiner Bedeutung keinen Plural zulässt und gebetsmühlenartig vorgetragen wird, sobald die Polizei in der Kritik steht. Bereits bei dem Fall in Nordrhein-Westfalen allein könne man nicht von einem Einzelfall sprechen, kritisiert der Kriminologe und gelernte Polizist Martin Thüne deutlich. »Es sind mehrere Personen über mehrere Jahre mit mehreren Taten. Und wenn ich dann noch andere Fälle aus den vergangenen Jahren dazuzähle, dann ist das faktisch ein sich wiederholendes Muster«, sagt er.21

Währenddessen steigt die Zahl der rechten Verdachtsfälle in der Polizei weiter. Als habe man in ein Wespennest gestochen, folgt im Herbst 2020 jeder Meldung über rechte und rassistische Umtriebe bei der Polizei alsbald die nächste. Bis zum Jahresende gibt es nahezu gleich lautende Meldungen aus allen Teilen Deutschlands. Es geht um rechtsextreme Chat-Nachrichten, Verbindungen zu organisierten Neonazis und Vorwürfe rassistischer Polizeigewalt.

Mitte Dezember 2020 laufen allein in Nordrhein-Westfalen mehr als 200 entsprechende Ermittlungsverfahren gegen Polizisten. In einigen Fällen wurden Suspendierungen aufgehoben, weil sich die Vorwürfe nicht bestätigt hatten; in anderen Fällen waren die Taten der Beamten bereits verjährt. Manche Polizisten blieben also unbehelligt, obwohl sie anscheinend genau das getan hatten, was ihnen vorgeworfen wurde. Bei einigen Polizisten kamen durch die Ermittlungen auch neue Vorwürfe hinzu. In weit über tausend Fällen steht der Straftatbestand der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen im Raum, also Hakenkreuze, SS-Runen oder Hitlergrüße. Hinzu kommen Hunderte Fälle mutmaßlicher Volksverhetzung. Auf beschlagnahmten Computern und Handys finden die Ermittler Rechtsrock von indizierten Bands und mehrfach das verbotene Horst-Wessel-Lied, die Parteihymne der NSDAP. Bei zwei Beamten sollen allein mehr als 400 strafrelevante Bilder gefunden werden. Ein Polizist ließ sich fotografieren, wie er in Uniform auf zwei Streifenwagen mit dem Hitlergruß posierte; ein anderer legte ein Hakenkreuz aus Dienstmunition. Bei einem Beamten ergab die Auswertung seines Telefons deutliche Hinweise, dass er Mitglied der rechten Hooligangruppe »Alte Garde Essen« ist.

Als Einzelfälle könne er das nicht mehr bewerten, sagt Nordrhein-Westfalens Innenminister Reul deutlich. Zugleich verweist er darauf, dass Tausende Polizisten ihren Job gut machen und »eine vernünftige Haltung« haben. Ein strukturelles Problem in der Polizei sehe er daher nicht.

Chats machen sichtbar, was seit Jahren ignoriert wird

Ohne Zweifel betreffen die bekannt gewordenen Fälle rechter Polizeichats nur einen Bruchteil der rund 300000 Polizistinnen und Polizisten in Deutschland. Aber wer entscheidet, ab wann aus diesem Bruchteil ein signifikanter Teil wird? Ab wann sind es zu viele Fälle, um darin nicht zumindest ein Muster zu erkennen? Denn die moderne flächendeckende Nutzung von Messengern und Gruppenchats konserviert eine Alltagskommunikation, die vorher im Dunkeln blieb. Und die bekannt gewordenen rassistischen Polizeigruppen dokumentieren etwas, das vor allem People of Color in Deutschland seit Jahren berichten: rassistische Ansichten und rechtsextreme Einstellungen unter Teilen der deutschen Polizei.

