Читать книгу Die Taucherin - Aino Trosell - Страница 4

I.

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Ein Schweißtropfen läuft langsam über die Stirn, dann die Nase hinunter. Er wischt ihn irritiert weg.

Er steht über die geräumige Nylontasche gebeugt und füllt sie mit Slips, Unterhemden, Taschenbüchern, Kassetten, Strümpfen, T-Shirts, Pullovern und Werkzeug. Er ist fünfunddreißig Jahre alt, blond, durchtrainiert und braungebrannt. Wenn sein Blick nicht so unzufrieden wäre, würde er richtig gut aussehen.

Eigentlich hat er keine Eile, aber er hetzt, als warte das Flugzeug nur noch auf ihn.

Es ist still. Hinter ihm steht seine Frau in der Türöffnung, hat ihm den Rücken zugewandt. Sie ist im siebenten Monat schwanger, über dem Hohlkreuz hängt das Kleid locker herunter. Doch vorn wölbt sich ihr Bauch schon deutlich.

Er schielt hastig zu ihr hin, als er die Kommodenschublade noch einmal aufreißt, um weitere Strümpfe einzupacken. Man weiß ja nie.

Nein, man weiß nie.

Der fünfjährige Sohn kommt ins Zimmer. Er preßt sich an Mutters Beine, während er Ian ansieht, der darauf das Packen unterbricht.

Seine Hände sinken herab. Müdigkeit überfällt ihn. Ach könnte man sich doch unter eine schützende Bleidecke legen, um geröntgt, operiert und von all diesen lästigen Forderungen befreit zu werden! Für krank erklärt werden, todkrank, wenn nötig!

Der Sohn sieht ihn an. Vom Rücken seiner Frau gehen Signale aus.

Er sagt, er tue es doch für sie beide, weil er sich um ihr Wohlergehen sorge.

Verächtliches Schweigen. Ginge es nach ihnen, würde er nicht fahren, so einfach ist es. Sie hat ihn schon so oft gebeten – fahr nicht! Fahr nicht!!

Er wiegt die Tasche in der Hand. Sie ist wirklich schwer.

Er sagt, er werde rechtzeitig zurück sein, ehe es soweit ist, doch jetzt müsse er los. In diesen Zeiten könne man über jeden Job froh sein, der einem angeboten wird.

Sie fängt an zu schluchzen, und der Junge rennt aus dem Zimmer. Ian hört, wie sich das Trommeln der kleinen Füße immer weiter entfernt.

Jetzt hält sie den Rücken nicht mehr durchgedrückt, ist in sich zusammengefallen und bebt. »Du hast doch eine Arbeit. An Land«, flüstert sie.

»Wenn es wenigstens eine andere Frau wäre«, sagt sie leise. »Ich bin bald zurück«, erwidert er.

»Und ich werde dann hier auf dich warten? Werde ich das? Sag, werde ich das wirklich?«

Er schafft es nicht, will nicht antworten, denn jetzt hupt ein Taxi auf der Straße vor dem Haus. Seine Muskeln zucken, und er schaut hinaus.

Strahlender Sonnenschein, es wird ein herrlicher Sommertag werden. Er ist schon unterwegs; sitzt in Gedanken bereits auf dem Airport in Aberdeen, um das nächste Flugzeug nach Stavanger zu nehmen.

»Leih dir ein Video aus«, sagt er. »Oder geh ins Restaurant, dir fällt schon was ein, wir haben genug Geld, mach dir keine Sorgen, ich bin bald zurück – dann machen wir dort weiter, wo wir jetzt aufhören.«

In roten Versalien stürzt Deep seahorse über das runde blaue Feld mit schwarzem Rand, das Logo, ein großer Aufkleber, schmückt eine Tasche, Handgepäck, das ein etwa fünfzigjähriger Mann über der Schulter trägt. Sein faltiges Gesicht zeugt von teuer erkaufter Lebenserfahrung. Die Augen sind ausdrucksvoll, blikken wehmütig. Sein Haar ist grau, und der Haaransatz hat sich nach hinten verschoben, dennoch wirkt die noch immer schlaksige Gestalt irgendwie jungenhaft. Er bewegt sich geschmeidig, ja schön.

Er geht über das Vorfeld des Flugplatzes von Stavanger. Sonnenreflexe funkeln in den großen Fenstern der Ankunftshalle. Seine Kleidung ist abgewetzt, dieselbe Bundjacke Sommer wie Winter, als sei er ein Habenichts. Doch ist seine Armut von anderer Art.

Die Maschine, in der er gesessen hat, ist jetzt leer, auch das Gepäck ist ausgeladen. Vor einem Flugsteig warten schon eine Reihe Geschäftsleute, die mit demselben Flieger zurück nach Göteborg wollen. Glenn bemerkt sie nicht. Geistesabwesend tritt er in den kühlen Schatten der Ankunftshalle, wo ein Tumult sofort seine Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Anfangs sieht er nicht, woher das Geräusch kommt, hört nur laute Stimmen, hin und wieder Geschrei und entrüstetes Gemurmel.

Es rührt von einem Gepäckband her. Eine Gruppe von Passagieren, vielleicht zurückkehrende Mallorca-Touristen, wartet an dem Band, und irgend etwas passiert dort. Frauen und Männer in leichter Sommerkleidung, auf dem Kopf Panamahüte, gestikulieren und schimpfen – worüber?

Ein junger Mann in teuren Cowboyboots fläzt sich auf einen Stuhl und lacht. Er hat die Beine ausgestreckt, den Hut in den Nacken geschoben, und er lacht schallend, eine Dose Elefantenbier in der Hand. Auf dem Boden steht seine Tasche – mit dem Firmenzeichen von Deep Seahorse in leuchtendem Rot, Blau und Schwarz.

Glenn geht auf ihn zu und setzt sich. Er deutet auf die Tasche, und der junge, gut gebaute Mann hört einen Moment auf zu lachen, drückt ihm die Hand und stellt sich vor: »Bengt, nice to meet you.«

Es stellt sich heraus, daß sie beide Nordländer sind, Bengt kommt aus Oslo. Er zeigt auf das Gepäckband und fängt wieder an zu lachen, und Glenn versteht plötzlich, warum die Mallorca-Touristen so entrüstet sind. Denn dort auf dem Band liegt wie ein Käfer, der auf dem Rücken gelandet ist, ein völlig betrunkener Mann. Bengt sagt, das sei Ian, ein Schotte. »Er gehört zu uns.«

Ian bleibt stecken, sein Körper bildet einen Wall, der den Strom der Koffer stoppt. Die Mallorca-Touristen zerren schimpfend an ihren Gepäckstücken, die sich immer mehr ineinander verkeilen. Mit meerblauen Augen starrt Ian sie verwundert an. Lippen bewegen sich, Augen funkeln vor Wut, und goldene Armbänder klimpern – die Frauen sind am aggressivsten.

Bengt und Glenn stehen auf und gehen zum Band, wo sie den zukünftigen Arbeitskollegen mit vereinten Kräften auf den Boden heben. Die Koffer beginnen ihre Reise von neuem, und brummelnde Damen und Herren reißen ihr Gepäck an sich, um rasch nach Hause zu kommen, wo sie erzählen wollen, wie wunderbar der Urlaub gewesen ist.

Eine ausholende Geste zum Band und ein kehliger Laut, ein Haufen Konsonanten, zusammengequetscht wie eben noch das Gepäck, halten sie zurück. Glenn und Bengt sehen sich fragend an. Mit einem unbegreiflichen Gemisch von F- und S-Lauten versucht es Ian noch einmal, diesmal mit größerem Nachdruck!

Glenn dreht sich um und sieht eine einsame Sporttasche auf dem Band im Kreis fahren. Während Bengt sich bemüht, Ian in aufrechter Stellung zu halten, geht Glenn die Tasche holen.

Bei näherem Hinsehen bemerkt er noch einen anderen Aufkleber darauf. Ein bedeutend jüngerer Reisender, der dieselbe Tasche benutzt hat, ist offenbar in einem schottischen Legoland gewesen.

Glenn nimmt die Tasche, dreht sich um und geht zu seinen Kollegen zurück. Auf diesem kurzen Weg überfällt ihn das private Fiasko der letzten Woche.

Eigentlich ist alles nur komisch gewesen. Ja, sein ganzes Leben ist überhaupt nur ein Witz gewesen. Ein göttlicher Scherzbold hatte Spaß daran gefunden, ihn direkt in den Straßengraben, zwischen Disteln und Gestrüpp zu lenken.

Die hinter ihm liegenden gescheiterten Ehen kann er jedenfalls nur sich selbst anlasten. Scheidungen, als wäre er der reinste Filmstar, auch wenn sein Anklang bei Frauen da überhaupt nicht mithalten kann.

Beim ersten Mal war er einfach zu jung gewesen. Christer war geboren worden, noch bevor sie eine eigene Wohnung besaßen, und Geld hatten sie auch nicht. Er selbst war keine große Hilfe, das muß er sich heute, nach so langer Zeit, tatsächlich eingestehen. Damals aber ging ihm ihr ewiges Genörgel auf die Nerven. Wenn er abends von der Werft nach Hause kam, wollte er sein Essen und Ruhe und Frieden haben, denn so hatte es seine Mutter bei Vater und ihm immer gehalten. Statt dessen wirbelten ihm Töpfe, Windeln und Einkaufslisten um die Ohren. Und unentwegt das liebe Geld – nämlich, daß keins da war. Hier Kredite und dort Schulden, obwohl er nichts anderes tat, als zu arbeiten.

Als Christer in die Tagesstätte kam und Lisa ihren Job antrat, sah es mit den Finanzen besser aus, sie hörten auf, um Geld zu streiten. Und auch miteinander zu schlafen. Denn Lisa war mit ihm fertig. Das konnte er an allem spüren. Er versuchte, den Jungen ins Spiel zu bringen, aber auch damit kam er zu spät. Sie habe das Kind geboren und sich allein darum gekümmert, gab sie Glenn zu verstehen.

Also hatte er nicht viel vorzubringen, als sie ihn nicht mehr haben wollte. Ob er sie zu diesem Zeitpunkt immer noch geliebt hat, weiß er nicht mehr, doch im Licht der Erinnerung tritt nun der ganze Mechanismus deutlich zutage. Wie nutzlos, wie verdammt blödsinnig, wie blind und unnötig das alles gewesen ist!

Die Jahre danach hat er allein verbracht – hat die Werftkrise erlebt, bis zu Kündigung und Berufsberatung: Ich habe schließlich einen Beruf, schert euch zur Hölle! Mal eine Kneipenrunde und eine Nacht in einem fremden Bett, das war alles. Die Mutter erkrankte an Krebs, und der Vater verkümmerte, als der Kran von Eriksberg nicht mehr kreischend losratterte. Die Werft – der Mittelpunkt der Welt und Vaters ein und alles! Eine Zeitlang hatte Glenn geglaubt, die Stilllegung der Werft werde den Alten ins Jenseits befördern.

Doch als der Vater schließlich eine Abfindung samt ehrenvoller Danksagung erhalten hatte, war sein Rükken wieder gerader geworden, er ließ die goldene Uhr sehen und murmelte, man habe sich schließlich nie krankschreiben lassen, und jetzt wären die Jungen an der Reihe.

Die Arbeit auf der Bohrinsel hatte Glenn wieder Auftrieb gegeben. Ein neues Leben begann: exotisch, interessant, manchmal schwer, aber gut bezahlt.

