Читать книгу Eine grenzenlose Liebe - Aino Trosell - Страница 6

I.

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Einstieg

… Großmutter erzählte mir einmal vom Leben in

ihrer Ehe, danach lag ich stundenlang da und heulte Rotz

und Wasser. Dennoch war ich erst siebzehn Jahre alt.

Noch heute kommen mir die Tränen, wenn ich an all das

denke, was sie erzählt hat. Dass es möglich ist,

so etwas zu überleben.

(Aus einem Privatbrief)

Ich war erst siebzehn Jahre alt, als Mama in Malung im Bett der Küchenkammer starb, und erst acht Jahre alt, als die Mutter meiner Mutter in der Stube von Sysslebäck starb, sie starb gestiefelt und gespornt, kann man sagen, denn ihre letzten Worte waren: Hilf mir, die Stiefel auszuziehen, das weiß ich noch genau.

Sie war aus dem Regen hereingekommen und plötzlich unpässlich geworden. Großvater hatte »Stina, Stina« gerufen, doch was helfen solche Rufe, wenn jemand über die Grenze tritt. Nein, da hatte er sich geschnitten, der Dreckskerl, tönt Mamas Stimme in meinem Kopf. Nun konnte ihr der Alte nichts mehr befehlen, saß nur noch da und vergoss Krokodilstränen, vergaß vollkommen, dass er in diesem Moment kein Publikum hatte.

Es ist nicht viel übrig. Ich erinnere mich natürlich an die Geschichten, und ein paar Fotos besitze ich auch, die meisten sind alt und vergilbt. Eins aus Amerika, ich weiß nicht, wer die Leute darauf sind. Mutters Onkel hatte sich auf den Weg gemacht, und später war er nach Europa zurückgekehrt, nur um im Ersten Weltkrieg in einem Feldlazarett zu sterben, gezeichnet und zerrüttet von Krieg und Alkohol. Ansonsten sind wir um den Gebirgskamm wohnen geblieben.

Eine Ansichtskarte zeigt Sysslebäck, am Rand das Elternhaus meines Großvaters mütterlicherseits. Der Ort ist von Bergen umgeben, und der Fluss windet sich diagonal durchs Bild, kommt von Norden, aus Norwegen. Die Karte ist alt und vergilbt. Sie ist an Fräulein Edit Dalborg, Idbäck, Malung gerichtet, und der Text lautet: Herzl. Dank für den Brief vom 22.10. Stina am 26. selbigen Monats nach Trysil abgereist. Ines vom Bengtsmarithof fährt am 11.11. zu Samuel Persson Grimsmyrheden (Malung). Hier alles gut. Herzl. Grüße von Papa.

Ja, Edit war Dienstmagd in Idbäck, und nun sollte offenbar eine weitere Magd exportiert werden. Malung war besser als Sysslebäck, das besser als Trysil war.

Ein Atelierfoto zeigt meine Mutter, drei Jahre alt, sie steht neben ihrer sitzenden Großmutter, der Mutter ihres Vaters. Die Großmutter hält Mamas Hand mit festem Griff. Das kleine Mädchen hat ganz liebe Augen, der Blick der Großmutter ist hart und unergründlich. Dieser Griff, dieser feste Griff über die Generationen. An diesem Bild von Großmutter Ingegerd ist etwas Erschreckendes – ihr Regiment im ehelichen Bett.

Mamas Hochzeitsfoto von 1941 – wie konnte ich eine so hübsche Mutter haben? Wir sind uns überhaupt nicht ähnlich, sie war dunkel und wunderschön, hatte ein aristokratisches Profil und prachtvolles Haar.

Auf dem letzten Foto von ihr ist sie vielleicht fünfundvierzig Jahre alt, aber wirkt bedeutend älter, eher wie fünfundfünfzig oder sechzig, obwohl sie das nie werden sollte.

Zu guter Letzt schließlich das Nachlassverzeichnis: 54 Kronen auf einem Postsparbuch und mehr als viertausend Kronen private Schulden, darüber hinaus noch unbezahlte Rechnungen. Sie dreht sich im Grabe um, weil ich das jetzt schreibe.

Hier in den Grenzgebieten hat uns immer mehr verbunden als getrennt. Die Obrigkeit war weit weg, und die Bande über die Grenze sind uralt. Es war näher nach Norwegen als nach Karlstad oder Falun, ganz zu schweigen von Stockholm, das eine völlig andere Welt war.

Ich hatte der weiblichen Linie meiner Abstammung ständig entkommen wollen, diesem peinlichen Rinnsal westwärts und nordwärts. Aber die Schriftstellerei hat mich dorthin zurückgezwungen. Mir wurde nicht gestattet wegzulaufen, ich durfte diesen Rucksack nicht abwerfen, durfte nicht vergessen, obwohl ich es wollte.