Am 10. November 2020 verurteilt das Amtsgericht Köln einen Polizisten zu einer Bewährungsstrafe von drei Monaten. Er hatte auf Facebook dazu aufgefordert, nordafrikanischen Straftätern in die Geschlechtsteile zu schießen. | An Heiligabend 2018 beleidigt ein Polizeioberkommissar einen Nigerianer im Polizeigewahrsam als »dreckige Negersau« und »Tier«. Er wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Worte seien im Eifer des Gefechts gefallen, »nicht als Ausdruck einer rassistischen Gesinnung«, erklärt der Richter. | Am 23. September 2014 verurteilt das Amtsgericht Berlin-Tiergarten zwei Polizisten zu Geldstrafen. Sie hatten ein Jahr zuvor betrunken und außer Dienst Jagd auf angebliche Dealer gemacht und dabei eine Schwarze Person zusammengeschlagen. | Bei einem Polizeieinsatz in Frankfurt nach einer Fahrscheinkontrolle im Oktober 2012 wird ein Deutsch-Äthiopier so schwer verletzt, dass er drei Tage im Krankenhaus behandelt werden muss. Ein Polizist, der ihn geschlagen und getreten haben soll, wird erst zu einer Geldstrafe verurteilt, dann in zweiter Instanz freigesprochen. Das Opfer habe sich beim Einsteigen in das Polizeiauto selbst verletzt, heißt es schließlich.

Wie groß der Anteil von Polizisten mit rechtsextremen und rassistischen Einstellungen ist, bleibt unklar. Nicht jeder Polizist schreibt in einer rechten Chatgruppe. Nicht jede rechte Chatgruppe wird öffentlich. Und nicht jeder Polizist, der rechtsextreme oder rassistische Nachrichten verschickt, ist zugleich organisierter Neonazi oder rassistischer Schläger. Dennoch weisen die zahlreichen aufgedeckten Gruppen auf ein bedrohliches Potenzial hin, das in dieser Deutlichkeit nie zuvor dokumentiert war. »Es wäre natürlich naiv zu glauben, dass die jetzt dieses Gedankengut nur in sich tragen und in Chats zum Ausdruck bringen«, kommentiert Sebastian Fiedler, der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), die Chat-Protokolle einer Dienstgruppe der Polizei Berlin.22 »Diejenigen, die sich hier auf derart menschenverachtende Weise geäußert haben, müssten ja eine völlig andere Gedankenwelt an den Tag legen, wenn sie jetzt polizeiliche Maßnahmen ergreifen«, sagt Fiedler. Die Gefahr sei groß, dass das unprofessionell, falsch oder rechtsverletzend geschehe.

Tatsächlich berichten seit Jahrzehnten Menschen bundesweit über diskriminierende Behandlungen bis hin zu rassistischer Gewalt durch einzelne Polizeibeamte. Auch in den Fällen aus Nordrhein-Westfalen, die 2020 Schlagzeilen machen, sollen sich die rassistischen Einstellungen beteiligter Polizisten nicht nur in Chat-Nachrichten niedergeschlagen haben. Einer der führenden Köpfe der »Alphateam«-Chatgruppe in Essen soll mehrmals auf einen albanisch-stämmigen Mann eingeschlagen haben, der gefesselt am Boden lag. Eine Kollegin schilderte den Fall ihrem Vorgesetzten, doch Konsequenzen folgten zunächst nicht. Und schon bevor der Chat-Skandal den bundesweiten Blick auf die Polizei Essen lenkte, waren dort mehrfach Vorwürfe wegen mutmaßlich rassistischer Polizeigewalt und einer Nähe zur rechten Szene aufgeworfen worden. Fotos zeigen einen Essener Polizisten, der in Uniform mit einer rechten Bürgerwehr posiert. Eine libanesischstämmige Familie aus Essen berichtete im April 2020, Polizisten hätten sie bei einem Einsatz wegen Ruhestörung mit Schlagstöcken, Pfefferspray und Fäusten attackiert und verletzt. Wenige Wochen zuvor soll eine Schwarze Familie auf einer Polizeiwache in Essen rassistisch beleidigt und geschlagen worden sein. »Wenn’s dir nicht passt, dann geh aus unserem Land und sei froh, dass wir nicht in den USA sind, da würde es dir noch schlimmer ergehen«, sollen die Polizisten einem der Verletzten gesagt haben. Die Essener Polizei wies in allen Fällen Rassismusvorwürfe zurück.