Die Mutter war gestorben. Der Vater ging zum Seniorentanz und schaffte sich schon bald eine neue rosige Frau an, die er vor dem Fernseher tätschelte, wenn sie ihm altmodische Hausmannskost mit fetter Bratwurst, Grützwurst oder auch Heringsauflauf mit Korinthensoße vorgesetzt hatte. Der Vater schnurrte wie ein Kater, und Glenn seufzte erleichtert.

Schon früh hatte er sich fürs Tauchen interessiert. Machte sich immer in der Nähe der Taucher zu schaffen. Und eines Tages durfte er mit nach unten, es war eine reine Notlösung, weil kein anderer zur Stelle war.

Zehn Jahre später besaß er alle Taucherscheine, konnte sich frei zwischen den Ländern bewegen und war mit seiner Ausbildung und der Rohrschlosservergangenheit auf der Werft auch noch ungewöhnlich vielseitig.

Als er dann ein paar Jahre später Mia kennenlernte, glaubte er wirklich, es würde gutgehen. Schließlich war er ja nur drei Wochen weg zur Arbeit und danach zwei zu Hause. Dennoch klappte es nicht. Die Kinder wurden geboren, und die Zeiten, in denen er draußen war, blieben schwarze Flecken auf dem Film.

Die Nachricht von Pontus’ Geburt erhielt er direkt in die Druckkammer: bei hundertzwanzig Metern Tiefe. Er hatte nicht das geringste empfunden. Als er endlich wieder nach Hause kam, hatte Mia sich mit dem Sohn dort schon eingerichtet. Britta, zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre alt, verhielt sich abwartend.

Es war einfach nicht gut, damals, als er nach Pontus’ Geburt nach Hause kam. Irgend etwas lief schief, obwohl kein böses Wort geäußert wurde.

Wie sich herausstellen sollte, kam auch seine zweite Frau ausgezeichnet ohne ihn klar. »Was glaubst du eigentlich, was ich bin?« hatte sie gesagt. »Eine Art Küchenherd, den man an- und ausschaltet? Wenn du jetzt mehrere Wochen nicht hier gewesen bist, mußt du mir etwas Zeit geben und dich nicht gleich auf mich stürzen und losstoßen wie ein unerzogener Dorfköter!«

Und dann war sie zur Arbeit gegangen. Die Kinder besuchten die Tagesstätte. Er war allein zu Hause und wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte. Das Essen stand auf dem Tisch, wenn sie abends heimkamen, und er fühlte sich, verdammt noch mal, als sei er ein Dienstmädchen. Sagte zwar nichts, aber es war ihm wohl doch anzumerken. Wie wütend er war, denn so war es.

Und es ging schief. Ging völlig daneben. Aber schließlich hatte er schon einiges hinter sich. Eine Menge sogar. Hatte das Fröj-Unglück mitgemacht. Meinte, sich mit äußeren Katastrophen auszukennen. Es gab keinen Grund, Trübsal zu blasen oder sich zu beklagen, wenn das Dach über ihm einstürzte.

Jahre vergingen. Das Licht der Verklärung wurde immer stärker. Die Indianer nannten die Vergangenheit Zukunft, weil sie hellerleuchtet und deutbar vor ihnen lag. Er verstand sie nur zu gut.

Also hatte er vorige Woche einen Entschluß gefaßt. Er hatte in Fornebu den Flieger genommen und gedacht: Egal, was jetzt passiert, aber dieses Cowboyleben ertrage ich nicht länger, ich bin schon über füflfzig und muß ein Zuhause haben, ein inneres Zuhause bei den Meinen. Bei denjenigen, die mir trotz allem am nächsten stehen.

Er hatte diverse Geschenke besorgt. Es war kein Besuchswochenende, das hatte es schon lange nicht mehr gegeben, aber hol’s der Teufel. Ein sinnvolles Privatleben folgt keinen vorgezeichneten Mustern.

Betrunken war er wirklich nicht. Hatte lediglich ein paar Gläschen in einer Kneipe genommen, um die undefinierbare Angst zu verjagen.

Seine zweite gesetzlich angetraute, jetzt vogelfreie Ehefrau öffnete die Tür des Reihenhauses mit unverhohlener Verwunderung: »Glenn! Was machst du denn hier? Und die vielen Päckchen?!«

Er habe nur mal vorbeischauen wollen, sind die Kinder da? Nur ein bißchen reden und mit ihnen zusammensitzen ...

»Hast du denn vergessen? Ja, natürlich hast du das. Sie sind diese Woche im Ferienlager. Das war doch schon seit letztem Sommer geplant! Wie kannst du nur behaupten, dir etwas aus den Kindern zu machen, wenn du so was Wichtiges vergißt!«

Keine Chance, zu verhandeln oder auch nur eine Tasse Kaffee zu erhalten. Er lud die Päckchen auf sie ab und ging. Als hätte sie ihm unrecht getan. An irgendwem mußte er seine Wut schließlich auslassen.

Aber aufgeben galt nicht. Die nächste Station auf seinem Golgathagang war der erwachsene Sohn aus erster Ehe. Glenn kannte die Adresse und wußte ungefähr, was der Junge so trieb, doch es stimmte schon, seit dem letzten Mal war eine ganze Weile vergangen.

Als der Sohn nach ewigem Gebimmel endlich die Wohnungstür aufmachte, wirkte er nicht gerade begeistert.

»Vater? Was machst du denn hier? Ist was passiert?«

»Nicht, daß ich wüßte. Darf ich reinkommen?«

In Glenns Jackentasche steckte ein guter Duty-free-Cognac, denn der Sohn war schließlich erwachsen und würde seine Umsicht sicher zu schätzen wissen. Doch nichts dergleichen!

Hier gab es nicht mal die Chance einzutreten.

»Keine Zeit. Muß zum Training, verstehst du. Fängt in einer Viertelstunde an. Was willst du eigentlich?«

»Dachte nur, wir sollten irgendwie wieder Kontakt aufnehmen, bin ja trotz allem dein Vater, und ich ...«

Der Sohn unterbrach ihn: »Du! Red keinen Scheiß. Ich bin jetzt erwachsen und such mir die Leute aus, mit denen ich verkehre, und dazu gehörst du nicht. Wo bist du denn gewesen, damals, als ich Fußball gespielt habe und unsere Mannschaft aufgestiegen ist? In dem einen Jahr. Und dann im nächsten, als wir wieder abgestiegen sind? Daran erinnerst du dich nicht mal! Wo bist du gewesen, als ich einen ganzen Winter lang auf dem Dachboden Alleskleber geschnüffelt habe? Hattest keine Ahnung davon. Wo bist du all die Abende gewesen, wenn ich zu der heulenden Mutter nach Hause kam und sie mir gesagt hat, sie komme mit mir nicht klar? Der Junge wird schon, er geht nach mir, war dein einziger Kommentar, wenn du dich irgendwann mal, weiß der Teufel woher, gemeldet hast. Also mach, daß du wegkommst, und laß mich in Frieden.«

Er ging. Es reichte ihm. Begab sich in die erstbeste Kneipe. Versuchte bei einem Weib zu landen und blitzte natürlich ab. Logisch. Man beginnt nicht mit einem Griff an den Hintern.

Einigermaßen stabilisiert betrat er zwei Uhr nachts die Wohnung. Der Stapel Werbematerial war ansehnlich, doch der Kühlschrank war leer. Die Wohnung roch muffig. Eine zeitweilige Behausung, aber kein Zuhause. Nein, ein Zuhause besaß er nicht.

In jenem Augenblick hatte er eingesehen, daß er sich tief unten befand, auch dann, wenn er an Land war. Ja, vor allem dann. Und genau wie bei der Arbeit unter Wasser war er gezwungen gewesen, sein Gefühlsleben abzuschalten. Er mußte einfach weitermachen, egal wie es vor ihm auch aussah.

So stand es um sein Privatleben, und schuld daran, daß er aus dem Gleichgewicht geraten war, ist dieses Kind, das Ian irgendwo hat und das neben Papas sehr viel größeres Deep Seahorse ein kleines kindliches Logo geklebt hatte.

Glenn wirft sich die Tasche über die Schulter und packt Ians Arm. Auf der anderen Seite hält Bengt ihn mit festem Griff. Bengt schwankt ein wenig und lacht noch immer.

Ian geht bereitwillig mit in Richtung Ausgang, doch ist er müde, furchtbar müde. Ein paar Kommentare im Telegrammstil, mit komplizierter Syntax und Wörtern, die aus lauter Konsonanten bestehen, sind alles, was er zum Gespräch beisteuern kann, während sie vor der Paßkontrolle warten.

Als sie dann endlich im Freien stehen, schaut der Taxifahrer sie an, als seien sie Maffiosi. Sie lassen sich anstandslos mustern und werden schließlich akzeptiert, da sie den Eindruck erwecken, eventuelle Reinigungskosten bezahlen zu können.

Der Portier, der ihnen die Schlüssel aushändigt, hebt nicht einmal die Augenbrauen. Die Taucherfirma ist ein verläßlicher Kunde, dessen Personal sich häufig in einem bizarren Zustand befindet, er ist daran gewöhnt.

Ian versucht sich erneut zu orientieren, seine Augen rollen unkontrolliert hin und her. Die Arbeitskollegen schleppen ihn in den Fahrstuhl, wo er seinem Spiegelbild begegnet, das er freundlich grüßt.

Im Hotelzimmer legen sie ihn aufs Bett und ziehen ihm die Schuhe aus. Was können sie sonst noch für ihn tun? Irgendwelche Nachtbars kommen ja wohl nicht in Frage. Bengt zieht eine Tulpe aus dem Strauß auf dem Tisch, öffnet Ians Hosenstall und steckt die Blume hinein.

Die Tulpe schwingt leicht hin und her. Ian hat jetzt zu schnarchen angefangen. Glenn und Bengt schlagen sich vor Lachen auf die Schenkel.

Bengt stellt noch den Papierkorb an das Kopfende des Bettes.

Dann ziehen sie vorsichtig die Tür hinter sich zu und gehen.

Der Abend ist mild, das sich verändernde Licht der Nacht färbt den Himmel bereits in violetten Tönen. Aus dem Cobra Club sind Lärm und Musik zu hören.

Draußen auf dem Fjord glitzert eine Bohrinsel. Aus dieser Entfernung erinnert die Arbeit der Schweißer an ein fröhliches Feuerwerk. Funkenregen, die Lichtbogen und der Tanz des geschmolzenen Eisens über die Träger der Plattform lassen das seidig schimmernde Wasser blitzen und funkeln.

Glenn und Bengt haben im Restaurant gut zu Abend gegessen, beide fühlen sich in der Gesellschaft des anderen wohl. Jetzt wartet das süße Leben auf sie.

Der Einlasser heißt sie willkommen, und die Musik schlägt ihnen entgegen wie eine Wand. Die Sängerin lebt am Mikrofon ihr ganzes erotisches Register aus, die Luft ist rauchgeschwängert, und an der Bar hocken bereits eine Menge Leute. Glenn und Bengt quetschen sich zwischen sie und bestellen je ein Bier und einen Whisky.

Sie stoßen auf die bevorstehende Arbeit an und darauf, daß sie in einem Monat wieder hier sitzen, mit heiler Haut und um mindestens achtzigtausend Kronen reicher. Und es soll wirklich bei diesem einzigen Whisky bleiben, damit sie morgen auch tatsächlich an Bord gehen können, denn darin ist man genau, sehr genau.

Glenn betrachtet seinen jüngeren Kollegen. Könnte fast sein Sohn sein. Allerdings hätte der eigene Sohn ihn wohl kaum als Begleiter in die Tiefe akzeptiert. Nein, für den eigenen Sohn wäre er vermutlich nicht gut genug gewesen.

