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II.

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Elis Jugend

Ich sehe sie aus der Ferne, das kleine Mädchen Eli, sehe sie in einem äußerst romantisierten Licht. Denn könnte ich mich tatsächlich in ihre Welt versetzen, würde ich zurückschrecken wie angesichts der furchtbarsten Armut Indiens, seines Hungers, der Gerüche, des Mangels an allem.

Es fehlte an Nahrung, und man lebte überaus beengt, Eli aber war dennoch zufrieden, genügsam, fast glücklich. Als Kind kann man glücklich sein, selbst wenn dieses Mehr an Liebe fehlt, man kennt es nicht anders, das Leben ist so pulsierend und stark, jeder Tag steckt voller neuer Abenteuer, alles Erdenkliche kann geschehen. Sie war ein Teil des Ganzen und wollte nichts anderes sein. Ein wenig Grütze im Bauch brachte Wärme, Freude stieg im Körper auf, da fiel das Lachen leicht. Und die Sommer in Romedal waren warm und fruchtbar, all diese Düfte und der Wald. Der Zopf schlug ihr gegen den Rücken, die Füße waren wie aus Leder, gehärtet, nachdem der Schnee verschwunden war, sie rannte umher wie all die anderen. Kein Kind hielt sich zu jener Zeit im Haus auf, außer zum Essen und zum Schlafen. Diese Eli war in guter Form, sie war klein und gewandt und hatte ein helles Köpfchen.

Im Zimmer, das sie gemietet hatten, saß der Vater und fertigte Schuhe an, während die Mutter den Jüngsten stillte. Eli durfte nie drinnen bleiben, obgleich sie es zuweilen gern wollte, wenn es draußen kalt war. Ihre jüngeren Geschwister durften es ebenso wenig, sie klammerten sich an sie statt an die Mutter, obwohl die Schwester erst sieben Jahre alt war.

Zur Nacht wurde sie zusammen mit den Kleinen auf eine Schlafbank gebettet. Es war eng und manchmal auch nass. Dann gab man ihr die Schuld, weil sie sich nicht gekümmert hatte, dass die Sache vor dem Schlafengehen erledigt wurde.

Die älteren Geschwister gingen den Eltern besser zur Hand. Der große Bruder war für Eli eine Art König, sie betete ihn an: Trag mich, Peter, bitte, spiel mit mir, hier bin ich! Doch er sah sie nicht, und außerdem musste er Holz hacken. Im Übrigen war er Mamas Augenstern, falls es keine Probleme mit dem Jüngsten gab.

Die große Schwester hatte sich um den Haushalt zu kümmern, seit das Brüderchen krank geworden war, während die Mutter vergeblich versuchte, es zu stillen. Abends in der Dunkelheit hörte Eli, wie sie sich halb weinend bemühte, den Jungen zum Trinken zu bringen. Doch schrie er nicht mehr so gellend, es war wieder ruhiger geworden. Dennoch nahm er der Mutter alle Kraft.

Der Vater fluchte, dumpf und bedrohlich, nach jedem Fehlschlag. Zum Abendessen bekamen sie immer öfter Wassergrütze, und Eli fiel das Einschlafen schwer. Alles war so trübselig, dass sie wünschte, der Tod möge kommen und diesen Plärrhans holen, damit alles wie früher wäre. Sie wünschte ihrem Brüderchen den Tod, sie betete darum: Lieber Gott, hol das Balg hier weg. Denn die Mutter, die sonst Handschuhe strickte und sie verkaufte, die redete und sich kümmerte, war wie ausgewechselt, still und in sich gekehrt, zusammen mit dem Jüngsten. Und der Vater trank, das wusste Eli, alle wussten es, obwohl er dazu irgendwo auf der Alm blieb. All das Geld, das für den Schnaps draufging! Mama schalt oder weinte. Aber was konnte er schon daran ändern, die Leute verschlissen einfach zu wenige Schuhe, er tat doch wahrhaftig, was er konnte.

Die Mutter hieß Kari und war aus Romedal, während der Vater aus dem Gudbrandsdal stammte, er hieß Johannes Larsen.

Und Mutter Kari hatte eine Schwester, Hildur.

Hildur war trotz ihrer Jugend, sie war eben erst konfirmiert, ein starkes und resolutes Mädchen. Vergeblich suchte sie eine Dienstmagdstelle in nächster Umgebung, Abend für Abend kam sie erfolglos heim. Die Eltern waren vielleicht verstorben, oder sie waren alt und gebrechlich. Vielleicht wohnte Hildur gar bei ihrer älteren Schwester und deren Familie in dem bereits gedrängt vollen Zimmer.

Eines Morgens im Herbst, als Eli erwachte, war alles verändert, etwas war geschehen, was auch sie betraf. Es herrschte eine gedrückte Stimmung! Hildur stand mit dem Rücken zu ihr und knotete einen Sack zu.

Bestimmt war es ein Sonntagmorgen nach der Heuernte. Alle Arbeiten, bei denen Hildur auf den Höfen ein paar Öre verdienen konnte, waren abgeschlossen.

Also musste sie weit weg von hier gehen, um andernorts ihr Leben zu fristen, in Romedal gab es keinen Platz für sie. Sie wagte nicht länger zu warten, um nicht vom Winter überrascht zu werden. So jung und stark wie sie war, konnte sie nicht verlangen, dass die Alten oder gar ihre Schwester Kari sie versorgten, also blieb ihr nichts anderes übrig als aufzubrechen.

Hildur redete demonstrativ laut, als gäbe es da noch mehr Zuhörer als Kari und Johannes und ein paar eben erst aufgewachte Kinder.

Alle sahen Eli an.

Ja, da war noch mehr. Nie zuvor hatten Vater und Mutter Eli gleichzeitig und auf diese Weise angesehen.

Sie sollte mitgehen! Der Beschluss war spät nachts gefasst worden. So hätte man einen Mund weniger zu stopfen, und sie eignete sich nun mal am besten dafür, in dieser Lage das Zuhause zu verlassen. Die Ältesten gingen in die Lehre oder packten daheim ordentlich mit an, und die Jüngsten waren zu klein. Ich hoffe, du verstehst, sagte die Mutter mit einem Blick so voller Wärme wie noch nie zuvor. Und vielleicht würde es Eli ja sogar gelingen bei der neuen Stelle so viel auszurichten, dass sie etwas heimschicken konnte.

Die Mutter lächelte ihr mit diesem neuen, warmen Blick zu, und Klein-Eli wollte am liebsten sterben. Sie fühlte jetzt, wie selten – oder gar nie? – ihr diese Mutterliebe zugeströmt war, sie wollte einfach darin verweilen, sich in dieser Mutterwärme sonnen, was für eine Freude, ach könnte sie doch auf der Stelle sterben und somit alles zum Stoppen bringen.

Man wollte sie loswerden. Warum?

Es war eine Strafe für irgendetwas, natürlich. Doch was hatte sie getan?

Ja, was hatte sie getan. Ihr innerer Richter grinste höhnisch, setzte sich in Positur und legte los, es gab vieles, wollte er sagen.

Trotz Mutters Lächeln, so ungewohnt freundlich und liebevoll, senkte Eli den Blick, schämte sich entsetzlich. Was hatte sie nicht alles getan – war den jüngeren Geschwistern davongelaufen, bis sie weinten, hatte aufgegessen, was ihnen gehörte, sie waren zu klein und konnten nichts sagen, und sie hatte sie auch geschlagen, wenn es keiner sah, ja, hatte sie ganz allgemein gequält, sie hingen schließlich ständig an ihr, und sie wollte doch spielen, wollte in Ruhe gelassen werden. Zwar trug sie die Kleinen auch umher, schleppte und zog sie, doch das war nicht genug, sie schämte sich ungemein. Hätte sie das hier doch nur gewusst! Und dieses Gebet zu Gott im Himmel, er solle den Jüngsten zu sich nehmen, ihr war doch klar gewesen, dass das Sünde war, schwere Sünde, und Gott wusste, was sie getan hatte. Jetzt kam die Strafe dafür.

Etwas für ihr ganzes Leben Entscheidendes geschah an jenem Morgen in diesem Haus in Romedal. Eli wurde fortgestoßen und durfte nie wieder zurückkehren. Es wird behauptet, sie hätte drei Jahre später, im Alter von elf Jahren, einen Besuch daheim gemacht, doch zu diesem Zeitpunkt war sie gewiss völlig verändert. Von anderer Seite habe ich erfahren, dass sie nie mehr heimgekommen ist. Das klingt fast aggressiv – durfte sie nicht, oder wollte sie womöglich nicht?

Etwas war damals geschehen. Das kleine Mädchen Eli, das in Kürze acht Jahre alt werden sollte, musste einen Schock erlitten haben, der alles ausgelöscht hatte, was sie bis dahin erlebt hatte. Und schlimmstenfalls wurde hier tatsächlich eine Strafe vollzogen. Als Erwachsene war Eli eine aufgeweckte Person, wirklich nicht auf den Mund gefallen, wie wir sagen, also schlagfertig und scharfzüngig, vielleicht hatte sie eine Grenze überschritten, hatte jemanden gekränkt? Aber dennoch, sie war schließlich ein Kind, egal, was sie von sich gegeben haben mochte.

Doch damals herrschten andere Zeiten. Kinder waren selten besonders willkommen, sie kamen einfach, das war alles. Selbstverständlich hatte die Natur es so eingerichtet, und ohne Mutterliebe hätte die Familie schon lange nicht mehr existiert, sie ist einfach lebensnotwendig. Vermutlich war ihre Mama traurig, vielleicht hat sie sich sogar widersetzt, und lediglich der Mann hat gesagt, dass Eli nicht bleiben dürfe. Oder es war genau umgekehrt. Auf jeden Fall war das damals ein dramatischer Augenblick, und dass Eli die Sache nicht selbst gewollt hat, davon können wir wohl ausgehen.

Eine Bahnlinie führte nicht sehr weit entfernt in Richtung Hamar vorbei, aber für die Mädchen hieß es natürlich zu Fuß zu gehen.

Nachdem der erste Schock überwunden war, gestaltete sich der Morgen so feiertäglich wie ein Sonntag überhaupt sein konnte, und Eli stand die ganze Zeit im Mittelpunkt. Sie war froh, dass die Eltern es vorzogen, die wahren Gründe für ihre Deportation nicht zu nennen – sie wollte sie nicht hören, ahnte gleichwohl, dass es um ihre Versäumnisse gegenüber den Kleinen ging. Dennoch wirkte das Ganze nun nicht mehr wie eine Strafe, nein, eher wie ein Fest. Das Beste an Kleidung, was die Mutter finden konnte, wurde in Elis Ränzel gepackt. Und alles Essen, was man im Haus entbehren konnte, gab man ihr mit, sogar ein Stück vom Zuckerhut und nicht mal ein besonders kleines, und man ermahnte sie, darauf zu achten, dass es nicht zerbrach oder feucht wurde.