Berichte und Meldungen über deutsche Polizisten, die gegenüber People of Color besonders gewalttätig agieren, sind keineswegs neu. Die »Chronik rassistisch motivierter Polizeivorfälle für Berlin von 2000 bis 2020« der Kampagne für Opfer rassistisch motivierter Polizeigewalt umfasst allein 300 Seiten. Einen bundesweiten Überblick gibt es nicht – erst recht keinen eindeutigen. In den meisten Fällen steht die Aussage der mutmaßlichen Opfer gegen die der Polizisten. Viele Vorfälle werden gar nicht erst angezeigt, in anderen Fällen sehen Gerichte keine eindeutigen Beweise für ein Fehlverhalten der Polizei. Auf dieser Basis konnte über Jahrzehnte hinweg im öffentlichen Diskurs an der These der »Einzelfälle« festgehalten werden. Vor allem weil die Berichte über rassistische Polizeiübergriffe von Menschen kommen, deren Stimme in Deutschland noch immer sehr viel weniger wahrgenommen wird als die der weißen Mehrheitsgesellschaft. Doch wie viele Einzelfälle ergeben eine Struktur?

Rassistische Polizeigewalt und ungeklärte Todesfälle

Im Sommer 2020 treibt der brutale Mord an dem Schwarzen US-Amerikaner George Floyd durch einen Polizisten vor laufenden Kameras auch in Deutschland Zehntausende Menschen auf die Straßen. Unter dem Motto »Black Lives Matter« wird erstmals in einer solchen Dimension in Deutschland über rassistische Polizeigewalt diskutiert – und von Betroffenen daran erinnert, dass auch in Deutschland Schwarze Menschen durch die Polizei verletzt werden oder im Polizeigewahrsam ihr Leben lassen.

Kein anderer Fall steht so sinnbildlich für den Vorwurf, die Polizei weigere sich, rassistische Gewalt in den eigenen Reihen konsequent aufzuarbeiten und werde dabei noch von Justiz und Politik unterstützt, wie der bis heute ungeklärte Tod des Sierra-Leoners Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle.

Seine Hände und Füße sind an der Betonpritsche unter ihm angekettet, als er verbrennt. Mehrmals an diesem Januarmorgen löst der Feueralarm im Gewahrsamstrakt des Polizeireviers Dessau aus. Ein Polizist stellt ihn ohne weitere Kontrolle ab. Doch davon bekommt der Mann auf der Betonpritsche längst nichts mehr mit. Später findet sich in seiner Lunge kaum Ruß, auch keine Hinweise auf die Ausschüttung von Stresshormonen im Blut. Als die Flammen in der Zelle hochschlagen, muss er bewusstlos sein – oder bereits tot. Gegen 12:10 Uhr am 7. Januar 2005 melden Polizisten der Frühschicht, dass sie den verkohlten Leichnam von Oury Jalloh in Zelle 5 der Polizeiwache Dessau entdeckt haben.

Noch bevor die Aufarbeitung des Todesfalls beginnt, haben sich die Behörden bereits auf die offizielle Version der Ereignisse festgelegt. »Ich begebe mich jetzt in den Keller, in dem sich ein schwarzafrikanischer Bürger in einer Arrestzelle angezündet hat«, heißt es in einem Video der Ermittlungsgruppe kurz nach dem Fund der Leiche. Oury Jalloh soll sich selbst angezündet haben – an dieser Version werden Polizeiführung und Innenministerium über mehr als 15 Jahre hinweg festhalten. Gegen jede Logik und gegen erdrückende Indizien. Die Ermittlungen sind geprägt von fehlenden Videoaufnahmen, lückenhaften Polizeiprotokollen und Beweisstücken, die aus der Asservatenkammer verschwinden. Nur bruchstückhaft kommen Informationen über den tatsächlichen Ablauf zutage. Meist müssen sie von Freunden und Angehörigen Oury Jallohs, engagierten Anwältinnen und ihren Unterstützern mit enormem Aufwand ans Licht gezerrt werden. »Das finale Brandbild kann nicht ohne Brandbeschleuniger entstanden sein«, stellt ein Brandgutachter fest, der nur nach einer bundesweiten Spendensammlung beauftragt werden konnte. 2019, fast fünfzehn Jahre nach Beginn der Ermittlungen, stellt ein forensisches Gutachten fest, dass Jalloh vor seinem Tod schwer misshandelt wurde. Sein Nasenbein war gebrochen, ebenso das Schädeldach, die Nasenscheidewand und eine Rippe. Die schiere Fülle an ebenso erschreckenden wie beinahe unglaublichen Details des Falls ist so groß, dass die Journalistin Margot Overath in einer vielfach gelobten Podcastreihe knapp fünf Stunden benötigt, um jede Wendung nachzuzeichnen.23