Doch dieser Bursche hier akzeptiert ihn ohne weiteres. Glenn hatte nur ein paar Orte erwähnt, ein paar Namen – überhaupt kein Problem! Und der Kollege hatte seine eigene kurze Karriere heruntergebetet, die völlig okay zu sein schien.

Sie plaudern über dieses und jenes, reden über Leute, die sie beide kennen. Der Tratsch ist das Fundament des gemeinsamen Ölgeschäfts. Sie trinken und entspannen sich. Sie sind es gewöhnt, immer einen Tag nach dem anderen zu leben, die Gegenwart ist alles, und der morgige Tag wird schon für sich selber sorgen. So pflegt es zu sein, so ist es immer gewesen. Glenns Herz schlägt bereits ruhiger, er ist wieder draußen, auf Arbeit – er ist ein Teil von etwas Größerem. Sie reden zwar über das bevorstehende Tauchen, über die Schiffsbesatzung und die Einsatzleitung, sprechen darüber, was sie dort unten zu tun haben und wie der Meeresboden aussieht. Doch dienen diese Minuten vor allem dazu, miteinander bekannt zu werden, Gemeinsamkeiten zu finden.

Die beiden bemerken nicht, daß sie einen Zuhörer haben. Eine junge Zuhörerin.

Sie hat ein Weilchen vor ihrem halbvollen Bierglas gesessen und dem Gespräch gelauscht. Sie ist ungeschminkt, trägt ihr dunkles Haar kurzgeschnitten und ist keine Frau, die das Interesse der Männer sofort auf sich zieht. Doch hat sie auffällige Augen, einen intensiven, forschenden Blick.

Sie fragt, ob die beiden Taucher wären. Glenn und Bengt verstummen sofort. Werfen sich einen Blick zu und mustern die junge Dame.

Vielleicht nicht besonders hübsch, aber auch nicht direkt häßlich. Spannender Blick, möglicherweise lustvoll? Und ein Körper weiter unten im Dunkeln, der hoffentlich das erfüllt, was der Ausschnitt verheißt.

Noch einmal sehen sie sich an, und Bengt bestätigt, ja sicher seien sie Taucher. Ganz klar, daß sie das sind. Vielleicht dürfe er sie zu irgendwas einladen?

Sie erwidert, daß sie wegen der Arbeit zeitig raus müsse, also möchte sie nichts mehr. Bei welcher Firma, sagten sie noch, würden sie tauchen?

Bengt schlägt »Black Russian« vor, das gefällt den Weibern sonst immer.

»Ach ja?« bemerkt die junge Frau nur. »Ich bin nicht verheiratet«, sagt Bengt und lacht.

Glenn hebt seine linke Hand und schwört, daß er ebenfalls unverheiratet sei. Möchte sie vielleicht lieber einen Dry Martini?

Sie beginnen zu plaudern. Die Frau ist nett und eine gute Zuhörerin. Und sie erzählen gern. Die Geschichten haben gleich viel mehr Schwung, wenn ein Außenstehender zuhört. Aber hier handelt es sich nicht nur um Schwung, sondern um ordentliches Wirbeln und heftiges Schlingern in alle Richtungen. So ist es nun einmal beim Geschichtenerzählen, und die Frau, die sich als Ingrid vorstellt, geht mit.

Nach ein paar Bier rückt Bengt näher an sie heran und erzählt ihr im Vertrauen, daß Taucher die besten Liebhaber seien.

Ingrid lacht überrascht und fragt, ob es Messungen gebe, wissenschaftliche Beweise für eine solche Behauptung.

»So was mißt man nicht«, flüstert Bengt und geht noch mehr auf Tuchfühlung, »so was muß man erleben. Divers do it deeper!«

Ingrid zuckt zurück. Glenn packt Bengt an der Schulter und zieht ihn weg, entschuldigt den Kollegen, er habe wohl zuviel getrunken. Doch er selbst sei ganz klar im Kopf. Er weiß, was er tut.

»Ach ja?« Ingrid lacht erneut. Glenn schaut sie verlangend an. Bengt schlägt mit dem Kopf auf den Tresen.

Vor dem Gebäude der Hubschrauberabfertigung auf dem Flughafen von Stavanger ist es grau und ungemütlich. Der Wind, der vom Meer weht, bringt einen flauen Geruch mit von vermoderndem Tang.

Flau fühlen sich auch Glenn und Bengt, als sie aus dem Taxi steigen und auf den Eingang zutrotten.

Vor ihnen läuft Ian mit federnden Schritten, heute ist er ausgeruht und frisch nach einer ungestörten Nacht im Hotel. Er war im ersten Morgengrauen aufgewacht, hatte eine Anzahl Kopfschmerztabletten und sämtliche Erfrischungsgetränke der Minibar geschluckt, hatte die Sachen ausgezogen und sich wieder ins Bett gelegt. Dann hatte er bis sechs Uhr früh geschlafen und anschließend erst heiß und dann immer kälter geduscht. Daraufhin hatte er sich im Frühstücksräum eine große Ei- und Schinkenmahlzeit einverleibt und war jetzt absolut in Form.

Ganz anders seine Arbeitskollegen. Bengt hat nicht einmal das Rasieren geschafft, Glenn hat sich in den Nasenflügel geschnitten. Auch er hat ein kräftiges Frühstück verspeist, denn er weiß, was auf sie wartet. Da heißt es, ordentlich Kohlenhydrate speichern.

An der Abfertigung steht der Vertreter der Firma, autoritär und korrekt. Sankt Petrus in Hemdsärmeln und mit einer Liste in der Hand.

Als er Glenn bemerkt, hellt sich sein Gesicht auf. Sie schütteln einander die Hand und wechseln ein paar Worte. Er begrüßt auch Ian und Bengt und schielt diskret auf die Liste.

Nach dem Einchecken gehen sie zur Sicherheitskontrolle. Der Firmenvertreter begleitet sie. Weder Messer, Schußwaffen, Whiskyflaschen oder irgendwelche Drogen befinden sich in ihrem Gepäck, und da der Metalldetektor mit seinem Schweigen verkündet, daß sie auch am Körper keine Waffen tragen, verzichten die Kontrolleure darauf, sie ins Röhrchen blasen zu lassen.

Nachdem alle Absperrungen passiert sind und sie in der Abflughalle stehen, schauen sie sich dort, etwas besser aufgelegt, um, denn der Ort hat seit dem letzten Mal eine Verschönerung erfahren. Wenn die Reisenden auf den Aufruf ihrer Flüge warten, können sie jetzt nicht nur Kaffee trinken und miteinander plaudern, auch Billard spielen kann man!

Der Firmenvertreter nimmt auf einer Bank Platz, und die drei Taucher begeben sich zur Ausgabe für die Schutzanzüge.

Die Prozedur nimmt einige Zeit in Anspruch. Als sie fertig sind und unterschrieben haben, ist der Firmenvertreter zu einem der drei Abfluggates weitergegangen, er weiß offenbar, wohin sie müssen. Für Billard ist dieses Mal anscheinend keine Zeit.

Sie stellen sich zu ihm vor den kleinen Glaskäfig mit den etwa zwanzig Stühlen, wo sie in Kürze das obligatorische Sicherheitsvideo ansehen werden.

Plötzlich steht ein weiterer Mann neben ihnen, schon fix und fertig im Schutzanzug! Er ist knochig und hager, etwa fünfundvierzig Jahre alt. Sein Gesicht ist ausdruckslos, und er hält ganz ruhig ihren Blicken stand.

Glenn reagiert sofort und für die anderen völlig unerwartet. »Was zum Teufel!« zischt er und tritt einen Schritt zurück, seine Augen blitzen. Ian und Bengt sehen sich rasch an. Will Glenn auf den Neuen losgehen?

Der Mann lächelt entwaffnend, nickt Glenn kurz zu und gibt den anderen die Hand. Ian und Bengt murmeln ihre Namen. Aber der Mann stellt sich nicht mit dem eigenen Namen vor. Seinen Taufnamen könnten sie vergessen, er ist es gewöhnt, Ego Boy genannt zu werden.

»Heißt du wie das Pferd?« lacht Bengt verblüfft.

»Ego Boy war nicht nur ein Pferd. Ego Boy hat den Naturgesetzen getrotzt«, antwortet dessen Namensvetter etwas lauter als zuvor.

Als er Glenn die Hand hinstreckt, wendet sich dieser ab. – Mehrere Sekunden vergehen.

Ian und Bengt warten, wissen nicht, was sie tun, wie sie reagieren sollen. Hier gibt es etwas, das sie nicht verstehen. Feindseligkeit liegt in der Luft.

Dann geht Glenn auf den Firmenvertreter zu und sagt, man könne ihn abschreiben, er komme nicht mit.

Dem Mann bleibt der Mund offenstehen. »Du bist doch wohl unter Vertrag?« fragt er töricht. Denn niemand steht auf der Liste, wenn er nicht genau das ist, unter Vertrag, und die Gepflogenheiten sind äußerst streng, ganz besonders im Hinblick auf eventuelle rechtliche Folgen, falls nämlich jemand aus irgendeinem Grund nicht zurückkehren sollte. Obwohl damit natürlich keiner rechnet. Niemals.

Trotzdem steht Glenn jetzt hier und will dieses feine Netzwerk zerreißen. Ein Unding.

»Der Flieger geht in einer Stunde«, antwortet der Mann. »Wenn du Probleme hast, mußt du mit der Tauchleitung auf der Deep Seahorse reden. Hier haben wir feste Regeln, ich mache nur meine Arbeit, und jetzt warten wir auf ...«, er läßt seinen Finger über die Liste gleiten und findet den Namen, »I. Larsen.«

Hinten an der Sicherheitskontrolle erscheint der fünfte Taucher, ebenfalls im Schutzanzug, die Tasche lässig über die Schulter geworfen.

Das Morgenlicht, das durch die hohen Kippfenster dringt, entstellt das Bild durch Sonnenreflexe. In der mit Staub gesättigten Luft durchkreuzen leuchtende Geraden die Halle und erzeugen ein merkwürdiges Gefühl von Unwirklichkeit. In diesem Dunst nähert sich ihnen der Taucher. Sein Weg durch die nicht sehr große Halle erfordert unendlich viel Zeit, dieser fremde junge Mann – wer ist das?

Blinzelnd sehen sie ihrem zukünftigen Arbeitskollegen entgegen. Was ist an ihm?

Vor ihren Augen verwandelt sich der kleingewachsene Bursche in eine junge Frau!

Plötzlich erkennen Bengt und Glenn sie wieder. Das ist doch das Mädel!? Das ist sie?!

Sie starren einander an und dann wieder die Frau, sie ist jetzt ganz nahe.

Ja! Sie ist es!

Sie tritt zu der Gruppe, um sich anzumelden: »Ingrid Larsen, Entschuldigung wegen der Verspätung, das Taxi ist falsch gefahren, direkt vor zum Flugplatz.«

Dann dreht sie sich zu Glenn und Bengt um: »Ja, hallo! Wie schön, euch wiederzusehen!«

Glenn und Bengt schauen einander an, ungläubig, ist das hier ein Traum?

Ingrid lächelt. Sie geht von einem zum anderen und gibt jedem rasch und energisch die Hand, keiner hat Zeit zum Zögern. Auch Ian drückt ihr die Hand, schaut aber weg. Sie klopft Glenn auf die Schulter und fragt Bengt, ob er einen Kater habe.

Nein, habe er nicht, überhaupt nicht! Warum hat sie nichts gesagt? Gestern!!

Sie macht eine unbestimmte Handbewegung, lächelt die beiden verschmitzt an und geht in Richtung Abfluggate.