Als sie los sollten, reichten ihnen alle die Hand. Umarmungen, nein, die nicht, das wäre viel zu zudringlich gewesen. Eli knickste vor ihrer Mutter zum ersten und vielleicht letzten Mal, und die Mutter ersparte ihr viel Kummer, indem sie wegsah, so dass Eli nicht erfuhr, dass sie über das eigene Versagen weinte, weil sie die Tochter fortschicken musste, obwohl sie noch nicht einmal acht Jahre alt war.

Der Vater befand sich bereits vor der Tür, er ertrug diese gefühlsstickige Stimmung nicht. Um seinen guten Willen zu zeigen, begleitete er die Mädchen durchs Dorf, vorbei an der Kirche, in der ein paar Stunden später der Sonntagsgottesdienst stattfinden würde.

Ein Herbstmorgen, so aromatisch, freundlich und mild – dort lag der Wald.

Der Vater verneigte sich vor Hildur, obwohl sie gerade erst konfirmiert war, er tat es, um seinen Respekt und seine Wertschätzung zu bezeugen, weil Hildur sich jetzt ihrer Eli annahm, die plötzlich so klein geworden war: Taten sie wirklich das Richtige?

Sie hatten wohl keine Wahl. Man gab sich die Hand, und Eli knickste schüchtern vor ihrem Vater, den sie trotz der heimischen Enge nie wirklich kennengelernt hatte. Er fehlte ihr nicht im gleichen Maße wie die Mutter. Der Weg schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch, er führte in die Zukunft. Jetzt entschied sie sich. Die Gedanken an die Mutter musste sie unterdrücken.

Der Vater blieb stehen und winkte. Als Eli sich umdrehte, kurz bevor sie hinter einer Biegung verschwanden, stand er noch immer am gleichen Fleck. Sie hob den Arm. Und er winkte zurück.

Ein solches Bild verschwindet nicht, falls es sich so ereignet hatte.

Aber warum wanderten sie nach Osten und später dann nach Norden? Logischer wäre doch gewesen, die westliche Richtung nach Stange, zum Mjøsa-See oder gar nach Hamar einzuschlagen? Zumal das auch näher lag. Diese Gegenden waren von alters her wohlhabend, dort gab es gute Ackerböden, große Höfe, und der große See hatte Handel und Verkehr befördert.

Doch meine Theorie ist, dass zwei so junge, viel zu magere und unerfahrene, arme, kindliche Mädchen vielleicht gerade wegen dieses Wohlstands dort schlechtere Chancen für eine Anstellung gehabt hätten. Die reiche Landwirtschaftsgegend zog sicher Mägde ganz anderen Formats an, bedeutend reifere und kundigere, die von überallher kamen. Für derart junge Mädchen gab es nur Arbeit bei ärmeren Leuten auf Höfen, die in Richtung der großen Wälder lagen.

Das Ganze war also durchdacht. Sie zogen keineswegs aufs Geratewohl los, nein, sie hatten ein Ziel. Dennoch landeten sie an ganz unterschiedlichen Orten, obgleich sie doch so gefährdet und aufeinander angewiesen waren.

Während dieser Wanderung musste ein starkes Band zwischen den Mädchen geknüpft worden sein, sonst hätte Eli als Erwachsene wohl nicht die Hilfe ihrer Tante gesucht, statt die der Familie. Im Zustand des Schocks setzte sie all ihr Vertrauen in die fünfzehnjährige Hildur, die schließlich schon groß war, den Zopf bereits um den Kopf gesteckt trug, und deren Busen sich unter der Bluse wölbte.

Eli hätte ihre Hand halten wollen, getraute sich aber nicht, sondern trabte hinter ihr her, was als Fortbewegungsart nur logisch ist, wenn man so lange Strecken zu Fuß geht.

Es waren dreißig Kilometer bis Elverum, dort blieben sie in der ersten Nacht. Sie kannten jemanden oder kannten einen Ort, an dem sie übernachten konnten. Verpflegung hatten sie selbst dabei. Alles war gut.

Eine Achtjährige – Ende Oktober sollte sie acht Jahre alt werden – ermüdet dennoch ungemein. Als Hildur sie am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe weckte, musste sie das Kind aus dem Heu ziehen, in dem die beiden gelegen hatten. Eli zitterte und fror und wollte nicht aufwachen. Hildur schlich mit ihr in den Kuhstall, in dem die Mägde, die beim Melken saßen, ihr freundlich zunickten und wo im Kamin ein Feuer brannte zum Kochen von Molkenstreichkäse. Eli durfte sich wärmen, quengelte jedoch wie ein kleines Kind und wollte ein Stück vom Zuckerhut, am Ende ließ sich Hildur darauf ein.

Eine der Mägde gab dem Kind heimlich eine Tasse kuhwarmer Milch. Eli hickste vor Dankbarkeit und trank, oh, das schmeckte! Die Fremden waren nett.

Allmählich kehrten ihre Kräfte zurück, und sie konnten weiterwandern. Der Form halber hatte Hildur sich erkundigt, doch nein, niemand kannte hier im Tal jemanden, der ein paar Kleinmägde brauchte.

Hildurs Plan war, nach Innbygda in Trysil zu gehen, sie hatte gehört, dass andere, die dorthin gewandert waren, bleiben durften.

Obwohl Eli noch so klein war, war Hildur dennoch froh, sie bei sich zu haben und die ausgedehnten Wälder nicht allein betreten zu müssen, es war so schon schaurig genug. Der Weg durch den Wald war viel schlimmer als jener bis Elverum, eine einsame junge Frau konnte schnell ein bisschen ängstlich werden. Deshalb war es gut, dass Eli bei ihr war, aus einiger Entfernung konnte man sie sogar für Hildurs Kind halten. Es war jemand zum Reden da, und man war nicht allein.

Nach mehr als zwanzig Kilometern waren Elis Kräfte erschöpft. Als sich Hildur umdrehte, sah sie das Mädchen im Beerenkraut liegen. Geh du vor, Hildur, ich komme nach.

Es dämmerte. Doch obwohl Hildur darauf geachtet hatte, dass sie im Morgengrauen aufgebrochen waren, hatten sie noch immer keinen Hof erreicht. Sollte sie dieses Kind jetzt etwa tragen müssen? Das schaffte sie nie, nicht auf die Dauer. Sie war zwar stark, aber der Pfad war steinig und beschwerlich. Elis Vater hatte robustes Schuhwerk für sie angefertigt, doch es scheuerte, und eigentlich war auch sie ziemlich erschöpft, hatte aber nicht gewagt, diesem Gefühl nachzugeben.

Sie hätten bei ihrem nächsten Haltepunkt, dieser Kate, schon längst angekommen sein müssen. Hildur brachte Eli auf Trab, obwohl sie jammerte, stolperte, hinfiel und vor Weinen hickste, was sich obendrein zu einer Art Krampf auswuchs.

Strenge Worte, allerlei Drohungen und Schreckensbilder von Trollen und ähnlichen Ungeheuern trieben das Kind noch eine Weile weiter, doch dann wurde Hildur klar, dass das Mädchen bereits schlief, obwohl es noch immer in Bewegung war, es fiel der Länge nach hin und hatte Glück, dass es sich nicht den Kopf an den Steinen stieß.

Es war spät geworden. Am Ende verließ Hildur auf einer Anhöhe den Pfad, hier war eine kleine Lichtung, vielleicht beim Viehauftrieb abgeweidet.

Sie sammelte Zweige und Gras und steckte sie in Brand. Eli hörte auf zu schluchzen und sank still neben das Feuer.

Sie aßen das Brot auf. Hildur hatte noch Sauermilch übrig, und sie sagte nichts, als Eli bat, ihr vom Zuckerhut ein weiteres Stückchen abzuhacken, vielmehr nahm sie selbst einen Brocken an.

Hildur hatte eigentlich geplant weiterzuziehen. Aber jetzt war es bereits überall stockdunkel, am Feuer aber hatten sie es warm und schön. Sie lehnten sich immer mehr aneinander. Am Ende lagen sie dicht nebeneinander und schliefen so fest, dass selbst wilde Raubtiere sie nicht hätten wecken können.

Im Morgengrauen brachte die Kälte sie in ihren eiskalten Fängen zum Zittern.

Hildur sagte, es könne nicht mehr weit sein. Aber jetzt ging es Eli noch schlechter als am Morgen zuvor, sie weinte ununterbrochen. Was sollte Hildur tun?

Bei Tageslicht konnte man das Kind auch nicht so leicht erschrecken. Deshalb griff Hildur zu einer moderneren Methode, sie redete ihr gut zu. Sie versprach, wenn Eli das letzte Stück zu diesem Finnenhof, der Kate oder was immer es sein mochte, auf eigenen Füßen zurücklegen würde, könnte sie ihretwegen dort bleiben. Wenn man sie haben wollte, natürlich, ja, vielleicht nahmen die Leute sie ja alle beide.

Eli gehorchte, stand auf und ging. Hildur atmete auf und schämte sich nicht sonderlich, dass sie die Kleine auf so einfache Weise getäuscht hatte. Die Leute würden sie ganz gewiss nicht dabehalten. Hildur würde ihnen zuzwinkern, wenn sie ihre Frage stellte, damit sie begriffen, dass es sich um eine Verschwörung handelte.

Doch während dieser letzten fünf Kilometer schmiedete Eli ihre eigenen Pläne. Mochte kommen, was da wollte, sie würde kein Stück weiter gehen als bis zu diesem Hof. Ihre Beine und Füße schmerzten, und sie sehnte sich zurück, wollte jetzt nicht noch länger wandern, dann fände sie nie mehr zur Mutter und den Geschwistern heim. Den Vater vermisste sie wohl gar nicht?

In den Aufzeichnungen steht: »Eli wurde unehelich geboren, und sie war Magd in Rönningen Östby, wo sie in einer Erdhöhle wohnte. Frühere Angaben zu Eli gibt es nicht, bis auf die Namen ihrer Eltern.«

Wenn sie also unehelich geboren war, existierte vielleicht der Vater in ihrem Alltag gar nicht? Allerdings ist sein Name im Kirchenbuch verzeichnet, er hat die Vaterschaft anerkannt.

Als sich endlich ein Rauchstreifen zwischen den Bäumen zeigte, hatte Eli ihre Überlegungen abgeschlossen. Der Wald öffnete sich im selben Augenblick, als die müde Oktobersonne hervorblinzelte und die letzten Blätter der Ebereschen auf dem offenen Gelände vergoldete. Man hörte es meckern, es gab Ziegen dort. Der Hof war kleiner, als sie gehofft hatten, und bestand eigentlich nur aus einer kleinen Scheune und einem Wohnhaus, das halb in den Hang eingegraben war.