»Weil die Polizei in Dessau und die Justizbehörden von Sachsen-Anhalt nicht nach Tätern gesucht haben, bleibt den Angehörigen die Wahrheit vorenthalten – und der Gesellschaft die Chance, aus Dessauer Verhältnissen Konsequenzen zu ziehen«, lautet das Fazit von Overath, die sich mehr als ein Jahrzehnt mit dem Fall beschäftigt hat. Wegen vorsätzlich begangener Taten im Zusammenhang mit dem Tode Oury Jallohs wird kein einziger Polizist je angeklagt. Ein Dienstgruppenleiter, der den Feueralarm ignoriert hatte, wird wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt. Ein weiterer Beamter, dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, er habe bei der Durchsuchung Jallohs ein Feuerzeug übersehen, wird freigesprochen. Was tatsächlich passiert ist, bleibt offen. Vor Gericht schweigen die meisten Polizisten, die an jenem Januarmorgen 2005 im Dienst waren, zu den Vorfällen. Sie können sich an nichts erinnern oder geben Erklärungen ab, die allen Erkenntnissen widersprechen. Vieles wirkt abgesprochen, wie nach einem Drehbuch. Auch der Vorsitzende Richter am Landgericht Dessau bemängelt den offenkundigen Unwillen der Beamten, zur Aufklärung beizutragen. »Das, was hier geboten wurde, war kein Rechtsstaat, und Polizeibeamte, die in einem besonderen Maße dem Rechtsstaat verpflichtet waren, haben eine Aufklärung verunmöglicht«, lautet sein bitteres Resümee. Doch Konsequenzen folgen nicht. 2017 möchte der Staatsanwalt die Ermittlungen neu aufrollen, weil er angesichts über die Jahre neu hinzugekommener Erkenntnisse davon ausgeht, Jalloh sei misshandelt und anschließend angezündet worden, um die Spuren zu verwischen. Denn vor dem Tod des Sierra-Leoners starben bereits zwei weitere Menschen unter ungeklärten Umständen, nachdem sie in der Dessauer Wache in Gewahrsam genommen wurden. Die Legende von der Selbstanzündung Oury Jallohs sei genutzt worden, um keinen weiteren Toten rechtfertigen zu müssen, lautete die Theorie des Staatsanwalts. Das Verfahren wird ihm von höherer Stelle entzogen und eingestellt. Mehr als fünfzehn Jahre nach dem Tod Oury Jallohs ist noch immer nicht aufgeklärt, was in den Räumen des Polizeireviers Dessau passiert ist. Fest steht lediglich: Ein Mensch starb in Obhut derer, die den Rechtsstaat schützen sollen, und so, wie Polizei und Sachsen-Anhalts Innenministerium den Vorfall darstellen, kann es nicht gewesen sein.

Angesichts der schleppenden juristischen Aufarbeitung des Todes von Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle erklärt Amnesty International 2010, Deutschland verletze seine menschenrechtliche Pflicht, Misshandlungsvorwürfe gegen Polizisten »unmittelbar, umfassend, unabhängig und unparteilich unter Einbeziehung des Opfers« zu ermitteln. Dieses Verhalten stehe in einer langen Tradition. | Am 16. Mai 1995 legt Amnesty International seinen ersten Bericht über rassistische Polizeigewalt in Deutschland vor. Innerhalb von drei Jahren sei es demnach zu mehr als 70 Fällen »grausamer, erniedrigender und unmenschlicher Behandlung von AusländerInnen durch die Polizei« gekommen, darunter mindestens zwei Fälle von Folter. | Im Mai 1996 veröffentlicht Amnesty International einen zweiten Jahresbericht zu fremdenfeindlichen Übergriffen bei der Polizei. Detailliert werden etwa die Schilderungen von zwei türkischen Staatsangehörigen wiedergegeben, denen im Polizeigewahrsam Nasenbein, Jochbogen und Rippen gebrochen wurden. Gegen beide Männer wurde Anzeige wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt erstattet. Die Gewerkschaft der Polizei weist den Jahresbericht als »keineswegs sauber recherchiert« zurück. | Mai 1998: Das Anti-Folter-Komitee der Vereinten Nationen äußert Besorgnis über Misshandlungen im Polizeigewahrsam in Deutschland.