Da stellt Ego Boy sich ihr in den Weg.

Die anderen erstarren.

Ingrid blickt ihm ins ausdruckslose Gesicht. Sie sagt nichts. Er sagt nichts. Sie wartet. Er wartet ebenfalls. Wartet wie die anderen, einige spannungsgeladene Sekunden.

Plötzlich stellt sich Glenn zwischen Ego Boy und Ingrid.

Die Männer fixieren einander. Glenn ist ein bißchen ausdauernder als Ego Boy. Ego Boy etwas jünger, etwas drahtiger.

Schließlich weicht Ego Boy zögernd zur Seite, und Glenn läßt Ingrid vorbei, die in die kleine Transithalle geht und dort als erste Platz nimmt.

Für den Bruchteil einer Sekunde ist in Ego Boys Gesicht Enttäuschung zu lesen. Dann zeichnet er ihren Hintern in die Luft. Rasch und amüsant. Glenn sieht es. Er kann nichts dagegen tun. Die wortlose Sprache ist immer die effektivste, und sie ist nie zum Schweigen zu bringen.

Glenn hält sich zurück. Er hatte Ingrid folgen und vor dem Video Platz nehmen wollen, doch will er sich Ego Boys pantomimischen Angriffen nicht aussetzen. Also bleibt er stehen, ohne dessen lautlose Großtuerei übertrumpfen zu können.

Ego Boy macht noch eine weitere obszöne Geste. Er knufft Bengt in die Seite, schlägt sich ein paarmal leicht auf die Hand – wollen wir wetten?

Bengt blickt siegessicher auf den bestimmt fünfzehn Jahre älteren Herausforderer und dann auf die Frau im Glaskäfig. Kein Problem.

Ian begreift, was sie meinen. »Und ihr glaubt, das geht?«

»Wieso, hältst du dagegen?« fragt Ego Boy, er bedient sich wieder der Sprache.

Glenn ist näher getreten. Ego Boy spürt Glenns leichte Atemzüge am Haaransatz, dennoch bleibt er stehen.

Ian sieht es. Aber Ian sieht ebenfalls, daß Glenn als Taucher langsam abbaut, und außerdem läßt Ian sich nichts befehlen, fügt sich nicht jedem. Also hebt er die Hand und sagt scherzend: »Ich bin verheiratet, würde niemals. Schon gar nicht mit einer Taucherin.«

Sie lachen gezwungen.

Glenn, der wortlos zugehört hat, zeigt jetzt höhnisch auf Ego Boy. »Genau davon hat er doch immer geträumt«, sagt er, »einen Taucher ranzunehmen.«

»Du bist wirklich nicht normal«, erwidert Ego Boy, »bist völlig gestört.«

Gestört fühlt er sich jedoch vor allem selbst, sein Blick ist unstet.

Gestört fühlen sich auch Bengt und Ian. Es macht Spaß, andere auf den Arm zu nehmen, doch muß der Ton herzlich bleiben, das hier geht so nicht länger. Je härter die Rempeleien, desto enger die Freundschaft – das ist doch selbstverständlich.

Hier aber ist von Freundschaft nichts zu spüren. Dennoch scheinen sich Glenn und Ego Boy nur allzu gut zu kennen.

Bengt und Ian wechseln einen vielsagenden Blick: In was für eine alte Scheiße sind wir hier hineingeraten?

Der Lärm im Hubschrauber ist ohrenbetäubend. Der Küstenstreifen ist hinter ihnen verschwunden, und unter ihnen breitet sich das mächtige weite Meer aus. Nur ein paar mückengroße Fischkutter unterbrechen die glitzernde Fläche, die am Horizont in milchweißen Dunst übergeht.

Glenn und Bengt sitzen nebeneinander, Ego Boy und Ian ebenfalls.

Ingrid sitzt allein. Der Lärm schirmt sie von den anderen ab. Brennende Fragen hängen unbeantwortet in der Luft.

Ingrid beugt sich vor und klopft Ian auf die Schulter. Der dreht sich widerstrebend um.

»Die Welt ist klein«, schreit sie, »wußte nicht, daß du zur ›Heidrun‹ willst.«

»Man kann nicht alles wissen«, schreit er zurück. Mit seiner Haltung gibt er zu verstehen, er gehe davon aus, daß sie mit dem Reden fertig ist.

Das ist sie nicht. »Wird interessant werden«, schreit sie, »findest du nicht?«

»Wahnsinnig interessant«, bestätigt er mit dem Ausdruck des Genervten, der deutlich zu erkennen gibt: Kann sie denn nicht begreifen, daß ich in Ruhe gelassen werden will?

Ingrid sinkt zurück. Draußen, unter ihnen, glitzert das Meer.

Ego Boy dreht sich um und sieht sie an; sie merkt es nicht. Mit einem »Aha?« wendet er sich an Ian.

Doch Ian gibt keine Antwort. Stellt sich, als verstehe er die überdeutliche, unausgesprochene Frage nicht. Gähnt. Alle gähnen. Jetzt geht es nach unten.

Wie ein winziges Spielzeug erscheint die Bohrinsel mit ihrer Wohnplattform weit vor ihnen. Dicht daneben liegt das Taucherschiff. Der Hubschrauberlandeplatz ist als grüner Punkt zu erkennen.

Als die Männer über das riesige Trossennetz laufen, bläst ein heftiger Wind.

Ingrid verläßt den Hubschrauber als letzte, und Glenn streckt ihr hilfsbereit die Hand entgegen. Sie nimmt sie und springt hinaus, und gemeinsam eilen sie zum Niedergang, in dessen Windschutz Glenn sie am Ellbogen faßt.

»Du hast gestern offenbar ein paar richtige Don Juans getroffen«, beginnt er verlegen.

Ingrid nickt lächelnd, so ist es wohl gewesen.

»Vergiß es!« bittet er.

Ingrid nickt und wird ernst. Sie mag Glenn. Sie mochte ihn schon gestern abend, trotz seiner vom Alkohol leicht aufgelösten Züge. Die heutige Version ist nicht schlechter.

Was den Rest angeht, so muß sie sich wohl einen nach dem anderen vornehmen. Sie ist der Ansicht, daß Männer an einer altmodischen Krankheit leiden, die man aber heilen kann. Sie selbst muß nur konsequent genug sein, dann wird sich die Sache von selbst erledigen. Das Ganze ist nicht ihr Problem. Sie ist hier, um eine Arbeit zu machen, um damit einen Fuß in der Tür zu haben, weiterzukommen. Die Beweggründe der anderen können bedeutend komplizierter sein, das weiß sie. Das Problem ist nur, daß die Männer es selbst nicht wissen.

Sie lächelt Glenn freundlich zu. »Du warst nicht unangenehm«, sagt sie, »hast dich selbst eingebracht, ich habe mich amüsiert und gelacht. Man muß lachen dürfen. Die Welt schreit nach Humor!«

»Schade, daß ich in nüchternem Zustand nicht genauso witzig bin«, sagt Glenn seufzend, »sonst könnte ich mich zum Alleinunterhalter umschulen lassen. Bin schließlich ziemlich gut darin, in der Kneipe Bödsinn zu quatschen.«

Ein Weilchen später schlendert das ganze Team einen Niedergang hinunter. Sie haben ihre Schutzanzüge abgegeben und das Gepäck geholt. Ingrid geht als vorletzte.

Zwei Mechaniker kommen ihnen entgegen. Als sie dieselbe Stufe wie Ingrid erreicht haben, drängeln sie mehr als notwendig.

»Diese ständigen Neuerungen«, sagt der eine auf norwegisch. »Offenbar soll man jetzt vorn auch noch Stoßdämpfer tragen!«

Sie lachen begeistert. Ingrid lacht ebenfalls. »Dann laßt euch mal Silikon einsetzen«, erwidert sie.

Die beiden bleiben die Antwort schuldig und steigen wortlos weiter nach oben.

Im selben Moment wird Ingrid von Bengt eingeholt. Er legt ihr den Arm um die Schulter. Sie schaut erst fragend auf seine Hand und dann zu ihm. Er lächelt siegessicher und drückt sie an sich. »Ein flottes, hübsches Mädel wie du«, sagt er, »hast du daran gedacht, daß wir wochenlang so eng zusammenleben werden?«

Eine ärgerliche Falte bildet sich zwischen ihren Augenbrauen, doch Bengt bemerkt sie nicht. »Wieso«, fragt sie, »hast du die Absicht, in meiner Koje zu schlafen?«

»Gern«, antwortet er. »Wenn du auch drin liegst.«

»Wollen wir es gleich hier machen? Auf der Treppe?« fragt sie sachlich.

Bengt verliert die Fassung und bleibt stehen, während sie weitergeht. Immer wieder fährt er sich mit den Fingern durch die Haare.

Er braucht ein Weilchen, um seinen Federputz und die Gesichtszüge zu ordnen, und beschließt, dann gleich ein oder zwei Verehrerinnen anzurufen. Komisch, daß ihm das nicht schon eher eingefallen ist. Es gibt schließlich noch normale Frauen, die sanft und gefügig sind. Es gibt Frauen, die ihn zu schätzen wissen, die eine Menge dafür tun würden, wenn sie mit ihm eine Nacht in der Koje verbringen dürften. Übrigens sind die meisten Frauen so, und nicht wie diese hier!

In der geräumigen Kajüte des Tauchinspektors hängt dichter Zigarettenrauch. Er sitzt hinter seinem Schreibtisch, ein Kraftmensch, der Autorität und Kompetenz ausstrahlt. Sein grauer Bart ist ebenso gepflegt wie das kurzgeschnittene, widerspenstige Haar. Um ihn herum stehen Ego Boy, Bengt und Ian. Glenn sitzt auf einem Stuhl und Ingrid auf einem anderen neben der Tür. Ego Boy, Bengt und Ian sind aufgebracht; der Tauchinspektor starrt sie grimmig an.

Bei ihm liege die Leitung des Tauchgangs, und auch die Verantwortung trage er, die ganze Verantwortung, und wenn sie nur das Ihre tun, wird er sich schon darum kümmern, daß der Rest ebenfalls in Ordnung geht.

Das könne er ja leicht sagen, schließlich sitze er oben in Sicherheit. Sie selbst sind es doch, verdammt noch mal, die hier die Verantwortung hätten! Es sei Wahnsinn, Ingrid mitmachen zu lassen, ob er das denn nicht begreife, wettert Ian.

»Reiner Wahnsinn«, legt Ego Boy noch drauf, »sie soll mich in voller Ausrüstung in die Glocke ziehen. Wenn man nur mal diesen Punkt bedenkt! Schafft sie das denn?! Kannst du garantieren, daß sie es wirklich schafft?!«

»Sie hat eindeutige Papiere«, kontert der Chef.

»Ach ja, und was ist das für eine Größe, die sie ausgestellt hat«, fragt Bengt leise. Er hat die Niederlage auf der Treppe noch nicht verdaut.

Der Chef sagt kein Wort, sieht nur Ian an. Die anderen folgen seinem Blick. Ian versucht wegzuschauen, aber es gelingt ihm nicht.

»Mein Gott«, stößt er hervor, »selbst in meiner wildesten Phantasie habe ich mir nicht vorstellen können, daß sie die wirklich benutzt! Daß man sie läßt! Sie hat alle Tests geschafft! Ich habe gedacht, es sei nur ein Gag!«

Der Tauchinspektor lächelt grimmig: »Du hast keinen Fehler gemacht. Er hat die Lizenz, ist Taucherausbilder«, sagt er erklärend zu den anderen. »Ian hat seinen festen Job an der Taucherschule in Aberdeen aufgegeben, um bei diesem Einsatz dabeizusein. Fühlt euch geehrt! Und einer der letzten Adepten, die er geprüft hat, ist – Ingrid Larsen gewesen!«

Die anderen sehen Ian ungläubig an.