Es stellte sich heraus, dass die Ziegen im Winter das Haus mit ihrer Herrschaft teilten, oder vielleicht war es ja auch umgekehrt. Sobald sie die Tür öffneten, war es zu riechen.

Ein Feuer ist aber immer ein Feuer. Ein Feuer ist wie ein Lächeln, und wenn man herantreten und sich wärmen darf, ist es, als werde man mit offenen Armen empfangen. Die Frau scheuchte ein paar Kinder beiseite und ließ die Wandersleute auf einem Schemel nahe den Flammen Platz nehmen. Sie fühlten sich fast so, als seien sie etwas Besseres.

Ein paar Zicklein rannten umher, obwohl man doch im Haus war, und versuchten an allem, was sie erreichen konnten, zu saugen. Die Kinder benutzten sie als Spielzeug. Sie waren etwa im Alter von Eli und jünger. Und die Frau am Herd, die vorsichtig in einem Topf mit Ziegenkäse rührte, würde noch diesseits von Weihnachten ein weiteres Kind gebären, das ist sonnenklar, dachte Eli altklug. Sie sah Hildur an, die ihr einen traurigen Blick zuwarf, der besagen sollte, du begreifst ja wohl.

Aber da fing Eli zu sprechen an. Und die Hütte lauschte, all die Kinder, die Frau, ja die Wände selbst lauschten. Sie erzählte, woher sie kamen, und die Frau nickte, das sei ja an der Mundart zu hören. Sie schaute Hildur ein wenig fragend an, aber Eli behielt das Wort und berichtete, dass sie unterwegs seien, um eine geeignete Stellung als Mägde zu finden. Und sie selbst mache sich da keineswegs Sorgen, denn sie sei ja mit jeder Art von Arbeit vertraut, ganz besonders mit der Betreuung von Kleinkindern, sie könne ihnen das Essen vorkauen, könne Windeln wechseln und die Kleinen mit Reimen und Spielen beschäftigen. Und sie tue es gern, es mache Spaß, sich um Jüngere zu kümmern, sie könne wirklich alles.

Mittlerweile waren die Kinder des Hauses näher gekommen, sie starrten sie wie verhext an. Eli lächelte ihnen zu. Soll ich euch das Märchen vom süßen Brei erzählen?

Jaa. Sie watschelten, tappten und krochen noch näher, und der Älteste, ein Junge von sechs, setzte sich vor ihr auf den Boden. Hildur machte eine Bewegung, die besagen sollte, Eli nehme sich zu viel heraus, dass es irgendwie anstößig sei, aber Eli tat, als verstehe sie nichts.

Dann erzählte sie das Märchen vom süßen Brei von Anfang bis Ende, und keiner sagte ein Wort, alle hingen an ihren Lippen, obwohl sie noch so klein waren und die Jüngsten bestimmt nicht mehr verstanden, als dieses Wort, dieses süße Wort, das sie immer wieder hören wollten. Als die Geschichte zu Ende war, flüsterten sie: Mehr.

Die Frau am Herd lobte Eli, ein so schönes Märchen, die Kinder wären völlig verzaubert, es stimmte wahrhaftig, was sie gesagt hatte, dass sie mit Kindern umgehen könnte. Eine solche Kleinmagd wie sie wäre hier auf dem Hof schon vonnöten. Besonders seit sie was Krankes hätten.

Und als ziehe man einen unsichtbaren Vorhang weg, wichen die Kinder zur Seite und öffneten gewissermaßen einen Weg ins Halbdunkel. Eine Pritsche wurde hinten an der Erdwand sichtbar. Etwas bewegte sich zwischen den Lumpen, ein weiteres Kind. Ein Hustenanfall und gleich noch einer, bellender Husten.

Es ist die Schwindsucht, erklärte die Frau.

Und obgleich sie es nicht sagte, stand da eine Frage im Raum, tut das etwas?

Hildur machte wieder eine winzige Bewegung, doch Eli ignorierte ihre Warnung erneut. Ich bin an kranke Kinder gewöhnt, sagte sie, stimmt doch Hildur, du kannst es bezeugen.

Die Ansteckung, zischte Hildur. Der Doktor ist hier gewesen, sagte die Frau, die das sicher gehört hatte, er sagt, es bestehe keine Gefahr für die Kinder, sie können hier wohnen bleiben.

Wohin sollten sie wohl sonst gehen?, dachte Hildur, sagte nun aber nichts mehr, wollte nur möglichst rasch aufbrechen.

Eli aber war stocktaub für die Zeichen der Tante. Sie wollte bleiben. Sie wollte nicht noch weiterwandern, und der Proviant war aufgegessen, der Topf mit Ziegenkäse hingegen verbreitete einen himmlischen Duft. Alles war in gewisser Weise auch so bekannt, all die kleinen Kinder, die Enge, sogar das mit dem lungenkranken Mädchen. Wenn sie gesund wurde, konnten sie zusammen spielen, sie konnten Schule spielen. Eli hatte bereits alles von den älteren Geschwistern gelernt. Ich kann ihr das Schreiben beibringen, sagte sie. Und ich habe ein Zuckerstück, das sich die Kleinen teilen dürfen.

Sie meinte es nicht wirklich. Es rutschte ihr nur so heraus, aber die Kinder jubelten.

So kam es, dass Eli ihre erste Stellung antrat, und ein paar Stunden später musste Hildur allein aufbrechen.

Die drei Jahre in dieser Familie – was für ein Leben!

Aber doch immerhin ein Leben. Vom unsichtbaren Mittelkind, das keiner haben wollte, zur unschätzbaren großen Schwester für andere. Sie machte sich schnell unentbehrlich, wollte dort bleiben, wollte zu essen bekommen, und das hier war die einzige Methode. Sie konnte ihre ganze Intelligenz einsetzen, konnte reden, schweigen, konnte erzählen, und auch im Zuhören war sie gut. Obendrein tat sie eine Menge, sah, was gebraucht wurde, war geschickt, alles ging leichter, wenn Eli dabei war.

Doch in erster Linie nahm sie sich der Angst an, des Schmerzpunktes im Leben der Familie. Diese Angst kannte sie nur zu gut, diesen süßen Geruch vor dem Herannahen des Todes.

Also bot sie sich völlig freiwillig an, und so wurde es dann auch, sie teilte das Bett mit dem schwindsüchtigen Mädchen. Wärmte die Gleichaltrige mit ihrem Körper, besser konnte es wirklich nicht sein.

Bestimmt war auch sie voller Furcht, aber das zeigte sie nicht. Und Wunder über Wunder, sie wurde nicht krank. Nein, Eli durfte sogar ihr neunundachtzigstes Lebensjahr erleben, das konnte sie damals jedoch nicht wissen, als sie an die Erdwand gepresst dalag und Kälte, Dämonen, ja den Tod selbst am Eindringen hinderte.

So viel Schauerliches, wie es zu jener Zeit gab, können wir uns heute nicht vorstellen. Lange bevor es Radios, Fernseher und alle Arten von Musikanlagen gab, herrschte dennoch eine Art Raunen, sobald die Dunkelheit herabsank. Da krochen die Geschichten über all das Grausige aus den Ecken. Übrigens genau wie heute, obwohl wir die Scheußlichkeiten nun nicht selbst weitergeben müssen, jetzt wird das kommerziell erledigt.

Und bevor ein öffentliches Gesundheitswesen existierte, gab es uralte Mittel, wichtigtuerische Quacksalber und Hausmittel, die bestenfalls ungefährlich waren, unangenehm aber waren sie sehr oft.

Eine Anweisung war von jemandem ergangen, die besagte, das kranke Mädchen würde leben, wenn es eine Tasse von einem speziellen Gebräu trank, das Blut enthalten sollte – und zwar von einer Kröte. Die musste jedoch lebendig sein, wenn ihr das Blut entnommen wurde!

Die Kröte wurde eingefangen. Sie hechelte, als ihre Haut im Eimer, wo sie eingesperrt saß, immer trockener wurde, sie war gewiss schrecklich verängstigt, man hatte sie geweckt, als sie schon tief in einem Laubhaufen am Erstarren war, es sollte schließlich Winter werden.

Der alte Finne mit der Blechtasse, der Bleikugel und dem Rest des Rezeptes sowie der Formel, die dazu herunterzubeten war, sagte, jemand müsse der Kröte das Blut aussaugen.

Eli war unentbehrlich, war gewissermaßen die große Schwester. Doch zugleich war sie auch eine Dienstmagd, die hier das Gnadenbrot aß. Was konnte sie also dagegenhalten? Sie war beinahe so etwas wie das Eigentum der Leute. Sie konnte sich nicht weigern.

Es gab eine Alternative, ganz sicher, und genau die war das Problem. Wieder loszuziehen, bald kam der Winter und sie dann vollkommen allein, nein. Tod durch Verhungern oder Erfrieren lag in dieser Situation am nächsten, was hatte sie für eine Wahl. Sie tat das einzig Richtige.

Aber die Krötenphobie wurde riesig, ja selbst, wenn es um Frösche ging, sogar bei solch kleinen süßen Krabben, wie wir die winzigen Minikröten nennen, die es immer gibt, wenn eine Quelle völlig sauber ist. Eli wurde total hysterisch, wenn sie die Tiere sah, und vererbte ihr Entsetzen auch der nächsten Generation.

Damals jedoch war es ernst. Vielleicht passierte es sogar mehrmals, vielleicht musste die Kur wiederholt werden. Und sie durfte sich nichts anmerken lassen. Musste die zappelnde, nasskalte Kröte packen, sich durch die Warzenhaut beißen, saugen und das, was kam, in eine Tasse spucken, wieder und wieder. Umgeben von einem Kreis angeekelter Bewunderer, den Kindern, die überzeugt waren, dass Eli einfach alles schafft.

Und kann das zusätzliche Eisen, das Protein, dieses Mädchen womöglich geheilt haben, oder war es einfach der Placeboeffekt? Nichts deutet darauf hin, dass sie gestorben ist. Und auch Eli steckte sich nicht an. Der Preis war eine Krötenphobie, das muss man akzeptieren.

Sie war eine Dienstmagd, war ein Niemand. Sie hatte keinerlei Wert und war dennoch unschätzbar, ähnlich wie die Negersklaven in Amerika.

Einer Kröte Blut auszusaugen, vielleicht war das gar nicht so schlecht. Es sättigt gewiss, allein schon der Gedanke, es ist so Ekel erregend, dass selbst der alltägliche Gestank zur reinen Poesie wird. Im Vergleich dazu wird die einfachste, selbst leicht verdorbene Mahlzeit zum Festessen. Jedenfalls hatte man doch keiner Kröte das Blut aussaugen müssen. Ja, eigentlich geht es einem doch richtig gut. So manche aller hausgemachten Qualen jener Zeit hatten vielleicht ihren Ursprung in solch dunklen Mechanismen.