Oury Jalloh ist nicht die einzige Person of Color, die unter zumindest strittigen Umständen im Gewahrsam der deutschen Polizei zu Tode gekommen ist. Am selben Tag, an dem Jalloh verbrannt in einer Polizeizelle gefunden wird, stirbt in einem Krankenhaus in Bremen der Sierra-Leoner Laya-Alama Condé: Polizisten hatten ihm zehn Tage zuvor im Polizeipräsidium Bremen-Vahr unter Zwang Brechmittel verabreichen lassen. Ein solcher Brechmitteleinsatz, um bei mutmaßlichen Dealern verschluckte Drogenpäckchen zu sichern, endete bereits vier Jahre zuvor in Hamburg tödlich. Damals starb der 19-jährige Nigerianer Achidi John. Der Hamburger Flüchtlingsrat unterstellte der Polizei eine selektive Anwendung der Zwangsmaßnahme, die vorwiegend schwarzafrikanische Straßendealer treffe.

Andere People of Color starben bei gewaltsam durchgesetzten Abschiebungen, wie 1994 der Nigerianer Kola Bankole oder fünf Jahre später der Sudanese Aamir Ageeb. Drei Polizisten des Bundesgrenzschutzes setzten dem abgelehnten Asylbewerber an Bord eines Flugzeugs zusätzlich zu zahlreichen Fesseln einen Motorradhelm auf und fixierten seine Arme und Beine am Sitz. Als Ageeb während des Starts zu schreien begann, drückten die Polizisten seinen Oberkörper Richtung Boden. »Lagebedingter Erstickungstod durch massive Einwirkung von Gewalt« lautet die spätere Diagnose der Rechtsmedizin. Die drei Polizisten werden 2004 wegen Körperverletzung mit Todesfolge in einem minder schweren Fall verurteilt. Das Gericht spricht zudem eine Strafminderung aus. Die Polizeibeamten erhalten daher nur eine Bewährungsstrafe von neun Monaten. Eine Verurteilung zur gesetzlich vorgeschriebenen Mindeststrafe hätte zur Folge gehabt, dass die Männer aus dem Polizeidienst ausscheiden müssen. »Es kann der Eindruck entstehen, wer als Amtsträger einen Menschen zu Tode bringt, könnte auch künftig damit rechnen, glimpflich davon zu kommen«, kritisierte die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl das Urteil.24 Wie viele People of Color in den letzten Jahrzehnten bei Polizeieinsätzen oder in staatlichem Gewahrsam starben, ist unklar. Die taz dokumentierte 2020 exemplarisch 24 Fälle,25 einige Initiativen kommen auf weitaus höhere Zahlen.26 Viele der genannten Todesfälle sind bis heute nicht geklärt. Polizei und Gewerkschaften verwahren sich vehement gegen die Aussage, als Schwarzer Mensch sei die Gefahr, durch Polizisten getötet zu werden, auch in Deutschland erhöht. Zu Recht?

2018 kommen Erinnerungen an den Fall Oury Jalloh hoch, als der syrische Kurde Amad Ahmad nach einem Zellenbrand in der Justizvollzugsanstalt Kleve stirbt. Auch hier widersprechen Brandgutachten der offiziellen Version des Geschehens. Zudem wurde Ahmad nach Recherchen des ARD-Magazins Monitor offensichtlich fälschlicherweise inhaftiert, seine Daten im Polizeisystem manipuliert. Trotzdem stellt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen einen Polizisten wegen der rechtswidrigen Inhaftierung Ahmads ein. »Die durchgeführten Ermittlungen haben nicht zur Feststellung eines strafbaren Verhaltens geführt«, heißt es in einer gemeinsamen Presseerklärung von Staatsanwaltschaft und Polizei.27 Der Fall beschäftigt noch immer [Stand April 2021] den nordrhein-westfälischen Landtag. Die nordrheinwestfälischen Grünen sprechen von einem »handfesten Polizei- und Justizskandal«.28