»Wie konntest du nur?« entfährt es Ego Boy.

Ingrid verschwindet diskret aus der Kajüte.

»Sie hat genau die Kompetenz, die wir brauchen«, erklärt der Tauchinspektor gelassen. »Es gab sonst niemanden! Und dieser rätselhafte Ölschwund, mal hier, dann wieder da, ist wirklich eine akute Sache. Die Konzernbosse gehen auf die Palme, wenn die Gewinne weiter so sinken und damit das Vertrauen und folglich auch der Aktienkurs. Die Experten glauben, es liegt an der Legierung der Rohre. Das muß an Ort und Stelle geprüft werden. Sie ist Metallurgin, und sie ist Taucherin. Sie kann uns die Antwort beschaffen.«

In der Toilette beugt sich Ingrid über das Waschbekken. Der Hahn ist aufgedreht, und sie schwappt sich immer wieder Wasser ins Gesicht. Weint sie?

Als sie in den Spiegel sieht, sind ihre Augen klar. Sie mustert sich eingehend. Richtet sich auf, ihr Gesicht in dem kunstlosen Spiegelrahmen wird immer entschlossener.

Was hatte sie erwartet? Daß man sie mit Pauken und Trompeten empfangen würde? Sie ist hier, um eine Arbeit zu tun. Vermutlich hat sie mehr drauf als andere, die hier neu anfangen. Es gibt nichts, wofür sie sich schämen muß, im Gegenteil, sie hat alle Prüfungen bestanden, ist qualifiziert, was will man noch von ihr?

Ganz einfach, daß sie nicht existiert.

Ist das nicht ein bißchen viel verlangt?

Der Tauchinspektor marschiert predigend in der Kajüte auf und ab. Sicher sei die Sache freiwillig, wäre ja auch noch schöner. Er gehe davon aus, daß derjenige, der von Revolte sprach, Probleme mit der Sprache habe, was sehr wohl der Fall sein könne, wenn man so länderübergreifend wie hier arbeitet.

Er bleibt vor Ego Boy stehen. Der erwidert wütend seinen Blick. Auch Ian schaut den Chef trotzig an und denkt: Klar hat sie die Lizenz bei mir gemacht, aber, verdammt noch mal, es ist nicht meine Schuld, daß sie jetzt allen Ernstes mit nach unten soll. Die Verantwortung dafür hat die Einsatzleitung.

Der Tauchinspektor wippt auf den Füßen und spricht mit Nachdruck. Es sei, wie gesagt, freiwillig. Für beide Seiten, oder?

Verstehen sie, was er sagt? Für beide Seiten, also!

Sie verstehen nur zu gut und senken langsam und widerstrebend den Blick.

»Für beide Seiten.« Die Firma feuert sie für den Rest ihres Lebens, wenn sie hier nicht mitmachen.

Als Ingrid zurückkommt, völlig unberührt, doch mit feuchtem Haaransatz, macht der Tauchinspektor eine übertrieben freundliche Geste und sagt: »Willkommen im Team. Wir haben uns ausgesprochen, und jetzt sind alle Mißverständnisse ausgeräumt. Die Jungs hier freuen sich über die Möglichkeit, gerade mit dir tauchen zu können.«

Eine Stunde später beugen sich zwei Männer eifrig über Ingrids Schulter. Sie sind in den Dreißigern. Ingrid sitzt im Kontrollraum vor ihrem Laptop, wo sie gemeinsam den Verlauf der Rohre studieren, die nach und nach auf dem Bildschirm erscheinen. In zwei kleineren Fenstern ist das Rohrgut in verschiedenen Vergrößerungen zu sehen.

Sie sprechen von Krümmungen und Ermüdungspunkten, vom Druck und dem Fluß von Gas und Öl. Ingrid ist in ihrem Element, und die Einsatzleiter sind ihre Eleven. Je mehr die beiden vor dem Einsatz wissen und begreifen, desto leichter wird Ingrid an der Pipeline unten die Hilfe bekommen, die sie von oben braucht.

Oddvar, einer der Einsatzleiter, ist Norweger, er ist untersetzt und kräftig. Seine vier Jahre als Sättigungstaucher garantieren ihr unschätzbare Erfahrungen in diesem Job. Aus ihrer Sicht ist seine Kompetenz mehr wert als alle hochgradigen akademischen Studien. Praktische Erfahrungen sind zuweilen so subtil, daß sie sich kaum in Worte fassen lassen. Das komplexe Zusammenwirken von Strömungen, Druck, Temperatur, Gasgemischen, physischen und elektrolytischen Kräften und Spannungen kann nie in einer Gesamtformel mathematischer oder sprachlicher Termini ausgedrückt werden. Man muß es erlebt haben. Und nicht nur einmal, sondern viele, viele Male.

Oddvar verfügt über dieses Wissen. Außerdem macht er einen nahezu bedächtigen Eindruck trotz seiner dunklen Augen und sinnlichen Lippen. Sein Blick ist ruhig, keine Spur von Hahnenkampfkomplex. Ein breiter Trauring und eine bunte handgestrickte Weste berichten vom übrigen Teil seines Lebens, von dem, was nicht mit Wasser, Gas, Fluß, Öl und Druck zu tun hat.

Tom ist Engländer. Er ist etwas jünger und lebhafter, hat muntere braune Augen und schulterlanges Haar. Der frisch angelegte Bart ist sorgfältig gepflegt, und er trägt Hosenträger zum Schlips, vermutlich als ironischen Schlenker und Kontrast zur anarchistischen Mähne.

Auch Tom hat lange Zeit als Sättigungstaucher verbracht. Mit einem Gasgemisch im Körper, das nicht Luft ist, hat er zwei Jahre in Druckkammern wechselnder Taucherschiffe, in unterschiedlicher Tiefe und in enger körperlicher Nähe zu anderen Berufskollegen gelebt.

Ingrid ist zufrieden. Bessere Einsatzleiter kann sie sich nicht wünschen, und deren neugierige Fragen zu ihrem eigenen Fachgebiet bestätigen, daß die beiden nicht auf den Kopf gefallen sind.

Tom und Oddvar haben sie auch bei den beiden ROV-Operatoren eingeführt, die Unterwasserroboter per Joystick von einem separaten Kontrollraum aus lenken. Nach den Unterwasserszenen im Titanic-Film ist ihr Ansehen gestiegen, was man an ihrer protzigen Art merkt. Obwohl sie versucht haben, Ingrid zu beeindrucken, ist es ihnen jedoch nicht gelungen. Sie steht unbeirrbar auf seiten der Taucher, und das Spiel der ROV-Operatoren mit ihren Reglern imponiert ihr nicht. Denn es ist, als würde ein Modellflugzeugfan seine Spielzeugflieger manövrieren. Geht etwas schief, ist es trotz allem nur ein totes Ding – wenn auch ein teures –, das verlorengeht.

Momentan sind beide ROV-Fahrzeuge außer Betrieb. Die Elektronik ist empfindlich, und Reparaturen sind eher die Regel als die Ausnahme. Ihr eigener Tauchgang wird davon jedoch nicht berührt.

Trotzdem beunruhigt es sie ein wenig, daß die beiden Operatoren schon über eine Woche auf Reservekomponenten warten. An Bord befindet sich außerdem nur eine funktionierende Taucherglocke, die andere ist wegen der noch ausstehenden Klassifikation nicht einsatzbereit!

Deep Seahorse scheint nicht gerade die optimalste Taucherfirma zu sein, erwischt offenbar nur Jobs, die am Rande abfallen. Die Firma hatte sich nach England wenden müssen, um die Genehmigung zu erhalten, mit nur einer Taucherglocke zu arbeiten. Das ist wohl auch der Grund gewesen, weshalb ich selbst eine Chance bekommen habe, denkt Ingrid. Zweite Wahl, das eine wie das andere.

Alles kann nicht perfekt sein, überlegt sie dann, früher tauchten die Leute in umgedrehten Blechtonnen! Heutzutage werden Taucher zwar immer noch wie Arbeiter zweiter Klasse behandelt – verglichen mit Hubschrauberpiloten zum Beispiel –, die Sicherheit aber läßt nichts zu wünschen übrig, und außerdem müssen wir froh sein, daß man uns nach wie vor braucht, daß sich die ROV-Technik, verglichen mit den Fähigkeiten des Menschen, noch immer in einem Frühstadium befindet.

Die Rohre erstrecken sich in stilisierter Form über den Bildschirm. Bald wird sie deren Verlauf direkt vor sich sehen. Kein Roboter der Welt kann sie dort ersetzen.

Noch jemand beugt sich über den Monitor. Es ist Glenn. Tom läßt einen Ausruf der Überraschung hören und stürzt sich auf ihn. »Ach, hier machst du die Gegend unsicher«, knurrt er und versucht Glenn niederzuringen. Sie boxen sich lachend.

Als sie sich beruhigt haben, gibt Glenn auch Oddvar die Hand. »Ich bin mit Tom im Südchinesischen Meer getaucht«, erklärt er.

»Unsere zahmen Seebarsche warten wohl noch immer an der Pipeline«, sagt Tom.

»Das waren Zeiten«, erwidert Glenn. »Was für Gewässer!«

Das fröhliche Wiedersehen der beiden Männer bringt auch Ingrid und Oddvar zum Lächeln. Bald haben sie sich jedoch wieder in die farbige isometrische Zeichnung auf dem Bildschirm vertieft.

In Gedanken versunken, geht Ingrid ein Weilchen später durch das Schiff. Die auf sie wartenden Arbeitsaufgaben nehmen sie immer mehr gefangen, und sie will möglichst schnell in hundertachtzig Meter Tiefe kommen, um die Rohre selbst zu inspizieren.

Ingrid ist eine bodenständige Person. Sie hätte sich nicht im geringsten um die Auswirkungen der Geschlechterfrage geschert, wenn sie sich nicht hier in dieses Milieu hätte begeben müssen, um ihre Arbeit zu tun. Sie ist Technikerin. Ihr Leben besteht aus dem wunderbaren Sichtbarmachen von Strukturen mit Hilfe des Elektronenmikroskops. Sie sieht ein Universum, das kein Mensch je betreten kann, in dem massives Eisen nur aus Elektronen besteht, die um Atomkerne schweben. Um die humanistischen Disziplinen können sich andere kümmern. Für Philosophie, Soziologie und Psychologie hat sie nur leise Verachtung übrig. Zuviel Wust lautet ihre eigene – zugegebenermaßen oberflächliche – Diagnose. Glauben kann man ja, aber die Wissenschaft sollte wissen. Chemische oder mechanische Prozesse sollten stets aufs neue mit gleichwertigem Resultat durchgeführt und studiert werden können, unabhängig von jeder Glaubensauffassung. Wo gibt es entsprechende strenge Forderungen in den Geisteswissenschaften? Mit ihren Studienfreunden hatte sie zu diesem Thema viele erfrischende Diskussionen geführt. Sie ist im Besitz schwerwiegender Argumente, und es ist leicht, mit der Forderung nach Beweisen und Exaktheit andere auf die Palme zu bringen. Man hat sie alles mögliche geschimpft, und sie hatte im stillen triumphiert, wenn es ihr geglückt war, die selbsternannten Seelenexperten in dunkle Ecken zu treiben, wo zum Schluß nur Aberglauben, Schmähungen und Fundamentalismus übriggeblieben waren.