Ich dachte, dass Zeit vergehen müsste.

Zeit ist vergangen. Aber anstatt dass die Bilder blasser werden, treten sie immer deutlicher hervor, völlig zerschlagen wache ich nach Nächten auf, die angefüllt sind mit Schicksalen und Träumen.

Nun also soll all das aus mir heraus. Damit endlich Ruhe einkehrt.

Diese Scham, sie handelt doch in erster Linie von Sex. Der schließlich allerorten beschrieben, besungen, verleumdet wird, sofern man ihn nicht ganz verschweigt. Als sei er eine Kraft unabhängig von der Erde, aus der sie kommt. Übrigens Erde, wohl eher Wüste. Oder ständiger Permafrost.

Die meisten Schilderungen sind gänzlich verlogen, Scham und Pein dürfen nicht einmal erwähnt werden. Und auch Verlangen darf man nicht zeigen, außer man ist verliebt, und alles Animalische ist Sache der harten Kerle, also der Männer. Die hingegen dürfen nicht weich sein, dürfen auch nicht eine halbe Sekunde zögern, falls sich Chancen bieten. Unsereins soll ständig willig, aber nicht billig sein – welch verrücktes Paradox!

Kaum eine Generation ist es her, dass jede erotische Begegnung auch eine Möglichkeit der Befruchtung bedeutete. Bevor es eine Mütter- oder Geburtenberatung gab, die den Namen überhaupt verdiente, war Selbiges immer mit einer potentiellen Todesdrohung verbunden, nicht gerechnet all jene Bedrohungen, die rein gesellschaftlich auf einen warteten, falls man keinen akzeptablen Familienstand vorwies. Gewaltige Konsequenzen für einen kleinen Fehltritt, oder mit einem modernen Terminus ausgedrückt, für das Bejahen seiner Bedürfnisse.

Zu allen Zeiten hat es diese Angst gegeben. Hat die keine Spuren bei uns hinterlassen? Hat sie uns nicht geprägt bis in den letzten Winkel unserer Seele und damit auch die Erbmasse selbst?

Jene keimende Kraft, die man umgehend mit dem universellen Begriff Hure niederknüppelt. Jene unbändige Kraft, die sofort mit ihrem Auftreten unrein wird, die gelöst wird von dem Ganzen, dessen Teil sie ist, vom Gefühl. Der Schmutz, der in die Maschinerie geworfen werden muss, damit Kontrolle möglich ist. In vielerlei Hinsicht waren es obendrein die Frauen, die den Ton angaben.

Diese Kontrolle war durchaus vernünftig, besonders, wenn die wirtschaftliche Lage schwierig war. Wer sollte die Folgen der Erotik versorgen – ich nicht, na, ich ganz bestimmt auch nicht –, und ein Mensch braucht schließlich beide Eltern, wenn es um die Existenz geht. Dieses Huren-Wort stellte die wichtigste Bastion gegen das Unglück der Kinder dar.

Die Verantwortungslosigkeit war eine Hure, war eine Frau, die aus ihren Begrenzungen hinausgelassen war, man durfte nicht ohne Grenzen sein. Wo fand die Feldschlacht statt, wo schwoll es, wo schmerzte es, wo galt es das Eindringen ins Territorium abzuwehren?

Das Schlachtfeld erstreckte sich vom oberen Rand des Busens über tausendjährige Gefilde abwärts bis kurz übers Knie, dazwischen lagen die heißesten Zonen.

Es galt, sich zu verhüllen, sich zu schützen und die Grenzlinien der Bekleidung zu wahren, in jeder Lage rein strategisch zu denken, wenn man überleben wollte.

Es gab keine Herren, denen wir aus dem Nachhinein die Schuld zuschieben könnten, nein, höchstens ein paar Bauern, die etwas besser gestellt waren als andere, das war alles. Hart geurteilt wurde trotzdem.

Wo war euer Stolz, euer Aufbegehren, ihr Frauen, die ihr uns vorangegangen seid? Verstohlen das Gemurmel im grauen Tageslicht von blaugeschlagenen Erinnerungen. Wir waren doch so wenige, und natürlich war es hart, verzeiht uns, wir hatten nicht viel, auf das wir stolz sein konnten.

Ich nicke, natürlich, eher schon auf der Vaterseite, Gewerkschaftskämpfe und Krieg, die Schufterei in Wald und Fabrik – freie Samstage und Fernsehtechnik, davon ließ sich berichten!

Aber unter den geöffneten Häkchen der Nächte tritt das Frauenfleisch über alle Ufer, zischelt mir, winselt mir zu, schreit mir direkt ins Gesicht – rette uns, denn man hat uns gänzlich weggedrängt, welch furchtbares Gefühl! Und du weißt es!