Rechtsextreme Verbindungen, Datenabfragen, Todesdrohungen

Kaum ein anderes Wort erfährt 2020 so viel berechtigten Spott wie die inhaltsleere Formel »Einzelfälle«. Zu offensichtlich häufen sich die Meldungen über rechte Polizisten. Und zu offensichtlich wehren sich einige Verantwortliche noch immer dagegen, ein Muster zu erkennen. Sprachkritiker küren den Begriff mit dem Negativpreis »Floskel des Jahres«. Initiativen erstellen »Einzelfall-Karten« und »Einzelfall-Kalender« mit bekannt gewordenen Fällen rechtsextremer Polizisten. Oft geht es um aufgedeckte rechtsextreme Chat-Nachrichten. Noch nie ließ sich rechtsextremes Gedankengut in der Polizei so eindeutig belegen wie heute: technisch eindeutig dokumentierte Hakenkreuze und Hitlergrüße, die unter Polizisten verschickt wurden, und Nachrichten, die ihre Nähe zu rechtsextremen Gruppen deutlich machen. Doch anders als bei Vorwürfen rassistischer Polizeigewalt, bei denen es zumeist die mutmaßlichen Opfer sind, die an die Öffentlichkeit gehen und oft kaum Gehör finden, werden bei diesem Thema seit Jahren fast nur Fälle bekannt, die von den Sicherheitsbehörden selbst öffentlich gemacht oder durch journalistische Recherchen aufgedeckt werden. Manch andere Verstrickung von Polizisten in die rechtsextreme Szene kommt hingegen erst mit jahrelanger Verzögerung ans Licht.

2012 wird beispielsweise im Untersuchungsausschuss zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) erstmals öffentlich bekannt, dass Polizisten aus Baden-Württemberg zehn Jahre zuvor zeitweise Mitglied im deutschen Ableger des Ku-Klux-Klan waren. In ihren Mitgliedsanträgen versicherten die Polizisten etwa, dass sie nicht jüdischer Abstammung seien und weltweit für die »weiße Rasse« eintreten würden. Obwohl ein V-Mann schon früh dafür sorgte, dass die Mitgliedschaft der Polizisten bekannt war, folgten keine Konsequenzen. Das Verfahren gegen einen Beamten wurde wegen Zeitablaufs eingestellt. Er erhielt lediglich eine Rüge. Ein Polizeimeister, der während seiner Klan-Mitgliedschaft noch Beamter auf Probe war, durfte ebenfalls im Dienst bleiben und kam mit einer »Zurechtweisung« davon.

Am 9. Oktober 2020 erscheint ein Kölner Zivilbeamter zur Gedenkveranstaltung des antisemitischen Anschlags auf die Synagoge in Halle in Kleidung der Marke »Thor Steinar«, einem Erkennungszeichen der rechtsextremen Szene. | In München wird 2019 ein Polizist fotografiert, der ein Verbandsabzeichen der Wehrmacht an seinem Rucksack trägt. | Ein Kriminalkommissar aus Saarbrücken wird im Juni 2016 wegen Volksverhetzung verurteilt. Er hatte auf Facebook öffentlich den Holocaust bezweifelt. | Im Mai 2014 fotografieren Passanten in einem Einsatzfahrzeug der bayerischen Eliteeinheit USK zwei Aufkleber mit den Botschaften »Good Night Left Side« und »Anti-Antifa organisieren – Den Feind erkennen. Den Feind benennen«. Die Motive stammen aus der Neonaziszene.