Unter dem Arm trägt sie ihren Laptop. Der ist ihr in jeder Beziehung bester Arbeitskollege. Die Luft ist geschwängert von Eisenstaub, vom Geruch nach Öl und Acetylen, auch ein schwacher organischer Geruch ist zu spüren, vielleicht von Essen, Kohlendioxyd und Ausdünstungen, kaum wahrnehmbar. Sie mag diese Umgebung.

Sie wird sich hier durchbeißen.

Ingrid betritt den Raum am Moonpool. Das sanfte Licht vom Skylight ganz oben läßt geheimnisvolle Schatten entstehen. Der Moonpool, Geburtskanal des Schiffes in die Tiefe hinunter. Das Loch in der Mitte des Schiffes, durch das man sie später in der sphärischen Taucherglocke hinablassen wird, weit, weit unter die Tageslichtgrenze, vom Schiff aus nicht mehr zu sehen, doch mit diesem verbunden durch Stahltrossen und den Umbilical, die Nabelschnur, die warmes Wasser und Atemgas transportiert, damit sie in einem Element und in einer Tiefe überleben kann, für die der Mensch nicht geschaffen ist. Der Mensch, der nie das tut, was die Schöpfung will.

Als sie sich über den Schacht beugt, stellt sie fest, daß das schwarze Wasserauge des Schiffes mit einer Abdeckung verschlossen ist. In den Stahltrossen der Laufkatze hoch über ihr hängt auch noch keine Taucherglocke.

Ingrid sieht sie ein Stück entfernt im Dunkeln stehen. Die kleinen Bullaugen sind erleuchtet, und Reservegasflaschen umspannen den runden Bauch wie ein Patronengurt.

Noch ist die Taucherglocke an die Druckkammer angekoppelt – jene Wohnstätte, die in ein paar Stunden die ihre sein wird. Die gesamte Ausrüstung ist im Ruhezustand. Wartet im Geräusch der leise zischenden Ventile und der auf niedriger Drehzahl laufenden Schiffsmotoren.

Völlig überraschend tritt Ego Boy aus dem Schatten!

Hat sie laut mit sich selbst gesprochen? Sie hat doch gedacht, sie ist allein! Der Gockel Nummer eins ist hier. Hat er vor, ihr den Garaus zu machen?

Ego Boys Augen funkeln. Er lächelt. Sein Lächeln steht im Gegensatz zu der starren Haltung und den über der Brust gekreuzten Armen.

»Bevor dieser Einsatz hier vorbei ist, habe ich dich gebumst«, sagt er ruhig, fast flüsternd.

Zwei Sekunden, im Takt mit dem ohrenbetäubenden Schlagen ihres Herzens.

»Bevor dieser Einsatz vorbei ist, hast du dir in die Hosen geschissen«, antwortet sie dann laut und deutlich.

Woher hat sie nur diese Einfälle? Ihr ist, als würde sich ein fiktives Publikum von den Plätzen erheben und applaudieren.

Ein paar Sekunden lang starrt sie in sein schockiertes Gesicht. Dann geht sie mit festem Schritt, wobei ihr der Laptop gegen den Schenkel schlägt, aus dem Raum.

Eine Stunde später sind alle im Kontrollraum vor der Druckkammer versammelt.

Das große Steuerpult ist übersät mit Druckmessern, Monitoren, Reglern verschiedenster Fabrikate und Ausführung, es gibt Kontrollampen, Magnetophone, Lautsprecher, Mikrofone, Schalter und Stimmentzerrer, welche die Worte der Taucher in der Druckphase verständlich machen. In dem leichtflüchtigen Heliumgemisch bewegen sich die Schallwellen nämlich viel rascher als in Luft.

Die Taucher lernen die Kammeroperatoren kennen – ihre Mütter und Ammen –, die sie am Leben und während der Ruhepausen in der Druckkammer bei Laune halten sollen, also in jenen Momenten, wo sie nicht auf dem Meeresgrund arbeiten und von den Einsatzleitern im oberen Kontrollraum geführt werden.

Harald und Charles bieten Kaffee in kleinen weißen Plastikbechern an. Eine Dose Kekse macht die Runde. Sie haben soeben eine medizinische Untersuchung der Taucher vorgenommen, haben Lymphknoten abgetastet, den Puls gemessen, nach eventuellen Zahnproblemen gefragt, und jetzt bleibt ihnen nur noch ein Stündchen entspanntes Beisammensein, bevor die Taucher sie beide verlassen. Bald wird es sein, als befänden sie sich in verschiedenen Welten, obwohl nur eine Stahlhaut sie trennt. Ja, die Taucher werden einen Stahlballon besteigen, und Harald und Bengt werden den Druck im Inneren mit Hilfe der Kompressoren langsam erhöhen. Alles geschieht freiwillig, alles mit dem Ziel, die Naturkräfte zu überlisten, und alles basiert auf einem unausgesprochenen Übereinkommen. Die beiden Kammeroperatoren sind sich ihrer gewaltigen Verantwortung sehr wohl bewußt.

Die Stimmung im Kontrollraum ist anscheinend gut. Alle plaudern mit allen, es ist, als sei man auf einer Cocktailparty in einer Elektronikwerkstatt. Zwar steht Ingrid mit dem Rücken zu Ego Boy und Ego Boy mit dem Rücken zu Glenn, doch niemand bemerkt es oder läßt es sich anmerken. Wie zufällig kommt es auch nicht zum Gespräch zwischen Ian und Ingrid. Er ist wohl der Meinung, daß sie im Trainingscenter von Aberdeen schon alles beredet haben. Wegen ihr hatte er ganze fünfunddreißig Pfund auf der Heizung trocknen müssen! Ian steht verkrampft bei den anderen. Er hat nichts vergessen.

Ingrid sieht ein paarmal zu ihm hin. Sie hatte ihn als Ausbilder gemocht, er war verläßlich und machte keine Unterschiede. Weshalb er jetzt hier ist, kann sie nicht verstehen, er hat doch zu Hause in Schottland Frau und Kind. Sie lächelt, als sie an den Abschlußtag denkt. Wie sie ihm im Trainingsbecken aufgelauert und ihn mit Schlips, Jackett und allem übrigen ins Wasser gezogen hatte. Das ist es wohl, was er nicht vergessen und verzeihen kann. Seine Miene war köstlich, und der ganze Kurs amüsierte sich. Er hatte sie alle mächtig getriezt. Er hatte es verdient. Die Leute standen am Bassinrand, schrien und klatschten. Wie ein nasser Kater war er wieder aufgetaucht, der Schlips klebte ihm im Gesicht. Angst hatte er auch bekommen, weil er ordentlich Wasser geschluckt hatte.

»Was ist denn so lustig?« Harald pufft sie in die Seite. »Es ist Zeit für die Reise, meine Schöne.«

Sie stellt den Kaffeebecher ab und schaut sich abwartend um. Ian mit dem Rücken zu ihr wie zuvor. Bengt ist in ein Gespräch mit Charles vertieft. Glenn zwinkert ihr jedoch lächelnd zu, und Ego Boy erwidert ernst ihren Blick. Was will er damit sagen? Hat er sich besonnen, oder ist er immer noch wütend?

Die Luke am Giebel der Druckkammer steht offen. Das Innere ist hellerleuchtet, und frischbezogene Kojen sind in dem zu sehen, was eigentlich nur ein normaler Drucktank ist, jedoch ist er verstärkt, mit Möbeln ausgestattet und außen mit Leitungen, Ventilen und Ausschleusungsanordnungen versehen.

Plötzlich erscheint der Tauchinspektor. Wie ein schwarzes Loch zieht er sofort alle Energie auf sich, obwohl er einfach nur im Raum steht. Es wird still.

Er ist gekommen, um ihnen Hals- und Beinbruch zu wünschen. Auch wenn es sich um eine ziemlich einfache Inspektion und eventuelle Reparatur handelt, ist die Tiefe doch erheblich. Die Jahre hier draußen haben ihm Respekt vor der Kraft des Wassers, um nicht zu sagen vor dessen Intelligenz, eingeflößt. Er wünscht ihnen eine gute Tour und sagt: »Paßt auf euch auf dort unten!«

Sobald er verschwunden ist, setzen sie sich in Bewegung. Ingrid wirft ihre Tasche durch die Luke und steigt selbst hinterher.

In dem Moment, als ihr Hintern noch aus der Öffnung ragt, dreht sie sich blitzschnell um. Hat ausgerechnet Bengt am Haken.

»Wollen wir? Jetzt gleich?« fragt sie laut.

Bengt sieht ertappt aus, zuckt zurück, als hätte sie ihn schlagen wollen. Charles, der neben der Luke steht, lacht verblüfft.

Bengt verzieht sich nach hinten. Ego Boy merkt nichts von dem Vorfall, steigt als nächster hinein, dicht gefolgt von Glenn und Ian. Zuletzt klettert Bengt, übermäßig wachsam, in die Druckkammer, worauf Charles die Luke von außen verschließt.

Das Metall gibt keinen Ton von sich, doch die Dichtungen ächzen, als Bengt die Innenklappe verriegelt.

Dicht.

Alles ist dicht. In der engen, hellerleuchteten Kammer riecht es schwach nach Reinigungsmitteln. Ingrid hat sich auf eine der unteren Kojen gesetzt, die Koje über ihr ist frei. Gegenüber sitzt Glenn, und auf dem Bett über ihm hat Ian sich schon ausgestreckt.

In der Mitte der Kammer führt eine Wandleiter zu einem Loch in der Decke. Dort oben ist die Naßzelle mit Toilette und Dusche, und von da geht es zur jetzt angeschlossenen Taucherglocke.

Der Leiter direkt gegenüber befinden sich ein Klapptisch und ein paar herunterklappbare Bänke.

In der unteren Koje an der Wand hinten wälzt sich Ego Boy mit einer Menge obskurer Lektüre, und auf dem Bett über ihm stehen die Taschen der Taucher mit Kleidungsstücken, Büchern und Kosmetikartikeln, die nicht sofort benötigt werden.

Bengt bleibt nur eine Möglichkeit, aber er ist voller böser Ahnungen. Und tatsächlich: gleich als er die Hand auf die freie Koje legt, schlägt Ingrid zu: »Ach du bist es, der bei mir obendrauf liegen wird?«

»Es ist doch keine andere frei«, verteidigt sich Bengt.

Während Ingrid über eine Antwort nachdenkt, werden ihre Augen schmal, schließlich hat sie es: »Wollen wir versuchen, ob man’s bei hundertachtzig Meter Tiefe machen kann? Divers do it deeper, you know!«

Bengt blickt sich unruhig um. »Wenn das nun jemand ernst nimmt«, zischt er. »Verdammt, du bist wirklich mehr als gefährlich.«

Er springt rasch in seine Koje, ohne die ihre zu berühren. Als sei sie ein Nachtgespenst, das unter seinem Bett lauert.

»Ich will ernst genommen werden«, antwortet sie laut, und die anderen horchen auf. »Denn jetzt kann man nicht mehr weg. Sollte es irgendeinem gelingen, die Luke zu öffnen, würde man wie der Blitz nach draußen fahren und als schmierige Wanddekoration auf dem Schott gegenüber enden. Nicht sehr kleidsam.«

»Die Druckphase hat noch nicht begonnen. Und im übrigen sind solche Katastrophen schon Geschichte«, antwortet Bengt und streckt sich bequem aus.

»Ja. Die einzigen Katastrophen, die es heute noch gibt, sind solche, wie ich es bin«, erwidert Ingrid.