Sie weinte wohl ein paar Tränen, aber nur insgeheim, draußen allein im Dunkeln unter dem Vorwand natürlicher Bedürfnisse. Danach hieß es gleich wieder die Bühne zu betreten – erzähl doch mal, wie hat sich das angefühlt!

Sie war gut im Erzählen. Als sich der Winter mit seinem Schneebauch über die Menschen herabsenkte, und tausend Sterne leuchteten, und man die Ziegen hinter der dünnen Bretterwand deutlich hören konnte, bevölkerte sie die Erdhöhle mit Königen, Prinzessinnen und Trollen. Oder sie erzählte Ereignisse aus der großen Welt, Eli wusste sehr viel, und was sie vom daheim Gehörten nicht in Erinnerung hatte, erfand sie.

Es gab einen Mann im Haus, zuweilen verschwand er, übernahm Transporte oder anderes. Manchmal saß er einfach nur da, tagelang.

Die Frau war nach dem letzten Kind recht schwach geworden. Eli übernahm noch einen größeren Teil der Hausarbeit, und an den Abenden schlug sie die Tür zur anderen Seite auf, wo einfach alles geschehen konnte, den Begriff Lampenfieber kannte sie nicht, und Schaffensangst war ihr fremd.

Und der Mann saß da. Sie dachte nicht an ihn, sah nur seine Augen, die im Feuerschein blinkten. Sie lachte fröhlich, wenn er etwas sagte, selbst wenn es nicht sehr lustig war, sie wollte es allen recht machen, wollte Freude ausstrahlen und im Haus gute Stimmung verbreiten.

Doch war sie ja ein Nichts. Er packte sie, zog sie in die Scheune und presste ihre Schenkel um sein Glied. Sein Atem machte ihr sofort klar, dass es ernst war, nichts, was man wegscherzen oder dem man sich entwinden konnte.

Er benutzte sie, verstohlen und rasch, ohne ein Wort. Als sie älter wurde, verstand sie, dass sie dennoch Glück gehabt hatte, es war schließlich nur zwischen den Schenkeln. Also doch richtig wohl überlegt von ihm, hätte so mancher gesagt, dass er nichts Schlimmeres versuchte.

Die ersten Male machte es nichts weiter. Es ging so schnell. Er keuchte entsetzlich, rieb und presste, und sie lernte, sich nicht zu widersetzen, sondern im Gegenteil, sie kam ihm entgegen, denn dann ging es rascher zu Ende. Es wurde glibberig, und dann war es vorbei.

Doch passierte es wieder und wieder, und als der Frühling und danach der Sommer anbrach, wurde es schwieriger zu entkommen. Je mehr die Natur sich öffnete, desto größer wurden seine Möglichkeiten. Aber es war ja weiter keine große Sache, man musste kein Wort darüber verlieren.

Nein, kein Wort. Eli spürte, dann würde die Bäuerin sie zum ersten Mal schlagen und sie wegschicken. Sie würde ihr nicht glauben. Nur entsetzlich wütend werden. Alles bräche zusammen.

Man stelle sich vor, dass Eli sofort Bescheid gewusst hat, dass sie nicht einmal darüber nachzudenken brauchte!

Er tat ihr nicht weh. Er war ziemlich gleichgültig, griff nach ihr wie nach einem Werkzeug oder etwas Essbarem, und wenn das Ganze erledigt war, hatte sich die Sache. Nicht mal ein blauer Fleck blieb zurück. Wenn sich einer schämen musste, dann doch wohl nur sie?

Nachdem sie elf geworden war, wurde es erheblich schwieriger. Eli wurde nie größer als einsfünfzig, aber sie war trotz allem gewachsen. Besonders vorn am Oberkörper war sie gewachsen, das war so peinlich, sie versuchte die Schultern nach vorn zu ziehen, doch wie macht man das, wenn man Heu über Reiter hängt? Das Gesicht war ebenfalls erwachsener geworden, das Haar war noch üppiger und die Taille deutlich markiert, die Hüften wölbten sich.

Dieses Keuchen war nun von anderer Art. Seine Finger griffen auf andere Weise und überall an ihren Körper, vor allem an die Brust, die wuchs und schmerzte. Auch war er immer länger zugange. Wollte unten eindringen, versuchte es!

Jetzt bekam Eli Angst.

Eines Morgens zeigte sich Blut. Sie verstand, was das bedeutete. Sie hatte ihre Bäuerin getröstet, weil kein Blut gekommen war, schluchzend hatte die Bäuerin ihr alles darüber erzählt. Eli wusste also Bescheid, was passieren konnte.

Und damit wusste sie auch, dass sie nicht länger bleiben konnte.

Aber die Frau des Hauses erwartete doch ein Kind. Und sie selbst war eine Art Ersatzmutter für die Kleinen geworden. Sie hatte gelernt, sie zu mögen.

Alles war so hart.

Der Frühling war angebrochen, im Wald rann und rieselte es, ihre Wanderung würde wahrhaftig nicht leicht werden.

Was tut man, wenn man davonlaufen will?

Unbemerkt legt man eins nach dem anderen beiseite, rüstet sich insgeheim für die Flucht. Man versteckt, was man braucht, schafft es außer Haus an einen Ort, wohin man als Erstes läuft, wenn es schließlich soweit ist.

Dann überlegt man sich einen Zeitpunkt. Die Kunst ist, nicht zu früh vermisst zu werden. Man kann eine der Ziegen im Wald anbinden, die fehlt also, wenn ihre Zahl überprüft wird. Man kann sagen, man will nach ihr suchen und begibt sich gegen Abend hinaus. Die anderen sind nur froh, dass sie dem entgehen, der dunkle Wald macht ihnen Angst.

Die Ziege bindet man los, die findet allein heim.

Und man selbst löst sich in Luft auf.

Schließlich benötigt man einen ausgearbeiteten Plan, wohin man gehen will, und auch für später. Genau daran mangelt es meistens. Langfristiges Planen ist nichts für einen, der wegläuft, der sich davonmacht und um sein Leben läuft.

Sie war elf, als sie damals nach Romedal heimkehrte.

Aber was hatte sie sich vorgestellt? Erstens würden ihre armen Dienstherren sofort wissen, wo man nach ihr suchen musste, falls man sie zurückhaben wollte. Und ihr Inneres war ein einziges Chaos, sie sehnte sich halb krank nach diesen Kindern und schämte sich, weil sie die erneut hochschwangere Frau im Stich gelassen hatte.

Doch die Furcht vor der erwarteten, aber unaussprechbaren Vergewaltigung hatte das Ganze entschieden, sie konnte nicht zurückkehren.

Und zweitens, wie war es, als sie nach drei Jahren endlich wieder heimkam? Zwei beschwerliche Tagesmärsche hinter sich, müde und durchnässt vom Regen und den über die Ufer getretenen Bächen – nahm man sie da auf wie das verlorene Kind?

Wohl kaum. Sie durfte nicht bleiben. Oder wollte sie es nicht? Es gab auf jeden Fall auch diesmal keinen Platz für sie, und beiderseits mangelte es an Vertrauen. Um sich nicht verantworten zu müssen, kam man vielleicht mit Gegenvorwürfen – warum hatte sie nichts von sich hören lassen? Sie hätte schreiben können, das beherrschte sie doch. Hätte jemandem eine kurze Nachricht mitgeben können und vielleicht eine Garnrolle als Zeichen, dass sie eine Stellung hatte.

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich wieder auf den Weg zu machen. Vermutlich und hoffentlich mit Proviant für ein paar Tage. Ihre unverheiratete Mutter konnte einfach nicht mehr entbehren. Und keine Umarmung, auch diesmal absolut nichts dergleichen. Sich die Hand zu geben war eine Berührung, die zur damaligen Zeit nicht wenig gefühlsbetont war. In historischen Filmen und Fernsehserien umarmt man sich links und rechts, doch im Allgemeinen war das undenkbar, zumal zwischen den Geschlechtern, ganz besondere Umstände ausgenommen. Kleidung, Gesten und Bewegungen waren zurückhaltend, Haut entblößte man nicht ohne Not, möglichst nicht einmal das Haar, und man berührte einander nicht, nur in äußerst ernsten Situationen. Mit Ausnahme der Kinder, Gott sei Dank. Doch sobald es die geringste Möglichkeit gab, behandelte man auch sie mit entsprechender Distanz. Alles fing damit an, dass man sie von den Schultern bis zu den Füßen wickelte, die erste Zeit saßen sie wie in einer Zwangsjacke fest.

Wie wirkte sich eine solche Behandlung wohl auf einen aus? Immerhin überlebte man. Oder auch nicht. Der Tod war vollkommen alltäglich, er war die ganze Zeit anwesend, konnte jeden Beliebigen treffen.

Vielleicht durfte sie eine Nacht oder zwei dort bleiben, danach hieß es in der eigenen Spur zurückzuwandern. Um den Ort ihrer neuen Anstellung, von der sie noch nichts ahnte, erreichen zu können, musste sie an der Erdhöhle vorüber, die derart intensive Gefühle weckte, vorbei an den Menschen, denen sie, obwohl nur eine Dienstmagd, so nahe gewesen war.

Sie ging nicht bis hin, auch wenn sie sich nach den Kleinen sehnte. Lieber schlief sie im Wald, als sich bemerkbar zu machen. Sie ließ ihre Kindheit hinter sich und wanderte ostwärts, diesmal, um ihrer Tante Hildur zu folgen und vielleicht erneut mit ihr zusammenzukommen.

Dass Eli in Østby landete, deutet eventuell darauf hin, dass sie nach Schweden unterwegs war. Hatte sie geglaubt, dort ein reicheres Leben vorzufinden? In diesem Fall hatte sie jedoch den völlig falschen Weg gewählt. Denn wäre sie noch weiter in Richtung Osten gewandert, hätte sie die reine Bergwelt erreicht und eine erbärmliche Sennhütte, die sich heutzutage erheblich ausgedehnt hat und Sälen heißt.

Stattdessen nehme ich an, dass Østby Endstation für sie war, sie hoffte und wusste vielleicht sogar, dass es dort auch für eine Kleinmagd wie sie Platz gab.

Sie bereitete sich auf die gleiche Weise vor wie ein heutiger Schauspieler des Dramatischen Theaters, verbarg sich hinter einer frisch ausgeschlagenen Eberesche und studierte ihre Rolle ein.

Dann kam sie hervor und ging mit resoluten Schritten direkt zu jener Tür. Sie hatte sich in Ordnung gebracht, Gesicht und Hände waren sauber, kein einziges Haar sah unter dem Kopftuch vor.

Als die Frau des Hauses öffnete, knickste Eli brav, aber nicht untertänig, sie lächelte, sah der Frau in die Augen, sagte ihren Namen und woher sie kam.