Bundesweit werden immer wieder Verbindungen einzelner Polizisten in die rechte Szene bekannt. Einige sind Teil der rechten Reichsbürgerszene. Reichsbürger glauben daran, dass das Deutsche Reich weiterhin fortbestehe, und stellen die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland infrage. Das heißt, sie lehnen auch die Gesetze und demokratisch festgeschriebenen Grundwerte ab, die Polizisten durchsetzen sollen. 2019 liefen allein in Bayern 18 entsprechende Disziplinarverfahren gegen Polizisten. Andere pflegen freundschaftliche Verbindungen in die rechtsextreme Hooligan- und Neonazi-Szene: Bei Ermittlungen gegen die rechtsextreme Freie Kameradschaft Dresden (FKD) stießen Ermittler auch auf einen Dresdner Polizisten, der sich mit Beschuldigten in einem Gruppenchat austauschte. Bei einer Gerichtsverhandlung gegen drei Rechtsextreme im Oktober 2020 erklärte der Beamte im Zeugenstand, der Hauptangeklagte sei ein Freund von ihm. Kein Einzelfall in diesem Umfeld: Schon bei den Ermittlungen gegen die rechtsterroristische Gruppe Freital, die teilweise gemeinsam mit der FKD agierte und Sprengstoffanschläge auf Wohnungen von Geflüchteten und Kommunalpolitikern verübte, stand der Verdacht im Raum, dass drei Polizeibeamte mit den Rechtsextremen in Kontakt standen und dienstliche Interna weitergeleitet hatten. Polizisten, die organisierte Rechtsextreme und Neonazis unterstützen oder sich offen als Freunde jener bezeichnen, die den Rechtsstaat ablehnen?

Es ist bei Weitem nicht der einzige Fall, in dem interne Informationen der Polizei bei Neonazis auftauchen. Im Januar 2016 werden interne Dokumente der sächsischen Polizei über eine Kontrolle von Linken nur Stunden später auf Social Media Accounts der NPD verbreitet. 2015 sucht die Polizei Dresden nach einem »Maulwurf«, der interne Informationen an das völkisch-nationalistische Bündnis Pegida weitergegeben hat. Und auch bei den Ermittlungen zum rechtsextrem motivierten Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019 stoßen Ermittler auf dem Handy eines Mitangeklagten auf ein internes Polizeidokument. Das Papier war als »Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch« deklariert und behandelte Fahndungsstrategien in Fällen terroristischer Gewaltkriminalität von bundesweiter Bedeutung. Schon als ein Neonazi 2003 beim Landeskriminalamt Sachsen gegen seine Kameraden aussagte, kursierte eine Kopie des Protokolls bereits wenig später in der rechtsextremen Szene. Doch auf welchen Wegen die internen Daten und Dokumente der Polizei bei Menschen landen, die den demokratischen Rechtsstaat ablehnen, ihn meist sogar offen bekämpfen, wurde in keinem dieser Fälle aufgeklärt.

Andernorts nutzen Polizisten ihre dienstlichen Privilegien, um selbst aktiv gegen jene zu werden, die sie als politische Gegner ausmachen. In Berlin speicherte ein Polizeikommissar Fotos und Daten von Linken aus dem internen Polizeisystem und verschickte Drohschreiben an die Ausgespähten. Er arbeitete in der Vergangenheit als verdeckter Ermittler in der linken Szene und später als Auswerter beim Staatsschutz in Berlin. 2018 erhielt der Beamte einen Strafbefehl über 3500 Euro – wegen eines Verstoßes gegen das Datenschutzgesetz. In Greifswald soll ein Polizist im Februar 2019 die Daten vermeintlicher Linker abgefragt und in rechtsextreme Kreise weitergegeben haben. »Wir haben deine Daten, wir kennen deine Telefonnummer, vielleicht wissen wir auch, wo du wohnst« lautete eine Nachricht, die eine der Betroffenen wenig später erhielt.

Bundesweit liefen 2020 mehr als 400 Verfahren wegen unberechtigter Datenabfragen durch Polizisten. Auch die Daten des Autors wurden 2019 auf einem Polizeicomputer des LKA Sachsen gesucht. Bis die Behörde dies einräumte, brauchte es mehrere Anwaltsschreiben und eine Klageandrohung. Der sächsische Datenschutzbeauftragte schloss in diesem Fall eine unbefugte Recherche nicht aus. Das LKA gab auf Nachfrage an, der Grund für die Suche sei nicht protokolliert, sah jedoch ausdrücklich keine Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen den Datenschutz. Einerseits sei also nicht klar, warum ein Polizist nach einem Journalisten sucht, der sich kritisch mit der Polizei auseinandersetzt, andererseits sei klar, dass der Polizist vorschriftsgemäß und berechtigt gehandelt habe.