Sie denkt, ihm damit genug übergezogen zu haben. Rein körperlich ist er der Größte hier, außerdem durchtrainiert und ein richtiger Charmeur, auch auf sie hat er durchaus Eindruck gemacht. Er ist der Gefährlichste von allen, weil er hinter den Linien operieren kann. Deshalb hat sie ihn auch zuerst außer Gefecht gesetzt.

Es ist wichtig, sich eine freie Zone zu erkämpfen. Eine Sphäre, in der man sich sicher fühlen und auf seine Arbeit konzentrieren kann. Mehr verlangt sie nicht. Sie will einen guten Job machen dürfen, ohne von frustrierten Gockeln, alle mit anderen Verhaltensstörungen, behindert zu werden.

Jegliche Aktivität verebbt, nur eine Stimme aus dem Lautsprecher durchbricht jetzt die gedrückte Atmosphäre. Harald fragt, ob sie sich wohl fühlen und ob sie ihn hören können?

Ja, sicher hören sie ihn, und er soll ihnen jetzt Bars geben, jede Menge Bars! »Fang an!« ruft Ego Boy.

Ein diskretes Zischen verkündet, daß der Wechsel von Luft zu Gas begonnen hat.

Ingrid legt sich bequem hin: sie sind unterwegs. In einer halben Stunde werden sie wie die Ducks in einem Disney-Film anzuhören sein, und ein paar Stunden später wird man sogar dieses Quaken schwer verstehen. Den Leuten draußen im Kontrollraum erleichtert ein Stimmentzerrer die Arbeit.

Kein Zurück? Ist es das, was sie will?

Ja. In Gedanken beschäftigt sie sich schon mit einer Rohrverzweigung dort unten.

Zwei Stunden später sitzen alle um den Klapptisch. Platten mit Hähnchenschenkeln und indonesischem Gemüsereis, mit Soße und Brot werden herumgereicht. Alles ist rasch aufgegessen. Nur Ingrid scheint keinen Appetit zu haben.

»Iß!« befiehlt Glenn. »Das gehört zum Job. Essen ist ein Teil der Arbeit, sonst hast du keine Kraft.«

Aber Ingrid ist satt. Ihr macht die Druckveränderung zu schaffen, außerdem verschwinden Geschmack und Geruch in dem flüchtigen Umfeld. Sie begreift nicht, wie die anderen sich so vollstopfen können.

»Wenn man in einer Schicht achttausend Kalorien verbrennt, hat man keine Wahl«, sagt Ian, »habe ich dir das nicht beigebracht!«

»Im Ekofisk-Feld bin ich ohne besondere Kalorienvorgaben getaucht«, erklärt sie scharf.

Ian schnaubt verächtlich. Von diesem Tauchen habe man ja gehört. Sie und ein paar bläßliche Forscher, nicht wahr? Die reinste Luxustaucherei, keine Schichtarbeit und außerdem gerade halb so tief, das könne man nicht vergleichen. Er begreife nicht, was die dort oben sich dabei gedacht haben, Ingrid mit hierher zu lassen!

»Hat es für dich kein erstes Mal gegeben?« fragt sie. »Bist du immer gleich hundertachtzig Meter getaucht?«

Ian sucht nach einer Antwort, doch Glenn kommt ihm zuvor und fragt, ob er Angst habe.

Angst? Wovor sollte er Angst haben? Sie ist ein Risikofaktor, das stimmt schon, aber wenn er Angst hätte, würde er ja wohl nicht mitmachen, oder? Weshalb sollte er sich der Sache dann aussetzen?

Weil er vor etwas noch Gefährlicherem fliehen müsse, antwortet Glenn.

Und das ist?

Das Leben an Land. Normale Luft. Die täglichen Anforderungen, die großen und kleinen, für die es selten eine Medaille oder auch nur eine rote Kokarde gibt.

Ian schnaubt erneut voller Verachtung. Medaillen bekommt man hier ebenfalls nicht. Aber schuften muß man und Risiken eingehen. Doch er klage nicht, und es stimmt, daß sie ein Taucherzertifikat mit seiner Unterschrift hat. Keiner soll kommen und behaupten, er sei feige und wolle vor etwas fliehen. Er stehe zu seiner Verantwortung, das ist alles.

»Hier gibt es keine Risiken«, sagt Glenn. »Wir sind hier sicherer als ein Neugeborenes im Brutkasten. Wir arbeiten mit zwei der erfahrensten Einsatzleiter der Nordsee, und die haben die Ausrüstung durchgecheckt, also daran ist alles okay. Gefahren gibt es trotzdem, und sie sind näher, als man glaubt.«

Als er das sagt, schaut er unentwegt zu Ego Boy hin. Der blickt starr zurück. Alle in der Kammer spüren, wie sich die Atmosphäre auflädt.

»Die Ausrüstung ist in Ordnung«, sagt Ingrid. »Aber der ROV hat Macken, und die andere Taucherglocke ist mit Sondergenehmigung außer Betrieb. Das hier ist ein altes Taucherschiff.«

Der Tauchinspektor hat sich zur Brücke begeben, zum Kapitän des Schiffes. Beide schauen hinüber zur Bohrinsel.

Der Kapitän ist bald sechzig, sehr erfahren, aber ein bißchen müde. Kurz zuvor hat er mit dem Chef der Bohrinsel gesprochen und erfahren, daß man dort mit dem Ab- und Ausschalten begonnen hat. Die Produktion soll eingestellt, die Rohre sollen geleert werden, damit das Taucherteam an die Arbeit gehen kann.

Die Nachmittagssonne vergoldet die Plattform und ein sich näherndes Versorgungsschiff, das Bohrinseln und deren Personal regelmäßig mit Nahrungsmitteln und Material beliefert. Ein Kranführer wartet schon in seiner Kabine, und das Stahlseil hängt baumelnd über der Stelle, wo das Schiff in der unruhigen See liegen und mit einigem Risiko für die Decksmannschaft seine Fracht löschen wird.

Im Kontrollraum der Bohrinsel werden die Computer ausgeschaltet, die Lampen gelöscht und die Bürostühle unter die Tische geschoben. Die drei noch anwesenden Techniker kontrollieren die Instrumente, winken dem Chef der Bohrinsel zum Abschied zu und gehen.

Der stellt sich ans Fenster und schaut auf das Wasser. Es ist schön. Natur pur.

Dann schaltet er die Leuchtstoffröhren an der Decke aus und geht ebenfalls. Der moderne Kontrollraum, in dem sonst fieberhafte Aktivität herrscht, liegt in der einbrechenden Dämmerung still und leer da.

Ein paar Sektionen tiefer, im Herzen der Bohrinsel, hören die Motoren und Pumpen auf zu arbeiten. Es wird still. Nicht ein Mensch ist zu sehen.

Auf der Gangway zur Wohninsel sind die letzten Arbeiter unterwegs zum ersehnten Abendessen und dem Videofilm im Gemeinschaftsraum. An Bord der Bohrinsel befinden sich nur noch eine Handvoll diensthabender Leute und ihr Chef. Er ist seit einem Monat hier draußen und wirklich erschöpft. Planlos geht er über die Plattform und kontrolliert, ob alles in Ordnung ist. Die Unterbrechung des Betriebs sieht er als Möglichkeit, um im kleinen, aber bequemen Ruheraum sein Schlafdefizit auszugleichen. In ein paar Tagen winkt dann für mehrere Wochen die Freiheit.

Der Bohrinselchef erreicht den stillen Maschinenraum, gähnt ausgiebig und setzt seine Runde fort.

Die Taucher sind nicht müde. Am ersten Abend fällt es schwer, zur Ruhe zu kommen. Die vier Männer spielen Whist und trinken Kaffee. Sie haben Ingrid angeboten mitzumachen, aber sie ist auf dem Bett liegen geblieben und liest in einem Krimi.

Endlich auf der richtigen Bahn, unterwegs. Ihre Augen folgen den Zeilen, doch immer wieder muß sie im Text zurückgehen, weil sie an andere Dinge denkt.

Sie ist jemand, der sich nicht leicht beirren läßt, alle sagen das. Vielleicht sagen sie sogar – dann, wenn sie nicht dabei ist –, daß sie schwerfällig und phantasielos sei? Ingrid ist durch und durch Technikerin, für Technik interessiert sie sich nun einmal am meisten, besonders für die unerreichbare, von der sie in ihrem Leben höchstens eine vage Ahnung erhalten wird. Hinter den klaren mathematischen Strukturen steckt ein Geheimnis, das sie lockt.

Sie hat jede Menge Freunde, an die sie denkt. Die Freunde waren ihre Familie, doch Heirat oder Jobs an anderen Orten zerschlagen allmählich die sichere Gemeinschaft. Ohne ihre Freunde hätte sie das Zertifikat nie gemacht. Deren Fröhlichkeit und Humor haben ihr über die ersten Barrieren an der Taucherschule hinweggeholfen und helfen ihr auch jetzt noch. Wie sie lachen werden, wenn Ingrid Ego Boy und Bengt beschreiben wird, von Ians Miene gar nicht zu reden, als ihm klar wurde, daß sie beide zusammen tauchen würden!

Wenn nur ihre Mutter nicht so vergrämt gewesen wäre. Ingrid gibt ihr in vielem ja recht. Aber diese Unversöhnlichkeit, diese Verbitterung und dieser Haß. Ja, dieser Haß auf die Männer. Vater hatte bestimmt gute Gründe für sein Verschwinden.

Nur einmal war er wieder aufgetaucht, an ihrem fünfzehnten Geburtstag. Damals hatte sie die Taucherausrüstung bekommen. So hatte alles angefangen. Nur dieses eine Mal hatte er sie besucht und damit ihrem Leben die Richtung gegeben.

Aber davon weiß hier niemand etwas, und sie wird es auch nie erzählen, denn der Vater ist ihr wunder Punkt. Der schmerzt. Dieser Raum über dem Abgrund und die Erinnerung an die einzige Umarmung tun ungeheuer weh. Diese winzigkleine Flamme, an der sie sich immer wieder gewärmt hatte, denn wenn sie ihn wirklich brauchte, war er nicht da, nicht bei ihr. Nur diese Umarmung gab es, damals, als sie fünfzehn geworden war und er ihr gezeigt hatte, wie man taucht. Auf dem Flugplatz, als er nach Florida zurückkehren sollte, hatte er die Arme um sie gelegt. Eine verschämte Geste, vielleicht aus schlechtem Gewissen? Die fünfzehn Jahre ließen sich schließlich nicht nachholen.

Keiner hatte damals etwas gesagt. Der grobe Stoff seines Jacketts an ihren Lippen. Es war nur eine flüchtige Umarmung, so als halte ein Luftgeist sie umfaßt. Er hatte es eilig. Er fuhr weg. Nach einem Jahr kam ein Päckchen.

Dennoch rettete diese Geste ihr vielleicht das Leben. Damals hatte sie begonnen, sich eine Zukunft aufzubauen.

Ingrid hat fast eine Seite weitergelesen, ohne auch nur zu ahnen, was da steht. Sie setzt sich auf, ihre Füße berühren den Boden. Die anderen nehmen keine Notiz von ihr. Am besten macht sie sich gleich für die Nacht fertig.

Sie steigt die Leiter hoch und verschwindet in der Naßzelle.

Die Männer fahren fort, die Karten laut auszuspielen. Da hören sie plötzlich, wie Ingrid pinkelt, danach wie sie spült, sich die Hände wäscht und mit dem Zähneputzen beginnt!

Ihre Bewegungen hören abrupt auf.

»Es ist hellhörig«, sagt Bengt.

»Wir werden alle Verstopfung kriegen«, meint Ego Boy.