Das mit den Haaren lässt sich heute nur schwer verstehen. Manche Einwanderergruppen stehen am Pranger, weil wir eine solche Unterdrückung der Frau nicht tolerieren können.

Aber mein Vater, der 1989 gestorben ist, hat von seiner Großmutter, also der Mutter meines Großvaters, hier aus dem Nachbardorf erzählt. Sie trug immer ein breites weißes Band unterm Kopftuch. Dieses Band verhinderte, dass ihr Haar sichtbar wurde. Niemand hat je Ulv Kerstis Haar gesehen, außer Stor Tros Ola natürlich, ihrem Gatten. Doch das hieß nicht, dass er so viel mehr von ihrer Schönheit erblickt hatte, trotz der sechs Kinder, deren Ursprung die beiden erwiesenermaßen waren. Einmal, als meine Urgroßmutter als alte Frau in ein Moorloch geraten war und Großmutter sie hinterher hatte entkleiden müssen, sagte sie, so viel habe sonst keiner zu Gesicht bekommen: Man stelle sich vor, du hast ja sogar Muschi und Hintern gesehen.

Eli also, die einen guten Eindruck machen, die eine Chance haben wollte, ins Haus zu kommen, um sich zu empfehlen, hatte ihren Finger mit Speichel befeuchtet und auch die kleinste Strähne des reichen Haarschwalls unter das Tuch gesteckt und sah richtig adrett aus.

Sie durfte eintreten, und nach einigem Sträuben nahm sie am Herd Platz. Ein Mensch, ein Fremder, war fast immer willkommen, und niemand konnte es obendrein tadeln, wenn man ein normales Mädchen für ein Stündchen beherbergte. Das brachte Abwechslung, und man wollte Neues aus der großen weiten Welt erfahren – jede Art von Klatsch und Tratsch wurde in der Zeit vor den Nachrichtensendungen, vor den Zeitungen und dem Internet begehrlich konsumiert.

Sie war trotz allem erst elfeinhalb Jahre alt, auch wenn sich ihr Körper mühte, etwas anderes zu behaupten. Als sie dann ihr Anliegen vorbrachte und sofort auf ihre beruflichen Erfahrungen zu sprechen kam, wirkte es irgendwie rührend, dass dieses zarte Mädchen, das ganz allein eine Stellung suchte, sich als nahezu fertig ausgebildet bezeichnete, wenn es um die Zucht und Pflege von Ziegen, die Zubereitung von Ziegenkäse, das Trocknen von Ziegenfleisch und die Bearbeitung der Häute ging, ja sogar Klauen und Hörner ließen sich verwerten, und Eli wusste, wie man das machte.

Natürlich hatte sie zuvor festgestellt, dass es auf dem Hof Ziegen gab und dazu ein Pferd. Und das fand Eli wunderbar, selbst wenn das Gehöft ansonsten einfach war. Der neu erbaute Hof gleich nebenan, der den Namen Wasserfall trug, sollte später einmal das Zuhause ihrer Tochter Karen werden, aber, wie gesagt, Eli wusste nicht einmal, ob sie selbst bis ins Erwachsenenalter leben würde. Manchmal ist es eine große Gnade, vielleicht die größte, nicht zu wissen, was die Zukunft bringt. Manchmal ist es bedauerlich, dass man die Toten nicht damit trösten kann, dass alles wahrhaftig besser geworden ist, als sie zu hoffen gewagt hatten.

Man muss sich wohl vorstellen, dass die Leute es sich leisten konnten, Eli aufzunehmen, selbst wenn sie nicht mehr als das Essen bekam. Aber was vielleicht den Ausschlag bei der Sache gab, war ihre Geschichte, dass sie Schlimmes heilen könne, indem sie einer Kröte das Blut aussauge.

Das war selbst zur damaligen Zeit äußerst mitleiderregend.

Ein paar starke Jungmädchenarme mit tüchtigen Schwielen an den Händen waren auch nicht zu verachten. Der Sommer stand vor der Tür, und die Ziegen mussten nach Ørmo, zur Sennhütte hoch. Dieses Mädel hier schien aus zähem Holz, konnte man sie vielleicht allein dort lassen? Da wären ja die Ziegen, um die sie sich kümmern müsste, und die Käserei, ja, es gäbe eine Menge zu tun. Sie hätte Ebereschenblätter für den Winter zu pflücken, auch sonst alles Mögliche zu sammeln, was man brauchen konnte, und wenigstens ein Dutzend Handarbeiten der einen oder anderen Sorte anzufertigen – übrigens in Nadelbindung –, da bliebe wohl keine Zeit, um traurig zu sein oder Sehnsucht zu verspüren.

Wieder unentbehrlich, liebe Eli. Doch obwohl die Leute auf diesem Hof nicht vermögend waren, waren sie doch vernünftig und verlässlich. Sie behandelten das Mädchen gut.

Sie blieb dort mehrere Jahre.

Das Mädchen wurde zur Frau. Als das schlimmste Notjahr anbrach, war sie siebzehn, sie stand in ihrer Blüte, obgleich nichts anderes zum Blühen kam. Wollte es denn nie Sommer werden? Das Futter für die Ziegen – wirklich zähe Tiere – hatte nicht ausgereicht, und die Familie musste schon im April eine von ihnen schlachten.

Es wurde nicht viel gesagt, nein, darüber konnte man kaum Worte verlieren, es war nun mal, wie es war. Eine gewisse Kraftlosigkeit hatte die Leute apathisch gemacht.

Sie zog später als je zuvor zur Alm hoch, die Tiere waren sehr mager und schwach, und der eigene Proviant ließ sich leicht tragen, viel zu leicht. Mit knapper Not hatte das Eis den Fluss aus seinem Griff entlassen, die Vegetation war weit zurück, und im Wald war es still, da die Vögel erfroren oder nicht wie sonst zurückgekehrt waren.

Die Sorge, die sie verspürte, können wir uns heute nicht vorstellen. Wenn ihre Bauersleute selbst kein Essen hatten, wie sollten sie dann auch noch sie ernähren? Sie hatten vom Saatgut gegessen und den Rest ungewöhnlich spät in die Erde gebracht. Die Saat war von schlechterer Qualität als üblich, aufgrund des anhaltenden Regens im vergangenen Jahr. Alles sah äußerst schlecht aus.

Noch wusste sie nicht, dass sich der Frost schon im August zurückmelden sollte. Kartoffeln und Getreide waren mit Ach und Krach in die Erde gekommen und begannen zu sprießen, als die ersten Frostnächte hereinbrachen. Die Blumen, an die man sich aus diesem Sommer am besten erinnerte, waren die Eisblumen an den Fensterscheiben. Seit Mensehengedenken hatte niemand Ähnliches erlebt.

Doch noch ist Sommer, ein sogenannter Sommer, und Eli weilt auf der Alm, ungemein einsam und ungemein hungrig. Sie denkt vor allem an Essen und hat das Wenige, was sie besitzt, weit weggepackt. Vor sich selbst weggepackt. Es muss lange reichen, muss eingeteilt werden. Sie darf nur einmal am Tag Grütze kochen, sonst verhungert sie, auf Hilfe kann sie nicht zählen, das weiß sie.

Und doch, es war gerade dieser Sommer, in dem sie ihre erste wahre Liebe erlebte! Es gibt sogar einen Namen, er hieß Martin Vold.

Seine Augen waren ihr gefolgt. Er war der Sohn eines Nachbarhofs, auch dieser ein einfacher Ziegenhof, aber Martin war schließlich dessen Erbe.

Die Eltern waren bereits mit Leuten übereingekommen, die sich in derselben Lage befanden, es stand fest, wer ihre Schwiegertochter wird. Martin wusste davon und begriff, dass es eine gute Partie war.

Dennoch aber heiratete er nie, auch das ist erwiesen, meine Großmutter begegnete ihm einmal, als er schon alt war, und da hat er es ihr erzählt.

Dass er nie geheiratet hat, hoffe und glaube ich, lag an diesem Sommer mit Eli. Warum aber hat er ihr dann nicht geholfen? War dennoch nicht genug Liebe vorhanden?

Wenn es nur das gewesen wäre. Für einen heutigen Menschen ist so etwas kein Problem, man nimmt, was man haben will, und folgt dem Gesetz des Herzens. Auch dann, wenn man Kinder hat, gibt es keine materiellen Hindernisse. Echten Hunger, von welcher Art auch immer, hat man nie erlebt.

Alles griff tiefer. War blutiger. Oft ging es ums nackte Leben, die Liebe kam zuallerletzt, sie war nicht von Belang.

Seine Augen waren ihr gefolgt.

Verstohlen hatte sie zurückgeschaut, doch miteinander geredet hatten sie fast nie. Der Bauernsohn und die arme Dienstmagd, wenn das jemand gesehen hätte, was hatten die beiden zu bereden? Nein, nur ab und zu ein paar Blicke, und Eli kannte ganz sicher ihren Platz, sie wagte nichts zu erhoffen.

Als sie aber auf die Alm gezogen war und er sie nicht mehr zu Gesicht bekam, wurde er ganz trübsinnig, die Farben verblassten, es gab nichts mehr, was ihm besonders wichtig war. Verblüfft verstand er, wie sehr ihm die tägliche Hoffnung fehlte, Eli auch nur flüchtig zu erblicken, selbst wenn es nur aus der Ferne war. Jetzt gab es diese Hoffnung nicht. Und er wurde nie mehr froh.

Das erste Mal, als er dort hinaufkam, tat er es mit einer annehmbaren Erklärung. Wie konnte die gelautet haben? Eine Ladung Vorjahresheu aus irgendeiner Scheune zu holen, falls da noch was zu finden war? In diesem Fall würde er es mit einem Strick zusammenbinden und auf dem Rücken des von ihrem Hof entliehenen Gauls hinuntertransportieren. Oder vielleicht reichte es ja nur zu einem Packen, den er selbst schultern könnte?

Sie hatte sich vollkommen einsam gefühlt, alles war so traurig und trist. Um sie nicht zu erschrecken, hatte er sich schon geraume Zeit vorher bemerkbar gemacht, und als sie sah, wer da kam, als sie ihn wiedererkannte – da musste Gott einen Blitz vom Himmel gesandt haben, ein Licht, es traf sie mitten ins Herz. Tränen brachen hervor.

Sie wischte sie verlegen mit der Schürze weg, umgeben von den Ziegen.

Er selbst war fast betäubt vor Angst, dass er etwas falsch machen könnte, doch ihre Geste überwand sein Zögern, er trat näher.

Seine Mutter, die ahnungslos war, welch Anliegen ihn in den Wald führte, hatte ihn reichlich mit Essen ausgestattet, er war schließlich ihr einziges Kind. Vielleicht gab es sogar etwas Kaffee? Ganz bestimmt Käse und Brot. Also war es völlig natürlich, dass er sie nun einlud, den Proviant mit ihm zu teilen.