Wie brisant dieses Thema ist, wurde bereits 2018 deutlich, als die Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız ein Fax erhielt, das mit NSU 2.0 unterzeichnet war. »Miese Türkensau!« und »Wir schlachten deine Tochter« hieß es in dem Drohschreiben, das auch die gesperrte Adresse der Familie enthielt. Die Spur der Todesdrohungen führte in die hessische Polizei. Seitdem steht die Frage im Raum, ob es ein rechtsextremes Netzwerk in der deutschen Polizei gibt. Und es zeigt sich zugleich ein Muster. Bei den Ermittlungen zu den rechten Todesdrohungen stoßen die Behörden immer wieder auf: rechtsextreme und rassistische Polizeichats. Chats, die dokumentieren, wie verbreitet und normal rassistische und rechtsextreme Aussagen unter Teilen der deutschen Polizei sind – anscheinend bereits seit Jahren.

August 2018: Im bayerischen Rosenheim rufen zwei Männer auf der Terrasse eines Lokals rassistische Parolen und zeigen den Hitlergruß. Es handelt sich um Beamte der Bundespolizei. | Im August 2013 zeigt ein Polizist bei einem Laternenfest in Halle/ Saale mehrmals den Hitlergruß. | Wegen des Verdachts der rechtsextremistischen Betätigung werden im Mai 2003 zwei Beamte des Landeskriminalamts Brandenburg vom Dienst suspendiert. Neben anderem belastenden Material waren bei einer Hausdurchsuchung Fotos gefunden worden, auf denen die Männer den Hitlergruß zeigen. | In den Diensträumen eines Münchener Polizeiausbilders werden am 20. April 2001 mehrere Kassetten mit strafrechtlich relevanter »Skinhead-Musik« sichergestellt. | Die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Oder teilt im Oktober 1999 mit, dass vier Polizeikommissare wegen rechtsextremistischer Umtriebe vom Dienst suspendiert wurden. Sie sollen mehrfach rechte Parolen von sich gegeben und bei einer privaten Feier lautstark rechtsextremistische Musik abgespielt haben. | Im August 1997 werden sieben bayerische Polizisten suspendiert, weil sie auf einer Feier Nazi-Lieder gesungen und den Hitlergruß gezeigt haben sollen. Drei Monate später wird die Suspendierung aufgehoben, ein eindeutiger Nachweis der Taten habe gefehlt.

Es scheint nahezu unmöglich, bei all diesen Vorwürfen und Vorfällen den Überblick zu bewahren. Zu viele sind es, zu vielfältig sind die Verfehlungen von rechtsextremen und rassistischen Polizisten. Auch offizielle Zahlen helfen hier nicht. Zu groß ist das Dunkelfeld, zu ungenügend sind die Lagebilder (siehe Seite 166). Fest steht jedoch zweifellos – und das soll hier noch einmal klar betont werden: Es gibt sie. Rassisten in Uniform. Rechtsextreme in Uniform. Und Neonazis in Uniform.

»Sie haben recht, es sind keine Einzelfälle«, erklärt der CDU-Abgeordnete und Polizist Bodo Löttgen am 7. Oktober 2020 im nordrhein-westfälischen Landtag mit Blick auf die zahlreichen aufgedeckten rechten Chat-Inhalte.29 Trotzdem weigere er sich zu sagen, es sei ein strukturelles Problem der Polizei. »Wir müssen endlich eine Sprachregelung finden, die uns ermöglicht, zwischen Einzelfällen und strukturellem Defizit eine vernünftige Beschreibung der Situation zu finden. Das wird unsere Aufgabe sein«, führt er aus. Als sei es vor allem eine Frage der richtigen Worte, wie mit dem umzugehen ist, was seit Jahren berichtet und hier zumindest ausschnittsweise dokumentiert ist: viel zu viele Einzelfälle. Doch wie viele Einzelfälle ergeben eine Struktur?

Auf dem rechten Weg?

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