»Dann entgeht man wenigstens deiner Scheiße«, murmelt Glenn.

Ian und Bengt fangen an zu lachen. Sie können nicht aufhören und lachen immer lauter. Für sie wird die Feindschaft zwischen Glenn und Ego Boy mehr und mehr zur Gratisunterhaltung.

»Kennt ihr euch?« fragt Ian vorsichtig.

»Er glaubt, ich hätte mal einen Mann umgebracht«, antwortet Ego Boy ganz ruhig. »Dem war nicht so, es war ganz klar ein Unfall, aber das geht nicht in seinen Schädel.«

In der Öffnung der stahlglänzenden Naßzelle ist Ingrid stehengeblieben. Sie hat den veränderten Ton im Gespräch der Männer wahrgenommen. Still läßt sie sich zu Boden gleiten und lauscht.

Sie hört, wie Ego Boy von jemandem redet, der gestorben ist. »Der war zu intellektuell, das war das ganze Problem. Er mußte immer alles sofort verstehen. So geht es nicht, wenn man hier draußen was bewerkstelligen will«, sagt Ego Boy. »Man muß nicht alles begreifen, man muß nur seine Arbeit tun. Er hat sich ständig in irgendwelchen Diskussionen verheddert ...«

»Das hat er«, sagt Glenn, »sich verheddert.«

»Hinten auf seiner Uhr war De Profundis eingraviert«, sagt Ego Boy. »Latein. Er wollte wie ein Intellektueller wirken.«

»De Profundis«, zitiert Glenn. »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Erlöse mich, denn Wasser umgeben mich bis an mein Leben! Er ist gestorben. Das Wasser ist in ihn gedrungen. Er hat sich verheddert, bekam keine Hilfe. Ist im Stich gelassen worden. Oder was immer dort passiert ist!«

Ingrid kommt die Leiter herunter, sie lächelt tapfer und fragt, worüber sie streiten.

»Es ist nichts«, sagt Ego Boy. »Nein, es ist wirklich nichts«, sagt Glenn. »Ingrid, hast du deine Ohrentropfen genommen, damit du keinen Pilz kriegst? Und bloß nicht die Flaschen verwechseln! Für jedes Ohr eine Flasche, damit du dich nicht selber ansteckst, falls eins nicht in Ordnung ist.«

Offensichtlich will Glenn nicht weiter über das reden, was damals passiert ist. Auch Ego Boy will nicht auf das Thema zurückkommen, die Maske sei an allem schuld, sagt er. Solange man einen Helm aufhabe, bestehe keine Gefahr, aber mit der Maske zu tauchen, bedeutet, die Ohren einer ordentlichen Infektion auszusetzen, weil der Gehörgang acht Stunden am Tag dem ätzenden Salzwasser ausgeliefert ist.

Ingrid steht vor ihren vier Arbeitskollegen, und sie fühlt sich plötzlich furchtbar einsam. Schmerzlich isoliert. Ausgegrenzt, wie unter einer Glasglocke!

Jetzt haben sie bald den Druck von hundertachtzig Metern Tiefe erreicht, es gibt keinen Weg zurück – außer: acht Tage Dekompression. Hier ist es so eng, daß sie die Hand ausstrecken und jeden berühren kann. Menschen wie sie; Gedanken, Gefühle, die Wärme der Haut.

Aber sie ist allein. Schrecklich allein.

Sie muß diese Geschichte hier durchstehen! Es gibt keine Glasglocke! Die konstruieren andere, verdammt noch mal, sie ist doch Metallurgin, sie versteht ihre Sache, und tauchen kann sie auch!

Warum fühlt sie sich dann so bleiern!?

Das kommt natürlich vom Druck. Dem rein physisehen Druck. Sie sind jetzt ganz unten. Möglichkeiten der Wahl gibt es auf diesem Niveau nicht, nicht einmal als reine Illusion.

Hinter ihrer Beherrschtheit macht sich schleichende Angst bemerkbar. Man hat keine Wahl, da wo sie nun ist.

Sie gerät völlig aus der Fassung angesichts dieser fremden Situation. Einen solch trostlosen Zustand hat sie nie zuvor erlebt. Wie schleichendes Gift. Eine gleichzeitige Infizierung von Körper und Seele. Wie schwer die Hand ist, wie sinnlos jedes Handeln. Entsetzlich kalt das Leben, genauso wie der Tod.

Das Wort ist Angst.

Aber sie ist nicht bereit, sich das einzugestehen! Sie nimmt diese Angst nicht an. Tut, als gäbe es sie nicht. Mit ihrem Willen und ihrer Vernunft stoppt Ingrid sie auf der Schwelle. Obwohl sie schon von ihr gefangen und verschlungen worden ist.

Voller Anmut bricht die Nacht über der Nordsee an. Bleiche Sterne kämpfen kraftlos am hellen Sommerhimmel. Das Meer speichert das Tageslicht, es sendet auf allen Frequenzen, sein nächtliches Leben ist verlockend schön, und der Wind ist vorübergehend abgeflaut. Was für eine unglaubliche Gratisvorstellung die Natur jenen bietet, die über dem Meeresspiegel, oben an Deck, nach draußen treten können, so wie Harald, der Charles in einer Stunde am Steuerpult der Druckkammer ablösen wird.

Er blickt auf diese Landschaft hinaus, diese Wasserlandschaft. Das ist sein Leben, hier ist er niemals einsam.

Er geht gern an Land. Nur um wieder zur See gehen zu können.

Das Meer hebt sich, krümmt den Rücken wie eine Katze. Träge und still bewegt es sich wie im Traum, und er spürt seine eigene Winzigkeit, wie unbedeutend er ist. Der Mensch ist nur ein Gast, er kommt und geht. Das Meer ist ewig, das Meer ist das Leben, und das Meer gibt ihm Leben. Jeden Tag aufs neue.

Als er wieder in den Kontrollraum zu Charles hinunterkommt, liegen die meisten Taucher in ihren Kojen. Ingrid hat die Lampe ausgeschaltet, und soviel er sehen kann, schläft sie. Ego Boy hört Musik über Kopfhörer und Bengt ebenfalls.

»Wie geht’s mit der Puppe?« fragt Harald.

Charles hebt den Daumen: »Sie scheinen sie zu akzeptieren.«

»Was haben sie auch für eine Wahl«, erwidert Harald sachlich.

Der zweite Monitor zeigt, daß Glenn und Ian noch am Klapptisch sitzen. Sie haben die Köpfe zusammengesteckt und reden, doch bewußt leise, damit das Mikrofon die Worte nicht auffangen kann. »Schön, daß sie Rücksicht nehmen«, sagt Harald und läßt sich auf den Stuhl sinken, von dem Charles soeben aufgestanden ist. »Schlaf gut, du Glücklicher. Unsereiner wird heute nacht eine Menge Liegestütze brauchen und vielleicht auch das eine oder andere Liedchen trällern. Aber bei abgeschaltetem Mikro.«

Merkwürdig sind die Mechanismen, die einen Menschen dazu bringen, sich anderen zu öffnen. Manche Personen ziehen Bekenntnisse regelrecht an – verführen zum Vertrauen –, allein durch ihre Gegenwart.

Ian hat Glenn von seiner Familie erzählt.

Zwischen ihnen liegen fast zwanzig Jahre Altersunterschied. Glenn hat zugehört und versucht jetzt, Ian all das begreiflich zu machen, was er früher selbst hätte einsehen sollen. Dann säße er jetzt nicht hier, ohne einen einzigen festen Punkt an Land! »Erwachsene Kinder, die einen nicht in die Wohnung lassen! Willst du wirklich, daß es so endet?«

Doch Ian erwidert, daß Glenn nicht begreife. Das Leben an Land ersticke ihn. Er ist an die Intensität und das Tempo hier draußen gewöhnt! Eine Art Freiheit – wenn auch eine besondere! Dagegen: plötzlich morgens um sieben zur Arbeit zu rennen und Abend für Abend halb fünf nach Hause zu kommen, dazwischen einen Job zu erledigen, der zwar gemacht werden muß, aber keinerlei Herausforderung darstellt, weder körperlich noch psychisch – das ist nicht nur enttäuschend, sondern sogar diskriminierend, es nimmt einem die Luft. Er muß einfach raus!

Glenn verzieht das Gesicht. Er kennt diese Argumente zur Genüge, aber sie sind verkehrt. Völlig verkehrt! Es gibt doch da einen kleinen Jungen, und ein weiteres Kind ist ja wohl unterwegs? Was hat dieser Ian nur im Kopf, wenn ihm ein solches Leben trivial vorkommt? Trivial sind die Stahlschotten, die sie hier umgeben – so sieht Trivialität aus. Nicht wie ein Kind. Glenn kann es einfach nicht glauben, daß Ian so wenig begreift.

Ian lacht besänftigend. Sicher seien die Kinder wichtig und auch ganz wunderbar. Aber um ehrlich zu sein: das Wechseln von Windeln und Ausflüge in den Park, ist es wirklich das, what a man has to do?

Ian lächelt seinem älteren Kollegen nachsichtig zu. Er sieht, wie angeschlagen Glenn ist, er sieht den traurigen Blick und die zerfurchten Wangen. Glenn ist nicht mehr jung, er ist überempfindlich und zimperlich geworden, und er überschätzt das Leben an Land, weil er langsam müde wird. Er hat auch keine Familie wie Ian. Er hat sich nie richtig um die Familie gekümmert, und deshalb ist sie ihm entglitten. Natürlich darf man die Kinder nicht vernachlässigen. Aber die Familie ist kein Ziel an sich.

Ian klopft Glenn auf die Schulter und sagt, Zeit in die Koje zu steigen. Es sei wichtig, alles irgendwie im Gleichgewicht zu halten, und: »A man has to do ... You know what a man has to do! You did it yourself.

And you still do it!«

Harald macht seine erste Runde Liegestütze, um sich wach zu halten. Am schlimmsten ist es zu Anfang, so wie jetzt, wenn die Kammer im Dunkeln liegt, die Monitore kein Bild zeigen und er im Lautsprecher das leise schniefende Atmen der fünf Schläfer anhören muß.

Oben an Deck steht Charles. Die Nacht ist endlich herabgesunken. Die mattvioletten Wolken bewegen sich am Himmel, und der Meeresspiegel glänzt wie schwarze Seide. Charles fühlt sich wohl. Bald wird er ins Bett gehen, und morgen früh wird er zu Hause anrufen, wird mit den Kindern reden, er freut sich schon darauf.

Er reckt sich wohlig und gähnt. Dann stützt er sich auf die Reling und zieht ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. Er blickt auf das Meer hinaus, er wird nie müde, es zu betrachten.

Im selben Moment, als er eine Zigarette aus dem Päckchen klopft, ist ein fremdes – erschreckendes – Geräusch zu hören! Er schaut zur Bohrinsel hoch.

Sie neigt sich!

Ein paar lose Balken fallen aus dreißig Metern Höhe mit lautem Klatschen ins Wasser.

Das Zigarettenpäckchen rutscht Charles unbemerkt aus der Hand, es segelt an der Bordwand des Schiffes hinunter.

Auf der Plattform geht jetzt in mehreren Fenstern Licht an, und ein Alarmsignal ertönt. Die Sirene brüllt wie ein lebendiges Tier, und Charles kommt plötzlich in Trab. Er springt eine Treppe hoch und dann noch eine, will zum Kapitän oder zu sonst wem auf der Brücke, falls es wirklich wahr ist, was er da gesehen hat. Aber die Sirene!

Sie hat sich geneigt?! Diese verdammte Scheiß-Heidrun!!!

Die Taucherin

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