Sie ließ sich nicht lange bitten, sie war hungrig. Gemeinsam betraten sie die Hütte, und Eli machte Feuer.

Er wollte sie nur ansehen. Und er konnte sich nicht sattsehen. Er vergaß das Essen. Sie bekam alles, was er hatte, er war völlig verzaubert.

Ja, aber, ein ganzes Fladenbrot? Und dann noch mit Käse?

Nimm nur. Ich habe schon gegessen, ganz bestimmt. Ich frene mich zu sehen, wie es dir schmeckt.

Du freust dich?

Sie lachte. Diese Freude konnte sie ihm leicht verschaffen. Sie lachte und schmatzte, aß und trank. Er saß einfach nur da.

Sie fand wohl, der Himmel habe ihn hergesandt, sie konnte sich den Bauch vollschlagen, es war einfach wunderbar.

Und sie mochte ihn ja schon länger, ihre Augen waren ihm heimlich gefolgt. Jetzt zeigte sich, dass er für sie genauso empfand. Es war sein Verdienst, dass sie essen durfte, bis die Wärme vom Magen sich im ganzen Körper ausbreitete und die Seele sich gleichsam streckte wie nach langer Erstarrung.

Den geringen Dienst, den er im Austausch erbat, den wollte sie ihm nicht verwehren. Sie war ja noch so jung, und das Kopftuch war nachlässig gebunden. Er bat darum, ihr Haar sehen zu dürfen.

Sie zögerte, aber nur kurz. Sie betrachtete sich eigentlich noch als Mädchen, das barhäuptig gehen durfte, jedenfalls im Haus.

Ein Meter Abstand war mindestens zwischen ihnen. Sie nahm das Kopftuch ab. Der Zopf, dick wie ein Tau, hing über die Schulter zur Taille hinunter.

Was, wenn man ihn gelöst sehen könnte? Er flüsterte.

Sie fühlte sich so froh und reich, die Euphorie, die vom Essen kam. Wenn das alles war, das konnte ja wohl nicht gefährlich sein? Lächelnd, als sei es nicht weiter ernst, nein, eher ein Scherz, flocht sie den Zopf auseinander, zog die Finger durch das dicke Haar, schüttelte den Kopf, und ein Schleier, von der Natur selbst geschaffen, wallte um ihre Schultern.

Er trat näher. Sie begriff, dass es geschah, doch kam es ihr dennoch richtig vor. Sie wartete. Sie wollte seine Hände fühlen. Wollte selbst, mit eigenen Händen. Die Blicke brannten, aber als er die Hand ausstreckte, wandte sie sich ab.

Es reichte.

Er stand auf, gedemütigt, rot im Gesicht und beschämt. Es war wohl an der Zeit zu gehen.

Da stand sie ebenfalls auf. Bereute, sich so unzugänglich gegeben zu haben.

Die Gefahr war doch vorüber. Sie aber reichte ihm erneut den Zündsatz, sagte, du gehst doch nicht etwa schon?

Da sah er sie an. Und dann streckte er wieder die Hand aus.

Und sie blieb stehen und erwiderte den Blick.

Die Hand war stark und warm, hatte Risse und Schwielen auf der Handfläche, sie empfand sie wie feinste Seide an der Wange.

Eli war ungestreichelt. Ihre Haut war ausgedörrt, und ihr Inneres bestand nur aus Mangel, sie hatte so wenig bekommen.

Sie dachte, es sei ein Missverständnis. Oder dass niemand je gefühlt hatte, was sie jetzt fühlte. Es konnte nicht falsch sein, sie meinte, was jetzt geschah, sei weitaus mehr von Gott als vom Teufel, wie immer gesagt wurde.

Ihre Aufgabe in diesem Augenblick war standzuhalten, nicht nachzugeben, das war völlig klar, als er unter der Kleidung nach ihr zu suchen begann.

Aber da sagte er voller Zärtlichkeit, ich verspreche dir, vorsichtig zu sein. Und sie glaubte ihm natürlich. Er konnte sie doch unmöglich hintergehen, er doch nicht. Sie verstand nicht genau, was er meinte, vermutete jedoch, dass nichts passieren würde, weil er das so gesagt hatte und auch sonst so überzeugend war.

Natürlich hatte sie gewaltige Angst, doch der Schreck ließ das schon heiße Gefühl nur noch heißer werden. Sie wollte ihre Haut an die seine pressen, sie wollte den ganzen Mann haben, in ihrer Hand und überall. Das war doch vollkommen wahnsinnig. Sie erlitt alle Qualen des Himmelreichs, aber sie war gelähmt von dieser Kraft, auf die sie nicht gefasst war.

Hinterher erfolgte der Rückzug überstürzt. Sie verstand so wenig, plötzlich war das Ganze zu Ende, als hätte man eine Kerze ausgeblasen. Er stand hastig auf, sah sie nicht an, flüsterte irgendwas, fast knurrig, und verschwand durch die Tür.

In der Einsamkeit dann schämte sie sich entsetzlich. Es war dieses Fladenbrot gewesen.

Sie wollte den Gedanken nicht zu Ende denken, was das für eine Transaktion gewesen war.

Doch schon nach ein paar Tagen war er wieder zurück. Er hatte Proviant dabei. Und Eli war auf jede Art und Weise ausgehungert, nicht zuletzt durch die Einsamkeit. Er rettete sie, öffnete die Tore des Himmelreiches, und er liebte sie wirklich. Jedes Wort war wahr.

Im Februar stapft Eli durch eine schöne Winterlandschaft, auf dem Rücken das Ränzel mit ihrer irdischen Habe. Sie lässt den Blick nicht schweifen, folgt nur beharrlich dem deutlich begangenen Pfad, ein Glück in dieser dünnbesiedelten Gegend.

Naturszenarien sind nichts für sie, ebenso wenig wie seelische, sie hält sich an den Weg und das Konkrete, denkt die ganze Zeit nur daran, einen Fuß vor den anderen zu setzen, einfach weiterzuwandern, anzukommen, bevor es dunkel wird.

Wenn sie etwas gelernt hatte, dann dies, dass der morgige Tag für sich selber sorgt, und auch der nächste Augenblick kann anders sein als alles bisher, doch darum muss man sich erst kümmern, wenn es so weit ist. Diese hausgemachte Üherlebensstrategie ersparte ihr viele Tränen. Die Leute machten sich Sorgen, wie töricht, dann kam doch alles gleich zweimal über einen, erst diese Angst und dann die Qual selbst. Nein, nichts anderes nützte, als hier und jetzt zu leben. Und dieses Hier und Jetzt war tatsächlich erträglich, meist jedenfalls. Hier und jetzt gab es diesen Pfad, und es war ein leicht begehbarer Pfad, von vielen Füßen ausgetreten.

Sie vermied jeden Gedanken. Wusste nur, wohin sie unterwegs war und warum, doch auch das analysierte sie nicht besonders, lief einfach nur immer weiter.

Fort war der letzte Sommer, fort war der tiefe Liebesschmerz, der sie von jetzt an für mehr als zehn Jahre auf alles Derartige verzichten ließ. Sie grübelte auch nicht über den Treuebruch nach, warum er es akzeptiert hatte, dass man ihn zur Arbeit an einen Flößkanal oben in Støja schickte. Sie hatte keine Möglichkeit gehabt, mit ihm zu reden.

Er wusste sicher Bescheid. Aber er wusste auch, dass es niemals gehen würde, sie beide würden nie zusammenkommen, und er war viel zu schwach, um den Kampf aufzunehmen.

Einmal hatte sie seine Mutter auf der Landstraße getroffen. Nicht ein Wort war gefallen, aber der Blick der Mutter sprach Bände. Es war geradezu, als stellte Eli eine tödliche Bedrohung dar, nichts Versöhnliches war zu erkennen. Nur Kälte und Hass.

Mit diesem Blick ging die letzte Hoffnung unter, Eli stürzte in den Brunnen der Verzweiflung. Eine höllische Nacht lang lag sie in einem Schuppen, damit sie niemand hörte, weinte, bis sie völlig ermattet war und gänzlich leer, als ihr die Einsicht kam, dass sie mutterseelenallein dastand. Und jetzt war es schlimmer als je zuvor.

Ihre Bauersleute sahen schließlich, wie es um sie stand. Die Bäuerin redete mit ihr, erklärte, dass sie unmöglich könnten. Eli unterbrach sie eilig, sagte, das wisse sie sehr wohl, und sie brauchten auch nicht. Sie war dankbar, dass man sie nicht schalt und schlug. Auch verlangten die Leute nicht, dass sie sofort ging. Sie mochten sie, Eli spürte es und war gerührt. Und wartete deshalb viel zu lange.

Doch jetzt dachte sie an nichts, sondern trabte nur entschlossen vorwärts, sie musste einfach nur gehen und das Tempo halten, damit ihr nicht zu kalt wurde, sie aber auch nicht schwitzte.

Plötzlich öffnete sich das Bild, und die ersten Häuser tauchten zwischen Birkenstämmen auf, und bald ging sie über eine vom Schnee geräumte Dorfstraße. Sie führte vom Berg herab in noch dichter besiedeltes Gebiet. Auf dem Eis des Flusses hatte man Wege freigepflügt und mit Fichtenzweigen markiert, auf beiden Ufern standen Häuser, eine fremde Gegend, in der sie noch nie gewesen war.

Sie fragte sich durch. Entzückte und erschrockene Dorfbewohner zeigten und erklärten in einem fremden Dialekt, aber die Fragen, die sie nicht aussprachen, ließ Eli unbeantwortet. Sie hatte es plötzlich ungemein eilig, ihr Puls hämmerte, und ihr Atem ging keuchend. Dennoch dachte sie an nichts.

Die Tür war von guter Beschaffenheit, war eine Doppeltür mit Rahmen. Das ganze Haus war gediegen.

Der Mann öffnete, sie war überrascht, hatte sich das anders vorgestellt.

Er sah sie fragend an, dann die rasche Diagnose, als er ihren Umfang bemerkte, sie war im neunten Monat, ausgereift, danach seine Distanzierung, der Widerwille vor dem Rätselhaften, auf das sich kein Mann verstand, und das mussten sie auch nicht, es war allzu brutal und schwierig.

Sie sagte, wer sie ist und wen sie sucht. Seine Kleidung war von besserer Art, der Schnurrbart gepflegt, er war rasiert und schien erleichtert, nicht selbst Rede und Antwort stehen zu müssen.

Hildur, jemand fragt nach dir!

Ihr eigener Name hatte ihm nichts gesagt, das konnte sie sehen. Vermutlich glaubte er, sie wolle etwas verkaufen oder betteln. Er schloss vorübergehend die Tür.