Weiß ich es?

Diese Geschichte hier hat keinen Spiegel, keine Karte und keinen Boden. Etwas quillt herauf. Ich weiß nicht, was es ist, aber es hat mich geformt. Und es formt auch dich.

Es waren nur ein paar unwissende und verzagte Frauen, doch sie hatten Träume. Nur waren diese Träume ebenfalls verstohlen, verzagt und mit Scham belegt.

Meine Großmutter mütterlicherseits heiratete 1905. Das weißt du nicht. Du weißt fast gar nichts über unsere Geschichte. Sie heiratete, als man die Union zwischen Norwegen und Schweden auflöste. Für sie war es genau umgekehrt, sie ging eine lebenslange Union mit Schweden, mit Sysslebäck und Per ein – Liebe aber war es nicht, so viel steht fest.

Deine Großmutter war tot, als du geboren wurdest. Deinen Großvater hingegen hast du kennen gelernt, das ließ sich einfacher machen, und du fandest ihn nett.

Wie kam es nun zu dem, was gekommen ist?

Die Sache ist schwierig.

Früher saß man abends beisammen und wartete auf das Herannahen der Geschichten. Draußen vor dem Fenster dämmerte es, und wenn man kein Licht anzündete, war das ein Zeichen – die Geschichten waren im Anzug.

Jetzt gibt es diese Momente nicht mehr, fast nie mehr. Die Jugend versteht nicht, wird ungeduldig, schaltet irgendwelche Elektronik ein, ja doch, das über diesen Granitstein vom Trysilfjell haben wir doch schon gehört, mehrfach sogar, ist doch nichts Besonderes, können wir vielleicht vom Tisch aufstehen?

Ja, sicher. Ein einfacher Granitstein, ich sehe es jetzt. Dabei hatte ich ihn doch für magisch gehalten mit seiner Bleistiftschrift auf der Rückseite – »vom Trysilfjell, Juni 1906« – ein Erbteil der Sehnsucht.

Ein einfacher Granitstein, den Stina mit Goldfarbe bestrichen hat.

Es sind ja keine Lebenden mehr da, keine Augenzeugen, die mir auf die Finger klopfen und mich der Unrichtigkeit bezichtigen können. Dennoch bin ich beunruhigt. Ich will, dass es stimmt. Ich schreibe fürs Leben. Ich erschaffe einen Hintergrund, und es wühlt mich auf, diese Verantwortung zu spüren. Aber du verstehst ja, dass alles Dichtung ist, auch wenn es die Ereignisse selbst gegeben hat, ich schreibe über mich, das weißt du genau. Jedes Buch, das ich verfasst habe, zeigt nur verschiedene Seiten meiner selbst, und deshalb ist es mir auch nicht möglich, eins davon als das beste zu bezeichnen oder mit einem anderen unzufrieden zu sein, es geht einfach nicht. Es wäre so, als würde man seine Kinder benoten, man hat eine gemeinsame Beziehung, hat gemeinsame Erinnerungen und eine gemeinsame Geschichte, man ist abhängig, egal, wie es auch sein mag.

Es beginnt immer mit einer romantischen Vision, dem Traum, dass man aus sich hinausgelangen könne. Ich bin ein Produkt beider Länder, eine romantische und unmögliche Liebesgeschichte, bitter und wundervoll zugleich, umrankt von unscheinbaren, aber lieblich duftenden Erdglöckchen und mit grauen Strähnen im Haar.

Es gab viel zu wenig Liebe. Dieses Buch hier eine Liebesgeschichte zu nennen ist wahrhaft ironisch, wo ich Ironie, diese Arroganz, doch so verabscheue.

Harmonisch ist es selten, wenn Menschen lieben. Die Liebe hat keine schützende Haut, man trägt leicht Schrammen und Wunden davon, Blut rinnt. Im Hexenstich, mit zwei Y’s, nähe ich diese Wunde zusammen, Trysil, Sysslebäck.

Was ist eine Grenze? Ein Übergang? Zwischen Nationen? Zwischen Menschen? Und die Grenzen der Geschlechter, was wissen wir darüber?

Ich lebe an einem östlicheren Stück des Pilgerpfads. Jener Pilgerzug, der einst an Sysslebäck und Trysil vorbeiging, führte in Richtung Westen. Signalfeuer hatte man stets am Osthang angelegt, damit sie in Norwegen nicht zu sehen waren. In den Nächten leuchteten die Flammen meilenweit. Tagsüber hingegen stieg Rauch auf, signalisierte und warnte, doch was kümmerte es die Bevölkerung? Sie hatte ihr Zuhause auf beiden Seiten der Grenze.

In dieser Grenzregion stellten die Hochzeiten, die Mundarten, das Wild und die gemeinsame Armut jenes Fundament dar, auf dessen Granitrücken die Zugvögel des Krieges zuweilen zwischenlandeten, mehr nicht.