Dann stand sie plötzlich da, ihre Hildur, die Schwester ihrer Mutter.

Ja?

Zunächst wurde Eli nicht wiedererkannt. Aber als sich die Blicke der beiden begegneten, kam Hildur allmählich die Erkenntnis. Eli?

Bist du das wirklich, Eli? Was du gewachsen bist … Ja, wie mächtig du doch gewachsen bist!

Nach dieser vieldeutigen Bemerkung ging ihr Blick zu Elis Finger. Obgleich Eli es bemerkte, behielt sie den Handschuh an.

Aha. So steht es also. Ich dachte ja nicht, dass du verheiratet bist, dazu bist du zu jung, aber auf jeden Fall verlobt.

Von einem Satz zum anderen brach alles zusammen, Eli sah in den Augen der Tante, was diese im Inneren dachte.

Laut sagte Hildur: Es geht nicht. Er weiß nichts von dir oder Kari, deiner Mutter, von den ganzen Unannehmlichkeiten in Romedal, all das habe ich ihm erspart, er hat so etwas nie erlebt.

Aber Eli flehte, in dieser Lage blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu erniedrigen und zu sagen, wie es stand: Ich weiß nicht, wohin.

Es gibt ja wohl trotz allem einen Kindsvater?

Nein.

Doch, meine Liebe. Den gibt es, du bist keine Jungfrau Maria. Und den musst du vor Gericht bringen, falls er nicht willig ist zu zahlen.

Das geht nicht. Und außerdem ist er nicht mehr da … Das ist doch nicht dein Ernst, Hildur, wie sollte ich …? Ich hab doch Angst vor dem Gericht.

Die Position der Tante war gefährdet. Zugleich war ihr Herz nicht aus Stein. Was wissen denn wir schon? Vielleicht war das, was sie jetzt tat, in Wahrheit sehr großzügig, auch wenn unser Urteil aus dem Nachhinein misslich ausfällt.

Sie schenkte Eli eine Ziege. Und ließ sie gehen.

Vielleicht war das ja trotzdem großzügig? Obgleich es mitten im Winter war?

Bitte Hildur, ich darf doch wohl wenigstens ins Haus kommen?

Auf keinen Fall, Eli. Wenn du dir das nun mal eingebrockt hast, musst du auch allein damit fertig werden. Und stopp jetzt – keine Tränen! Steh hier nicht heulend rum! Die Leute gucken schon. Komm! Wir gehen hinters Haus, der Stall ist meine Domäne, und die Ziegen gehören auch mir.

Eli bekam sicher die prächtigste Ziege und dass sie Milch gab, das wissen wir. Das Tier wurde ihre Lebensversicherung. Und bestimmt bekam Eli auch zu essen, direkt an Ort und Stelle Kartoffeln, Salz und Butter, doch als Proviant eigneten sich Kartoffeln nicht. Sie würden nur erfrieren, deshalb erhielt sie Brot, das reich an Energie und leicht zu tragen war. Ein Stück Zucker, als Erinnerung an vergangene Tage, bekam sie ebenfalls mit, für Eli war das Liebe.

Die Ziege meckerte und sträubte sich, als Eli sie am Strick aus dem Stall führte. Sie wollte die Wärme bestimmt nicht verlassen und auf den Abend zu nach draußen gehen, obendrein mit dieser fremden Person. Die Ziege ahnte die Gefahr und widersetzte sich. Ziegen sind klüger, als man gemeinhin glaubt, und weitaus zäher als manch anderes Tier, was für Eli ein Glück war.

Hildur zeigte Eli, wo sie dem Fluss Glåma nach Norden folgen konnte, dort gab es Höfe mit Leuten, alles würde in Ordnung gehen, jetzt, wo sie die Ziege hatte.

Leider erinnert die Szene in vielem an die Wanderung der sieben kleinen Heimatlosen aus dem gleichnamigen Film, es fällt schwer, dem Herzzerreißenden dieses Bildes nicht zu erliegen, die Röcke steif vom Schneematsch, der Bauch zum Himmel gewölbt und an einem Seil hinter ihr die meckernde Ziege.

Um zu überleben, hat sie in diesem Moment wohl an nichts Besonderes gedacht. Die Energie benötigte sie weiß Gott für anderes. Die Tragödie in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen war nichts, was ihr jetzt helfen würde. In Schock und schwerer Bedrängnis werden entbehrliche Seelenbewegungen ausgeschaltet, so ist es, und so war es auch damals. Die Ziege taufte sie Hildur. Dann ging sie stur weiter und dachte über den Namen ihrer Ziege nach, ob er eine Ehrung oder eher Hohn war, sie wusste es wohl selbst nicht, lustig fand sie ihn bestimmt. Still jetzt, Hildur, ich weiß, was du von der Sache hältst, das geht vorbei, morgen hast du deinen Stall und all deine Ziegenfreundinnen vergessen.

Sie wanderte fast zehn Kilometer. Die Dämmerung brach herein, und Wind war aufgekommen. Der stille Schneefall verwandelte sich immer mehr zum peitschenden Eissturm, der die Wärme aus den Kleidern fegte. Ihre Gesichtshaut war steif und gefühllos geworden, auch die Hände waren gefühllos, aber die Füße waren warm, gesegnet seien die Strohschuhe über den Stiefeln, selbst wenn sie beim Gehen etwas hinderlich sind.

Auch jetzt dachte sie an nichts Besonderes, wollte nur von Flisa weg, damit Hildur sich ihrer nicht schämen musste. Und außerdem hatte sie eine Ziege, die Milch gab, und die Zeiten waren hart.

Doch obwohl sie so kaltblütig und realistisch war, geschah etwas in ihrer Seele, die sich ganz darauf eingestellt hatte, zu Hildur heimzukommen. Wenn nötig, können Tiere und Menschen Sterben und Gebären hinauszögern. Unbewusst hatte Eli sich dem, was kommen musste, widersetzt.

Nun erfolgte die Reaktion, aber nur körperlich. Was ihre Gedanken anging, dachte sie klugerweise nur an das Allernächste, für eine Nacht kann ich mit der Milch der Ziege bezahlen, und morgen wird sich schon etwas finden, ich kann nach Østby zurückkehren, die werfen mich nicht raus, ich kann zu diesem Kanalbau wandern und Martin zur Verantwortung ziehen, alles wird bestimmt besser, wenn nur erst Zeit vergeht.

Das Kind kam in ihren Gedanken nicht einmal vor. Und in ihrem Ränzel gab es nichts zum Wickeln oder anderes für einen Säugling. In ihrem Inneren weigerte sie sich zu begreifen, trotz der Kindsbewegungen und allem Sonstigen, in ihrem Bauch war nur etwas durcheinander, ungefähr so kam es ihr vor, und die Ursache dafür war Martin. Gewiss trug sie ein Kind in sich, einmal sagte sie es sogar. Aber was die Sache selbst betraf, darüber zerbrach sie sich nicht den Kopf, ihr Hirn weigerte sich, die Konsequenzen einzugestehen. Es konnte nicht sein. Es ging ganz einfach nicht. Außerdem war sie doch erst achtzehn Jahre alt. Natürlich stimmte etwas nicht. Wenn sie nur erst diesen Bauch loswurde!

Die Häuser waren seit langem immer spärlicher geworden, ihre Tante hatte aber gesagt, das ganze Tal entlang lägen Höfe und Katen verstreut. Der Weg war breit und von Schlitten festgefahren, noch gedachte Eli kein Nachtquartier zu suchen.

Zu jener Zeit wies man auch keinen Wanderer ab, der spät abends eintraf, es gab keinen Grund, Verdacht zu schöpfen. Eli wollte es weit schaffen, wollte weit weg, sie mühte sich vorwärts, obgleich die am Strick hängende Hildur das Unternehmen mit meckerndem Protest kommentierte.

Doch dann bekam Eli heftige Schmerzen im Bauch, oder war es im Rücken? Es kam ihr fast so vor. Sie blieb auf der Spur einer Pferdefuhre stehen, mitten zwischen den Abdrücken der Schlittenkufen, wie ungelegen, es tat so unglaublich weh. Aber nach einer Pause konnte sie weiterwandern.

Es war wohl nur was Vorübergehendes. Im Übrigen wanderte sie zwar am Fluss entlang, konnte aber im Tal vor ihr nirgendwo auch nur das kleinste Licht entdecken, und es war lange her, dass ihr eine Schlittenfuhre oder ein Wanderer begegnet war.

Als der Schmerz das nächste Mal zuschlug, war er so ausdauernd, dass er sie in die Knie zwang. Sie wimmerte. Doch nur Hildur hörte sie, und die schwieg ausnahmsweise und zog auch nicht am Strick.

Als sie wieder zur Besinnung kam, waren die Tränen an ihren Wimpern zu Eis gefroren. Langsam verging der Schmerz. Sie griff nach Hildur, stützte sich auf sie, kam auf die Füße.

Jetzt verstand sie, dass Eile geboten war. Wenn die Schmerzen wiederkehrten, kam es darauf an, nicht nachzugeben, sich nicht hinzulegen, das begriff Eli, und Hildur stimmte ihr eifrig zu, instinktiv – sie brauchten ein Dach überm Kopf, was war denn das hier für eine Geschichte, in finsterer Nacht durch die Gegend zu ziehen! Hildur sträubte sich nicht länger, sondern trippelte vor Eli in der Spur.

Doch dann war plötzlich Schluss, Hildur weigerte sich, auch nur einen Meter weiterzugehen, die Klauen in den Schnee gestemmt, als sei sie festgewachsen. Wenn Eli sie mitnehmen wollte, musste sie die Ziege anscheinend tragen, Schläge und Tritte halfen ebenfalls nichts, obwohl sie schalt und schrie. Im selben Augenblick traf sie erneut der Schmerz.

Nicht hinlegen, war das Einzige, was sie dachte, während Schwerter und Messer ihre Eingeweide durchbohrten, sie stöhnte, wimmerte und sank wieder auf ihre steifen, kalten Knie.

Ihr wurde schwarz vor Augen, bevor sie wieder zur Besinnung kam. Wo war sie gewesen? Ein Blitzeinschub vom Todesreich? Sie war matt, und kalter Schweiß klebte an ihrem Körper, als sie wieder auf die Beine kam. Hildur meckerte, aber weigerte sich immer noch weiterzugehen. Keuchend stand Eli vornüber gebeugt da.

Plötzlich sah sie etwas – was war das? Ein Pfad direkt zwischen die Bäume hinein?

Zögernd schlug sie ihn ein. Und Hildur setzte sich in Bewegung, folgte ihr, Eli nahm das als Zeichen.

Es war kein Schlittenweg, nur ein schmaler Trampelpfad, kaum sichtbar jetzt unter dem kürzlich gefallenen Schnee. Es war auch schwierig, ihm zu folgen, da es zwischen den Bäumen noch dunkler wurde. Doch wenn Eli falsch lief, korrigierte sie die Ziege. Also ließ sie das Tier vorangehen.

Es führte aufwärts, wo immer es auch hinführen mochte. Die Steigung ließ sie warm werden, sie beschwor das Übel, es sollte sie nicht wieder überfallen, bevor sie angekommen wäre, sie hoffte und glaubte, dass der Pfad zu einem Hof ging, und so war es auch.

Sie verspürte Rauchgeruch und war erleichtert, ja fast glücklich, bevor eine neue Attacke einsetzte. Und jetzt bepinkelte sie sich wohl gar, es lief feucht die Beine hinunter, in die Strümpfe und Stiefel. Das alles war ein Elend, trotzdem musste sie jetzt dorthin gehen.

Das Haus war nur eine Hütte, nicht unähnlich der Erdhöhle, in der sie als Kind gedient hatte. Und man sparte an Beleuchtung, im Fenster war kein Licht zu sehen.

Wieder half ihr die Ziege, indem sie laut und durchdringend meckerte.

Vorsichtig wurde die Tür geöffnet: Was höre ich da?

Er lachte, als er die Ziege erblickte. Und ein einsames Mädchen, worum ging es?

Sie wünschte zu übernachten, falls sich das machen ließe, sie könne bezahlen. Wenn Ziegenmilch gut genug wäre.

Sie durfte ins Haus kommen, auch die Ziege. Sie wärmte sich am Herd, es war schummrig in der Hütte. Er nahm Eli in Augenschein. Aha, so stand es.

Er war ein einsamer alter Mann, dessen Frau kürzlich verstorben war, und gesund war er auch nicht, nein, weit gefehlt. Das Kind würde doch wohl noch nicht kommen? Er wolle kein solches Spektakel im Haus. Und sie habe ja wohl einen Mann? Und eine Gegend, zu der sie unterwegs sei, nach dem Dialekt zu urteilen?

Ja, sicher. Natürlich, so war es. Sie massierte sich die Hände vor dem Feuer. Die Ziege meckerte. Das Tier hat jedoch in der Abstellkammer zu bleiben, sagte er und wies auf eine kleine Tür.

Um ihn zu besänftigen, fragte sie nach einem Gefäß und melkte Hildur. Die Zitzen waren eiskalt, die Ziege aber gab her, was sie hergeben sollte, und dann bekam der Alte den ganzen Topf für sich. Er schmatzte dankbar und sagte, das sei nett von ihr, und was er gesagt habe, sei nicht böse gemeint gewesen.

Obwohl es kalt war in der Kammer, bat sie, dort mit der Ziege liegen zu dürfen. Er riet ihr davon ab und meinte, sie sei unnötig empfindlich. Männer und Frauenspersonen hätten in kalten Winternächten stets unter demselben Dach geschlafen, daran sei nichts Unrechtes. Aber sie blieb bei ihrem Wunsch.

Er ging nach draußen und kehrte mit Stroh zurück. Sie war dankbar – angesichts dessen doppelter Funktion, nützlich zum drauf Schlafen und als klägliches Abendbrot für die Ziege Hildur.

Als er fort gewesen war, hatte sie die Tür zur Kammer geöffnet. Ein kalter Luftzug der schlimmsten Sorte zog in die Hütte. Er fand es unnötig und falsch, sich dort hineinzubegeben, aber Eli bestand darauf, sie wolle nicht stören. Er brummelte und schob die Tür zu, sie war selber schuld, wenn sie es nicht anders wünschte.

Sie wollte nicht, dass er sie hörte, falls die Bauchschmerzen wiederkamen.

Von späteren Entbindungen wissen wir, dass sie allesamt äußerst schwer waren, diese kleine Frau musste stets unfassbare Qualen durchstehen, vielleicht war ihr Becken von der spanischen Grippe verformt und schief geworden?

Ein Mann war zu jener Zeit nicht im Geringsten in die intimen Mysterien des Frauenlebens eingeweiht. Zudem hatte sie doch gesagt, es sei noch nicht an der Zeit, also, was konnte er tun? Freilich hörte er sie stöhnen und manchmal noch erschreckendere Geräusche, so als hätte sie sich das ganze Kopftuch in den Mund gesteckt, um die Schreie dort drinnen zu dämpfen.

Als der Morgen dämmerte, lag sie noch immer in der Kammer. Als er die Tür einen Spaltbreit öffnete und nachfragte, wie es stand, sagte sie, sie hätte sich den Magen ein wenig verdorben, wäre etwas unpässlich und wollte gern liegen bleiben, falls sich das machen ließe.

Ob er vielleicht zur Landstraße hinuntergehen und versuchen sollte, irgendeine Fuhre zu stoppen und denjenigen zu bitten, einer gewissen Madam Bescheid zu geben, damit sie herkam?

Nein, nein, das käme nicht in Frage, es wären nur normale Magenbeschwerden, sonst nichts.

Sie war leichenblass und kalter Schweiß bedeckte ihr Gesicht, sie hatte sich ins Stroh erbrochen und zitterte wie im Fieber. Er sah es, wollte sie denn nicht doch in die Stube kommen? Nein danke, ich liege hier gut, ich möchte es so kühl haben.

Er zog sich zurück, ließ die Tür aber halboffen stehen. Die Ziege kam heraus, und er melkte sie eigenhändig. Dann ging er in den Wald, um für mehr Brennbares zu sorgen, man konnte nicht an Holz sparen, wenn diese Person jetzt krank war.

Viel an Wärme brachten die offenen Feuerstätten nicht, es war feuchtkalt und zugig, andererseits aber gab es keine Allergien. Nein, wenn man damals etwas vertrug, dann waren es Tiere und hauptsächlich Pelztiere, Felle und Pelze bedeuteten Wärme, und sogar eine Ziege konnte Liebe bedeuten, etwas Lebendiges und Anhängliches, ja, das genügte wohl. Sie hatte doch schließlich Hildur.

Als ihr Gastgeber das Haus verlassen hatte, setzte die Austreibungsphase ein. Vielleicht hätte sie, wenn das möglich gewesen wäre, mit einem Kaiserschnitt entbunden werden müssen? Vielleicht sogar jedes Mal, wenn sie später schwanger wurde? Auf jeden Fall begann nun ein unmenschlicher Kampf, der Körper krampfte und wollte sie schier zerreißen. Sie konnte sich nicht länger zurückhalten und auch die Schreie nicht.

Es war dunkel in der Kammer. Die Wehen kamen kurz hintereinander und währten lange. Am Ende explodierte alles, vor Schmerz verlor sie sekundenlang das Bewusstsein, doch dann setzte sie sich vor Schreck hastig auf, obwohl die Schmerzen da unten erneut einsetzten. Da war doch wohl nicht etwa was zu hören?

Vielleicht sah sie selbst nicht einmal, was da gekommen, was geschehen war.

Das Kind starb bei der Geburt.

Vielleicht sah sie überhaupt nichts, tastete sich nur mit geschlossenen Augen zu diesem Etwas? Legte es einfach in ihren Unterrock und verknüpfte das Ganze zu einem Paket.

Aber wenn es nun doch gelebt hat?

Wir wissen es nicht.

Sie war nicht die Einzige. Auf Abtritten und unter Tannen wurden die versteckten Kinder geboren, und zumeist starben sie. Aus Gerichtsdokumenten lassen sich Tragödien ablesen, junge Mädchen wurden des Mordes angeklagt und dafür, dass sie nicht anders gehandelt hatten. Doch ist nur schwer zu sagen, wie sie sich hätten verhalten sollen, sie waren verzweifelt und völlig außer sich. Findelkinder gab es, aber diese hatten selten eine Chance, und es war auch schwierig, nicht verraten zu werden, von denen, die begriffen hatten, wie es um einen stand, selbst wenn man sich so fest schnürte, dass man am Ende kaum Luft bekam. Die am wenigsten Beachteten waren häufig gerade jene, die man in erster Linie im Auge behielt. Junge Frauen hatten stets eine unerbittliche Überwachung zu erdulden. Selbst wenn niemand etwas sagte, so wussten die Leute dennoch Bescheid.

Noch eine Nacht blieb Eli in der Kammer der kleinen Hütte. Sie schlief völlig ermattet, und auch der Alte schlief tief, nachdem er die Nacht zuvor ständig geweckt worden war, auch Hildur schlief, obgleich sie nur Stroh als Futter bekommen hatte, seit sie aus dem Stall von Flisa fort war.

Eli hätte wohl noch länger bleiben können, aber jetzt reichte es, ihr ging es etwas besser, sie wollte los. Keiner von beiden berührte, was gewesen war. Er fragte nicht, wollte im Augenblick nichts wissen.

Unterleib und Bauch taten ihr weh, es tropfte und blutete. Bestimmt würde sie in Østby ein paar Nächte bleiben können. Doch zunächst musste sie vor allem ihre Bürde loswerden.

Sie sagten adieu.

Auf der Landstraße angekommen, folgte sie ihr nach Norden. Der Himmel war leuchtend grün vor Kälte. Der Fluss strömte unhörbar unter der Eisdecke dahin, aber an einer Stelle stieg Wasserdampf auf, dort war er offen.

Sie schaute sich um, niemand kam aus irgendeiner Richtung, sie war mit ihrer Ziege ganz allein. Hildur widersetzte sich, folgte ihr aber dann doch zum Fluss hinunter.

Es dampfte und donnerte zwischen den Eiszapfenkathedralen der Steine. Das Wasser brauste um glasklare, kunstfertig geformte Eisablagerungen. Bereits erstarrte, vom Wasser gemeißelte, grünmelierte Riesentreppen führten himmelwärts oder hinab in wundervoll gestaltete Öffnungen, verbrämt mit vom Eis gewirkten Spitzen.

Niemand würde finden, was in diesen wirbelnden schwarzen Grotten verschwand, noch viele Monate nicht und vielleicht überhaupt niemals. Sie schaute sich noch einmal um und nahm dann das Ränzel vom Rücken.

Ein blutiger Unterrock. Mehr dachte sie vielleicht nicht. Aber das Gewicht? Nein. Sie dachte nicht, fühlte nicht nach, ließ nur das Bündel zwischen den Steinen unter der Eisdecke wegtreiben. Stand auf, hatte ihre Pflicht getan. Sie dachte keins der Worte: Kind, Tod, Leiche. Wollte nur weg von allem. Es war nicht sie, die dort am Ufer stand und ein Kleidungsstück, in dem etwas Unsagbares lag, wegwarf.

Dann ging sie einfach davon.

Ein Kapitel in Elis Leben war beendet. Und es sollte zehn Jahre dauern, bis das nächste Kapitel seinen Anfang nahm.

Eine grenzenlose Liebe

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