Eine Pilgergegend, eine Union und die Auflösung der Union, genau wie jene zwischen den Geschlechtern. Die glücklich im selben Land leben und alles teilen sollten. Doch die Frauen wurden immer verzweifelter. Diesen Krieg wird keiner gewinnen. Bitte sag, dass es andere Methoden gibt!

Dieser Rausch, war das Liebe, dieser Wahnsinn, war das alles, ist es so banal? Oder greift die Union tiefer ins Fleisch, dennoch tiefer – weit unter die Grenzlinie? Vergebens versuchen allerlei Scharlatane Kapital aus diesem starken Supraleiter zu schlagen, ihn für eigene Zwecke zu okkupieren. Überlebt trotzdem etwas, das ewig ist, überlebt eine Art Burgfrieden in uns trotz all der unsanften Behandlung?

Ich bin äußerst vorsichtig gewesen, um das peinliche Selbstbild nicht weiterzugeben, ich will, dass du der Überzeugung bist, einfach existieren zu dürfen, ohne Rücksicht darauf, ob du dem Bild des braven Mädchens entsprichst. Das Einzige, was ich für wichtig gehalten habe, war, dass du deine eigene Wahl triffst. Du weißt, dass ich dir zu deiner ersten Menstruation gratuliert habe, und du erinnerst dich bestimmt, dass ich damals sagte, die Männer seien besser als ihr Ruf, sie seien wundervoll, du brauchtest keine Angst zu haben. Doch ich glaube, dass du mir das nicht abgenommen hast.

Ein Pilgerzug ging durch das Tal des Klarälven, nordwärts an der Kirche von Dalby vorüber, die meisten Personen dieser Geschichte liegen dort begraben.

Danach wird das Tal immer enger, erinnert an norwegische Fjorde, nordische Landschaft. Branäsberget, Sysslebäck und dann Norra Finnskoga am Höljesdammen. Weiter bis nach Långflon hinauf, dann die Grenze, überall Wald und schließlich Plassens Kapelle, Nybergsund und Trysil.

Das Pilgern an sich hat große Bedeutung, erfordert die richtige Einstellung, Offenheit gegenüber inneren Welten. Jeder Stein bekommt einen Sinn, jeder zurückgelegte Meter, jede Kiefer und jeder Busch, den man hinter sich lässt, ebenso wie die menschlichen Zeichen, die dir in Form verlassener Lagerplätze begegnen, alles hat einen verborgenen Sinn. Menschen gibt es nur wenige. Deine Gedanken haben die ganze Wildnis, den gewaltigen Himmel zur Verfügung und können sich ausbreiten. Hast du einen Glauben, dann schützt er dich vor vielem, andernfalls gerätst du in die Gewalt irdischer Dämonen. Du armes Menschlein, das nicht imstande ist zu glauben. Weh dir, und wenn du deinen Rosenkranz auch noch so abwetzt, so sollst du doch wissen, dass die Raubtiere dein Fleisch zwischen den schwarzen Stämmen wittern. Murmle, bete und lass deine Gebetskugeln wandern, der Bettelbeutel scheuert im Kreuz, und die Füße schmerzen in den ausgetretenen Schuhen. Du wanderst so mühsam, den Kopf zu Boden gesenkt, das Haar hängt vor blicklosen Augen. Doch deine schlecht verhüllten Arme und dein weißer Nacken leuchten auffordernd zwischen den Kiefern. Dein weißes Fleisch sendet seinen Duft an untrügliche Raubtiernasen. So unwiderstehlich ist deine einsame Gestalt, dass die schmalen funkelnden Augen rasch näher kommen. Und während du noch immer mit deinem nicht vorhandenen Glauben ringst, ist dein nächstes Stündchen schon entschieden.

Ich werde erzählen, was damals geschehen ist, und dennoch werde ich erfinden. Es sind die Augen des heutigen Menschen, die versuchen, etwas hinten in der Dunkelheit zu erkennen. Ich werde Gefühle hineinlegen. Ich werde aus den Handlungen der Personen und aus trockenen Dokumenten dieses und jenes herauslesen. Doch werde ich wirklich verstehen, werde ich begreifen, wie ausgesetzt sie derzeit waren? Kann ich mich in das damals herrschende Schweigen einleben? Werde ich begreifen, wie man ein ganzes Leben mit einem Menschen verbringen kann, den man kein einziges Mal wirklich geliebt hat? Die regelmäßigen gewaltlosen Vergewaltigungen, wie gelingt es, so etwas zu verstehen?

Wie ein Mantra hängt über dem Ganzen der universelle Appell: Werde nicht, werde nicht, werde bloß nicht schwanger!

Eine grenzenlose Liebe

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